In der Juliausgabe 2012 der Zeitschrift des Osloer Instituts für Friedensforschung, Journal of Peace Research, erneuerte der russisch-amerikanische Evolutionsbiologe Peter Turchin seine These von wiederkehrenden »Wellen« soziopolitischer Instabilität in komplexen menschlichen Gesellschaften. Seiner quantitativen historischen Analyse, der »Kliodynamik«, zufolge treten die USA ungefähr alle 50 Jahre in Phasen gesellschaftlicher Krisenerscheinungen ein, gekennzeichnet etwa durch gehäufte »Amokläufe«. Nach einer letzten signifikanten Spitze in den späten 1960ern und frühen 1970ern, als es im Rahmen der linksradikalen Studentenunruhen u. a. zu mehr als 8000 angedrohten, versuchten und vollendeten Bombenanschlägen kam, sei die nächste Verschärfung der innerstaatlichen Unruhe für die Jahre um 2020 zu erwarten.
Vor diesem Erwartungshorizont kam im Herbst 2019 der zuvor bereits mit dem Goldenen Löwen von Venedig ausgezeichnete US-Psychothriller Joker des ansonsten vorwiegend für Blödelorgien bekannten Regisseurs Todd »Phillips« Bunzl in die Kinos. Lose an die Figur des gleichnamigen Superschurken aus dem DC-Comicuniversum angelehnt, zeichnet der deutlich gegen ein bürgerliches Establishment gerichtete Film die Geschichte eines von der Gesellschaft geschnittenen und zusehends den Verstand verlierenden Außenseiters, der nach einer Verzweiflungstat zur Ikone des lange überfälligen Aufstands wird. Nur einen Monat nach seiner Veröffentlichung hatte der Film weltweit bereits mehr als eine Milliarde Dollar eingespielt und damit mehrere Rekorde gebrochen.
Bemerkenswert ist er jedoch vor allem wegen der Medienhysterie, die ihn bereits vor dem offiziellen Anlaufen umgab: In diversen englischsprachigen Medien zirkulierten Gerüchte, wonach der Film Amokläufer »inspirieren« könne, und vor dem Kinostart verschickte selbst die US-Armee eine offizielle Warnung an ihre Angehörigen, daß es bei Vorführungen des Films zu Ausschreitungen kommen könne. Clownsschminke und die ikonische Tanzszene der Hauptfigur sind (auch aufgrund des deutlich älteren, zynischen »Clown-World«-Mems) tatsächlich mittlerweile auf Internetplattformen allgegenwärtig und symbolisieren eine nicht nur klammheimliche Freude über Zerfallserscheinungen des gewohnten Systems – von eskalierenden Demonstrationen bis hin zu tatsächlichen Schießereien mit vordergründig politischem Motiv.
Zuallererst: Wahllos Menschen zu töten, ist kein politischer Akt, sondern höchstens ein Versuch der »Kunst« durch Verstörung, wie schon 1930 der aller »rechten« Allüren unverdächtige André Breton im Zweiten surrealistischen Manifest feststellte – lange vor Richard Millet mit dessen »Literarischer Eloge auf Anders Breivik« (2012). Mit dem Christchurch-Attentäter Brenton Tarrant hat der aufsehenerregendste politische Attentäter der letzten Jahre zwar in seinem Manifest »Destabilisierung und Akzelerationismus« als »Taktiken für den Sieg« genannt. Was er dazu allerdings geschrieben hat (und was von prominenten rechten Kommentatoren geistlos nachgekräht wurde), hat rein gar nichts mit tatsächlichem Akzelerationismus zu tun. Es ist vielmehr die exakt gleiche »Strategie der Spannung«, die von NATO und CIA finanzierte und gesteuerte europäische Terrorzellen sich in den 1970ern auf die Fahne geschrieben hatten (und die schon damals nicht funktioniert hat, weil man die Masse schlicht nicht zur Revolution hochreißen kann, punctum). Wer sich heute einem derartigen »Eskalationismus« hingibt und den übermächtigen Staat zum noch härteren Dreinschlagen reizen will, der macht sich extrem verdächtig und besorgt sehenden Auges die Arbeit des Feindes.
Klärungsbedarf also: Wer bisher schon mit dem »Postmodernismus« (vgl. Sezession 92) als der wichtigsten kulturwissenschaftlichen Strömung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht zurecht kam, der kann über eine weitaus obskurere, um ein Vielfaches weiter zugespitzte Schule des Denkens nur noch fassungslos sein: den – tatsächlichen – Akzelerationismus.
Die Ableitung vom lateinischen Acceleratio für »Beschleunigung« legt eine begriffliche Nähe zur vom französischen Medientheoretiker Paul Virilio 1977 in seinem Aufsatz »Geschwindigkeit und Politik« begründeten Dromologie nahe, der »Wissenschaft vom Rennen«, die sich auf die wahrnehmbare Stauchung des Verhältnisses von Raum und Zeit durch die ständigen Entwicklungen der Hochtechnologie in den Bereichen Kommunikation und (Waren-)Verkehr fokussiert. Und während tatsächlich beide Betrachtungsweisen von der Gegenwart eines scheinbar erstarrten krisenhaften Stadiums vor dem Eintreten eines Endes gleich welcher Art ausgehen (was Virilios Fachkollege Jean Baudrillard in Abwandlung eines medizinischen Terminus als »Paroxysmus« bezeichnet hat), könnten doch die jeweiligen Folgerungen nicht unterschiedlicher sein: Die Dromologie identifiziert ausgehend von der Marxschen Analyse (in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie) einer dem hochmobilen Kapital entspringenden »Vernichtung des Raums durch die Zeit« die Geschwindigkeit als bestimmenden Faktor, der die Distanz, also den Raum eliminiere und die Zeit immer weiter verdichte. Dieser in Zeiten von Globalisierung und weltweiter Echtzeitkommunikation längst realen Entwicklung gegenüber nimmt sie eine kritisch-analytische Position ein und ist bemüht, den Sinn des einzelnen für die Folgen insbesondere im medialen Bereich zu schärfen. Für den gleichfalls linker Denktradition entstammenden Akzelerationismus hingegen stehen alle Zeichen auf Sturm; er will den »Spätkapitalismus« (Werner Sombart) nicht einhegen oder zurückdrängen, sondern ihn vielmehr möglichst rasch und radikal dem in ihm selbst angelegten Ende zutreiben. So fußen seine eskalativen Grundannahmen sowohl auf Marxens »Rede über die Frage des Freihandels« (»Aber im allgemeinen ist heutzutage das Schutzzollsystem konservativ, während das Freihandelssystem zerstörend wirkt. […] Mit einem Wort, das System der Handelsfreiheit beschleunigt die soziale Revolution.«), als auch auf Nietzsches Krisendiagnose im Willen zur Macht (§ 898): »Die Ausgleichung des europäischen Menschen ist der große Proceß, der nicht zu hemmen ist: man sollte ihn noch beschleunigen. Die Notwendigkeit für eine Kluftaufreißung, Distanz, Rangordnung ist damit gegeben: nicht die Notwendigkeit, jenen Proceß zu verlangsamen.«
Diese Verinnerlichung des Grundsatzes »Was fällt, das soll man auch noch stoßen« verläuft dabei tatsächlich über einen poststrukturalistischen Vektor, nämlich die extravagante Nietzscherezeption des Pariser Philosophen Gilles Deleuze. Dieser forderte bereits 1972 gemeinsam mit dem Psychiater Félix Guattari im Anti-Ödipus, dem ersten Teil ihres berühmt-berüchtigten gemeinsamen Hauptwerks Kapitalismus und Schizophrenie, eine intellektuelle »Deterritorialisierung«: Selbst das avantgardistischste zeitgenössische Denken sei noch immer in formalen Strukturen und Codes seines konkreten Raumes – kultureller und darüber hinausgehender Art – befangen; es könne daher kaum mehr leisten, als Pasticcios längst bekannter und bereits überholter Thesen vorzubringen. Dieser Starre stehe eine zunehmend entgrenzte reale Welt entgegen, deren Ent-Territorialisierung der Menschen (besonders durch Unterschichtenmigration) eine parallele Deterritorialisierung des Denkens erzwinge, um wieder flexibel zu werden und eine neue Zukunftsplanung überhaupt zu ermöglichen. Diese Ent-Bindung der akzelerationistischen Theorie, deren Vertreter alle »zurückgebliebenen« Anhänger der klassischen Ideologien des 19. Jahrhunderts als selbstgefällige Langweiler verhöhnen, schlägt sich nicht zuletzt in einem selbstbewußt-provokanten Eklektizismus nieder. So enthält die Quellensammlung #ACCELERATE#, die der britische Szene-Hausverlag Urbanomic gemeinsam mit dem bekannten deutschen Merve-Verlag (siehe Sezession 84) 2014 herausgegeben hat, neben Einlassungen der oben Genannten und weiterer üblicher Verdächtiger auch unerwartete Stimmen wie jene des dystopischen Schriftstellers J. G. Ballard oder des eigenwilligen Gesellschaftstheoretikers Thorstein Veblen.
Am Beginn und im Brennpunkt des merkwürdigen Geschehens stand »ein Mann mit sanfter Stimme und stählernen Ansichten« (Hannes Stein mit wohligem Schaudern in der Welt): der damals sehr junge britische Philosoph Nick Land, nach seiner Promotion über die Trakl-Rezeption Martin Heideggers von 1987 bis 1998 Lehrbeauftragter an der Universität Warwick in Coventry, wo er 1992 mit The Thirst for Annihilation eine Meditation über den notorisch Grenzen der Literatur und des Geschmacks überschreitenden Georges Bataille vorlegte. Zum bestimmenden Ereignis in jener Zeit wurde das Hereinbrechen der Digitalen Revolution mit der sprunghaften Durchsetzung und Verbreitung des Internets und der Neuen Medien ab 1993. Tief beeindruckt von den sich damit scheinbar auftuenden ungeahnten Möglichkeiten, ist Land denn auch in einer kurzen Einspielung der passend betitelten britischen Fernsehdokumentation Visions of Heaven and Hell von 1994 über die Zukunft einer digitalisierten Welt zu sehen, wie er vor einer Glasvitrine mit menschlichen Hirnschnitten sitzt und die allgemeine Durchsetzung einer horizontalen und enthierarchisierten – mit Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus zu sprechen: »rhizomatischen« – Grundstruktur von Gesellschaften, Unternehmen und Computernetzwerken vorhersagt. Im gleichen Geiste gründete er 1995 zusammen mit der Kulturwissenschaftlerin Sadie Plant die »Cybernetic Culture Research Unit« (Ccru), die Warwick zwei Jahre lang mit ihren neosituationistisch-futuristischen Veranstaltungen und Publikationen auf Trab hielt, ehe alle wesentlichen Mitglieder die Universität (teilweise nicht ganz freiwillig) verlassen hatten und die Forschungsstelle ihre Zulassung auf dem Campus verlor; offiziell aufgelöst wurde sie gleichwohl erst 2003. Land behandelte in seinen damaligen Publikationen – während seine Fachkollegen mit der Geschichte der Metaphysik und ähnlichen Harmlosigkeiten befaßt waren – ein volles Jahrzehnt »zu früh« heutige Mainstream-Themen wie Biotechnologie, das Internet als Suchtmittel oder den Aufstieg Chinas zur wirtschaftlichen Großmacht. Diese wahlweise als »tollwütiger Nihilismus«, »durchgeknallter schwarzer Deleuzianismus« oder »Cyber-Schauerliteratur« bezeichneten Texte wurden 2011 von zwei alten Weggefährten zusammengefaßt und aufgelegt unter dem schillernden Titel Fanged Noumena (in etwa »abstrakte Gedanken mit scharfen Zähnen«), ein schelmischerweise genau 666 Seiten starker Backstein von einem Buch, mit dem sich auch ein Schaufenster einwerfen oder eine Produktionsmaschine blockieren ließe. Land, der sich vom universitären Apparat längst verabschiedet hat und mittlerweile in Schanghai lebt, würde sich wohl nicht von so etwas distanzieren.
Auffallend bei alldem: Getreu der marxistischen Dialektik von Basis und Überbau gibt es keinen realpolitischen Anspruch. Vielmehr wird die der Verwertungslogik entspringende Entkoppelung der Politik von Max Webers »Verantwortungsethik« im akzelerationistischen Modell quasi nebenbei bis zur Implosion auf die Spitze getrieben. Wozu sich mit dem Appendix aufhalten, wenn man gleich auf das Herz zielen kann? Tatsächlich existierten die umstürzlerischen Visionen Nick Lands und der Ccru-Veteranen rund 15 Jahre lang außerhalb der politischen Sphäre, ehe Benjamin Noys, Professor für Kritische Theorie an der Universität Chichester, in seinem Werk The Persistence of the Negative 2010 den Akzelerationismus überhaupt erst als Begriff in die politische Sphäre überführte. Dort, wo das Denken mehrheitlich noch immer im Morast des 19. Jahrhunderts feststeckt, ist das Konzept seither erwartbarerweise wenig thematisiert und noch weniger verstanden worden. Als ein Paukenschlag gedacht war noch die Publikation des »Manifests für eine akzelerationistische Politik« von Nick Srnicek und Alex Williams 2013: Die Autoren reklamierten den Technopositivismus Nick Lands für eine noch zu schaffende zivil-revolutionäre Linke in einer Zeit, da alle Auswüchse eines beliebigen Konzerns von linken Aktivisten angegriffen wurden. Von links gab es dafür – u. a. von einschlägigen Schwergewichten wie Antonio Negri und »Bifo« Berardi – rhetorische Ohrfeigen, weil vom ruhigen akademischen Standort aus lediglich der alte, langweilige Gramscismus akzelerationistisch umlackiert werde. Da hatte Land selbst die alte Radikalität längst als jugendliche Episode zu den Akten gelegt, war nach Schanghai gezogen und Horrorschriftsteller geworden.
Nach wie vor auf eine Selbstzerstörung des heutigen Kapitalismus zu spekulieren, kommt gleichwohl nicht von ungefähr: Längst treten in Gestalt von »abtrünnigen« Wirtschaftswissenschaftlern wie dem Siegener Professor Niko Paech mit seinem Buch Befreiung vom Überfluss Advokaten einer Postwachstumsökonomie auf den Plan, mit der eben jene Zentrifugalkräfte abgebremst werden sollen, auf denen Akzelerationisten Richtung Horizont reiten wollen. Ihnen steht zumindest in den allmählich wankenden Hochburgen des Spätkapitalismus die Politik in der Theorie nicht mehr nach: An die Macht strebende neualtlinke Klassenkämpfer wie Jeremy Corbyn in Großbritannien oder Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez in den USA fordern unter Wortgeklingel wie »Green New Deal« eine Umverteilung von oben nach unten, die strenge Besteuerung großer Vermögen und eine Beschneidung der faktischen Oligarchie von Parteispendern und ‑förderern, um letztendlich durch titanische Investitionsprogramme eben den gewohnten Kapitalismus aus seiner ökologischen wie wirtschaftlichen Krise zu führen. Diese orthodox-unflexible Betrachtungsweise entlang der Deutungsmuster des frühen 20. Jahrhunderts ist jedoch weder in der Lage, den hybriden Charakter der postindustriellen Krisenentfaltung zu erfassen, noch radikal genug, um Lösungen statt bloßer Mediation bis hin zum staatlichen Dirigismus anbieten zu können. Es liegt nahe, einen – so gesehen – einer »nihilistischen« Logik folgenden dritten Anlauf zur Erstürmung der Festung des Kapitals zu wagen: Die Erwartung eines proletarischen Aufstands ist im industriellen Zeitalter enttäuscht worden, und auch Gramscis Hegemonialtheorie hat sich totgelaufen an der Elastizität einer globalen Wirtschaft, die jeden Gegendruck und alle Symptome der Entfremdung und Zerrüttung wiederum in kommerzielle Produkte umzulenken vermag – besonders absurd etwa mit der vorübergehenden Einführung von »Real Meals« (alias »Unhappy Meals«) durch den Fastfood-Riesen Burger King im Mai 2019, um in Anspielung auf die klassischen »Happy Meals« des Konkurrenten McDonald’s mit bunten Kartons um eine Portion Friteusenfraß »ein Zeichen zu setzen für die nicht gut gelaunten Menschen in unserer Gesellschaft«.
Übt man Kritik an der Verfemung zeitgenössischer Dissidenz gerade durch die Medien, so folgt als höhnische Antwort oft: »Meinungsfreiheit bedeutet nicht Freiheit von Konsequenzen!« Nun, das gilt natürlich mindestens genausosehr auch für die Pressefreiheit. Hier könnte ein Ansatzpunkt für ergebnisorientierten rechten Akzelerationismus liegen: Die allfälligen Entstellungen und Kunstfehler etablierter Preßbengel weitläufig bekanntzumachen, ist eine der wenigen sinnvollen Nutzungsmöglichkeiten sozialer Netzwerke, denn auch der klassische Journalismus ist als Ausfluß der Verwertungslogik nicht vor Selbstdemontage und Implosion gefeit. Andere, halbironische Denkanstöße zu kreativem Handeln liefert nicht nur der gereifte Klassiker Fight Club von Chuck Palahniuk (1996): Der gerade einmal 23jährige Medienaktivist Mike Ma veröffentlichte im Frühjahr 2019 mit Harassment Architecture eine atemlos dahinrasende, bissige Episodensammlung reinster Hyperbeschleunigung.
Rechter- wie linkerseits steht auf dem Weg zu einem akzelerationistischen Standpunkt ein gewichtiges Hindernis quer – das ist der Konservatismus. Doch: Ob eine derart zum Politikum erhobene geistige Unbeweglichkeit angesichts der heutigen Lage noch vertretbar ist? Nicht ohne Grund kursieren besonders in der amerikanischen rechten Dissidenz böse Bonmots wie »Konservative wollen Bewahrer sein, aber konnten noch nicht einmal nach Geschlechtern getrennte Toiletten bewahren«, oder, zum Gnadenstoß zugespitzt: »Konservativ sein, das heißt, ängstlich am Spielfeldrand der Geschichte zu stehen und die Spieler zu bitten, etwas langsamer zu machen.« Ganz anders – regelrecht radikal – nimmt sich da doch eine Bejahung der Beschleunigung, der Zentrifugalkräfte und der freigesetzten Selbstverzehrung der Systeme aus!
Neben all seinen utopisch-technosophischen Aspekten, die ihn vielfach wie einen politphilosophischen Abklatsch von Frank Herberts Wüstenplanet-Epos oder William Gibsons revolutionärer Neuromancer-Trilogie erscheinen läßt, mag der für den Durchschnittsrechten befremdlichste Aspekt am klassischen Akzelerationismus aber dessen Absage an die heroische Untergangspose sein: Alle Theorie soll von Ergebnis und Effizienz her gedacht werden. Das heißt eben oft, sich nicht wie ein bockiges Kind über mangelnde »Fairneß« und »Unaufrichtigkeit« des politischen Gegners zu beklagen oder einen hochnäsigen Kulturpessimismus zu pflegen, der allzuoft nur eigene Untätigkeit bemänteln soll. Statt dessen gilt es, die besonders im Informationszeitalter höchst instabilen Entscheidungs- und Machtprozesse zu durchschauen und ihre inneren Widersprüche zu verschärfen. Ein beachtliches Beispiel akzelerationistischer Parteipolitik stellt aus dieser Perspektive die taktische Stimmabgabe der thüringischen AfD-Landtagsfraktion bei der Wahl des Ministerpräsidenten am 5. Februar 2020 dar. Die unverhoffte Wahl des FDP-Kandidaten Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten »von Höckes Gnaden« versetzte das gesamte bundesrepublikanische Parteiensystem in gewaltige Torsionsschwingungen, mit katastrophalen Folgen für FDP und CDU: Das morsche System begräbt die eigenen Sprechpuppen unter seinem betroffenheitsschweren Gewicht.
Man kann zur AfD stehen, wie man will – in ihrer selbstgesetzten Aufgabe einer Zertrümmerung des etablierten großwestdeutschen Parteienfilzes ist sie damit einen gehörigen Schritt vorangekommen und hat dem geneigten Beobachter einen Hochgenuß bereitet. Gerade vor dem Hintergrund der fortwährenden Ummünzung politischer Dissidenz in Konsumgüter – der vielgerühmte »Widerstand« erschöpft sich oft schon in einem »mutigen« Anstecker oder Jutebeutel – liegt eine Beschäftigung mit dem ganz anderen Blickwinkel des Akzelerationismus nahe, mit dem lachenden Umrennen alldessen, das bereits schleichend fällt. Neue Blickwinkel eröffnet ein solcher intellektueller Ausflug allemal. Und um einen Feind bekämpfen zu können, muß man ihn vor allem erst einmal sehen können.