Insbesondere die Linke (also: die politische Richtung insgesamt) und Die Linke (also: die Partei) haben schwer zu tragen an den Wahlgängen vom 1. September. Das hat gute Gründe. Vor 25 Jahren kam man mit dem wiederholten Regierungspartner SPD im Flächenland Brandenburg auf gemeinsame 72,8 Prozent. 2019 waren es jetzt noch 36,9.
In Sachsen, wo die Linke bis dato noch nie regierte, weder als PDS noch als Linkspartei.PDS noch als Die Linke, läuft der Absturz ähnlich dramatisch ab. Sozialdemokraten und Linkssozialisten hatten meist um die 30 Prozent zusammengetragen, Anfang September waren es jetzt noch 18,1 Prozent.
Man hat gemeinsam vor allem Arbeiter und Arbeitslose an die AfD und Angehörige diverser großstädtischer Milieus an die Grünen verloren. Aber selbst wenn man in Sachsen deren 8,6 Prozent zu SPD und Linke addiert, steht das rot-rot-grüne Lager bei bemerkenswert mickrigen 26,7 Prozent – und ist damit vereint schwächer als die hiesige AfD alleine.
Besonders für die Linkspartei ist das Wahldesaster eine Zäsur – die SPD war auch vorher speziell in Sachsen eine Partei auf Augenhöhe mit anderen Kleinparteien wie der FDP. Die Linke jedoch war Ostpartei, Ostvertreterin, Ostschutzmacht, und die soziale Frage samt ihrer Erscheinungen (Rente, HartzIV, Verteilungsgerechtigkeit, »abgehängte« Räume usf.) erschien als ihr Selbstläufer. Tempi passati.
Denn demographische, persönliche, politische und ideologische Prozesse machten aus einer phasenweise strukturkonservativ anmutenden Partei der ostdeutschen Vertretung und sozialen Gerechtigkeit mit situativ aufkommendem Hang zur DDR-Nostalgie eine auch der Mitgliederstruktur nach immer »westdeutscher« werdende, »grünliberale Lifestyle-Partei«, wie Sahra Wagenknecht in ihrem persönlichen Newsletter zur Wahlnachlese treffend zusammenfaßte.
Und eine grünliberale Lifestyle-Partei beinhaltet, was die pointierte Zuschreibung verspricht: Hedonistische Lebensentwürfe und überstiegener Minderheitenfetischismus, urban-kosmopolitische Impertinenz und Verachtung der vermeintlich regressiven »Provinz«, intellektuelle Konformität und fehlendes Reflexionsvermögen, Akzeptanz des falschen großen Ganzen und manischer Kampf gegen Ablenkziele (aka Kampf gegen Rechts).
Mit einem solchen Allerlei kann man, weder in Brandenburg noch in Sachsen, Wahlen gewinnen oder zumindest Wählerverluste spürbar abfedern. Die Parteispitze ist ratlos, flüchtet sich einmal mehr in Phrasen. Die Co-Vorsitzende Katja Kipping kündigt etwa Neujustierungen »ohne Tabus« an, beleidigt aber im selben Atemzuge die hunderttausenden zur AfD übergegangenen Wähler. Kipping ist wesentlich verantwortlich für den postmodern-linksliberalen Turn der Linkspartei; wie sollte gerade sie auch konstruktive Kritik und Selbstkritik üben.
Das sympathisierende journalistische Umfeld ist freilich nicht wesentlich hellsichtiger. Wolfgang Michal analysiert in der aktuellen Ausgabe des Augstein-Freitag (ab nun: »Die Wochenzeitung«, nicht mehr: »Das Meinungsmedium«) die Linkskurve nach unten (»Es schmerzt so heftig«). Er führt ebenfalls Wagenknechts aktuelles Verdikt an, aber zieht frappierenderweise aus ebenjenem die entgegengesetzten Schlüsse.
Denn als Positivbeispiel für eine erneuerte Linke führt Michal ausgerechnet Juliane (»Jule«) Nagel an. Dafür spricht zunächst, daß sie ihren Wahlkreis im Leipziger Süden direkt gewann. Sie holte respektable, aber nicht überwältigende 27,4 Prozent der Erststimmen, während Die Linke – für diesen besonderen Wahlkreis: schwache – 20 Prozent der Zweitstimmen einfuhr. Michal schwärmt, Nagel sei dort »nah an den Menschen«.
Was er verschweigt: Connewitz und nahe Umgebung bilden in Sachsen das »gallische Dorf« der radikalen bis extremistischen Linken. Junge links- und grünalternativ Politisierte aus ganz Sachsen und darüber hinaus ziehen bewußt dorthin, um an staatlich ignorierten (respektive geförderten) Freiraum-Strukturen teilzuhaben, weil es anderswo, in den von Michal als möglichen Jule-Nagel-Nachahmern angeführten ländlichen Räumen etwa, eben gerade nicht möglich ist. Michals Vorschlag für eine erneuerte Linkspartei nach Connewitzer Exempel ist also, vorsichtig ausgedrückt, realitätsfern.
Denn nah an diesen Menschen und ihrem genuin milieuspezifischen Lebensentwurf des blutroten, hedonistischen und fundamental-»emanzipatorischen« Wohlfühlhabitats zu sein, bedeutet eo ipso, fern der Lebensrealität der Bevölkerungsmehrheit zu sein. Das verrät Michal nicht, aber gerade dies wäre für Die Linke als Wahlpartei doch eine entscheidende Lehre aus dem Sonderfall des Leipziger Südens.
Hier kommt ein weiteres Problem für die Linke zum Tragen, das Steffen Vogel gar ein »grundsätzliches Dilemma« für linke Parteien nennt. In der September-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik umreißt er, daß man links der Mitte einerseits zu Rechtsparteien abgewanderte Wähler zurückgewinnen müsse, wobei ein damit verbundener populistischer und mobilisierender Anti-Eliten-Diskurs zugleich die »weltoffenen« Überzeugungswähler – das kosmopolitische Grundgerüst der neuen, urbanen und liberalisierten Linken – verprellen könnte. Aus diesem Dilemma wird die Linkspartei keinen Ausweg finden, jedenfalls nicht unter Leuten wie Katja Kipping, Bernd Riexinger oder Stefan Liebich.
André Brie, einstiger Vordenker der Partei und intellektuell durchaus von anderem Format als genannte Akteure, moniert unterdessen in der Chemnitzer Freien Presse (FP) vom 10. September weiteres. Konkret beanstandet er den fehlenden Biß seiner Genossen. Er fürchtet, daß die Linkspartei »sich in den Parlamenten festgesessen« habe; es fehle überdies die »Sinnlichkeit« vergangener Tage, man sei schlechterdings »spröde« geworden (womit er mehr oder weniger Chantal Mouffes Plädoyer für einen mythosaffinen und emotionalisierenden Linkspopulismus adaptiert).
Nicht nur Sachsen, sondern der ganze Osten, so stellt Brie im FP-Interview klar, ist der Linkspartei entglitten. Demnach werde seine Truppe nicht mehr als glaubhafte Interessensvertreterin für Ostdeutschland angesehen; diese Rolle nimmt zunehmend die Alternative für Deutschland ein:
Die AfD erreicht die Menschen inzwischen besser als wir. Sie ist im Osten das Ventil geworden, das früher meine Partei war. Die Linke hat die Menschen enttäuscht.
Brie schließt seine schonungslose Bilanz mit der Aufforderung, wonach man endlich den »Hintern bewegen« müßte, »um die Menschen zu erreichen«. Auf die Frage des Berlin-Korrespondenten der Freien Presse, Alessandro Peduto, ob sich diese Entwicklung nun abzeichne, antwortet Brie erfrischend frank und frei:
Ehrlich gesagt, ich sehe es nicht.
Brie dürfte recht behalten. Ein neuerliches »Ins-Volk-gehen«, wie von Sahra Wagenknecht und ihrem erwartungsgemäß krachend gescheiterten Projekt »Aufstehen« befürwortet, um die vielgestaltige und immer weiter an Bedeutung gewinnende »soziale Frage« links zu binden, wird es einstweilen nicht geben.
Es ist in diesem Kontext interessant, daß auch Partei-Urgestein Brie zwar Wagenknecht explizit zustimmt, man könne nicht alle Flüchtlinge aufnehmen (wie die Kipping-Mehrheitsfraktion Wähler verprellend einfordert), aber im gleichen Atemzuge betont, er habe Wagenknechts (populare bis populistische) Sammlungsbewegung »von Anfang an für einen Fehler gehalten«. Am Ende des Tages will eben auch ein André Brie noch zu Soireen und Beratungsrunden eingeladen werden und nicht als potentiell verdächtiger »Wagenknechtianer« Ausgrenzung erfahren.
Von diesen an den Rand gedrängten dissidenten Linken gibt es mittlerweile innerhalb wie außerhalb der Partei Die Linke einige. Doch mögen sie allesamt auch, wie ich in Querfront formulierte, »an der konzeptlosen Verengung des ideenpolitisch Sag- und Tragbaren leiden«, sind sie offenkundig weiterhin nicht bereit, den ersten entscheidenden Schritt hinaus aus der linken Blase zu wagen.
Liegt diese Weigerung, den antifaschistischen Tugendwächtern und notorischen Diskursverhinderern eine couragierte Absage zu erteilen, an liebgewonnenen zwischenmenschlichen Beziehungen, an politischer Alternativlosigkeit oder an dem tradierten Links-Rechts-Spektrum mit seinen vermeintlich ewigen Trennlinien?
So oder so: Künftige Niederlagen und Irrwege ihrer beratungs- und erkenntnisresistenten Genossen haben auch die klügeren Köpfe unter den Linken bis auf weiteres mitzuverantworten.
Fuechsle
BK liefert das Sahnehäubchen auf seine bisherigen Kommentare zu den Wahlen in Sachsen und Brandenburg.
Prägnanter und vernichtender kann man die Lage der "Linken" kaum beschreiben - weiter so!