Schneller, bitte! Phantom Akzelerationismus

PDF der Druckfassung aus Sezession 95 / April 2020

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

In der Juli­aus­ga­be 2012 der Zeit­schrift des Oslo­er Insti­tuts für Frie­dens­for­schung, Jour­nal of Peace Rese­arch, erneu­er­te der rus­sisch-ame­ri­ka­ni­sche Evo­lu­ti­ons­bio­lo­ge Peter Tur­chin sei­ne The­se von wie­der­keh­ren­den »Wel­len« sozio­po­li­ti­scher Insta­bi­li­tät in kom­ple­xen mensch­li­chen Gesell­schaf­ten. Sei­ner quan­ti­ta­ti­ven his­to­ri­schen Ana­ly­se, der »Klio­dy­na­mik«, zufol­ge tre­ten die USA unge­fähr alle 50 Jah­re in Pha­sen gesell­schaft­li­cher Kri­sen­er­schei­nun­gen ein, gekenn­zeich­net etwa durch gehäuf­te »Amok­läu­fe«. Nach einer letz­ten signi­fi­kan­ten Spit­ze in den spä­ten 1960ern und frü­hen 1970ern, als es im Rah­men der links­ra­di­ka­len Stu­den­ten­un­ru­hen u. a. zu mehr als 8000 ange­droh­ten, ver­such­ten und voll­ende­ten Bom­ben­an­schlä­gen kam, sei die nächs­te Ver­schär­fung der inner­staat­li­chen Unru­he für die Jah­re um 2020 zu erwarten.

Vor die­sem Erwar­tungs­ho­ri­zont kam im Herbst 2019 der zuvor bereits mit dem Gol­de­nen Löwen von Vene­dig aus­ge­zeich­ne­te US-Psy­cho­thril­ler Joker des ansons­ten vor­wie­gend für Blö­del­or­gi­en bekann­ten Regis­seurs Todd »Phil­lips« Bunzl in die Kinos. Lose an die Figur des gleich­na­mi­gen Super­schur­ken aus dem DC-Comic­uni­ver­sum ange­lehnt, zeich­net der deut­lich gegen ein bür­ger­li­ches Estab­lish­ment gerich­te­te Film die Geschich­te eines von der Gesell­schaft geschnit­te­nen und zuse­hends den Ver­stand ver­lie­ren­den Außen­sei­ters, der nach einer Ver­zweif­lungs­tat zur Iko­ne des lan­ge über­fäl­li­gen Auf­stands wird. Nur einen Monat nach sei­ner Ver­öf­fent­li­chung hat­te der Film welt­weit bereits mehr als eine Mil­li­ar­de Dol­lar ein­ge­spielt und damit meh­re­re Rekor­de gebrochen.

Bemer­kens­wert ist er jedoch vor allem wegen der Medi­en­hys­te­rie, die ihn bereits vor dem offi­zi­el­len Anlau­fen umgab: In diver­sen eng­lisch­spra­chi­gen Medi­en zir­ku­lier­ten Gerüch­te, wonach der Film Amok­läu­fer »inspi­rie­ren« kön­ne, und vor dem Kino­start ver­schick­te selbst die US-Armee eine offi­zi­el­le War­nung an ihre Ange­hö­ri­gen, daß es bei Vor­füh­run­gen des Films zu Aus­schrei­tun­gen kom­men kön­ne. Clowns­schmin­ke und die iko­ni­sche Tanz­sze­ne der Haupt­fi­gur sind (auch auf­grund des deut­lich älte­ren, zyni­schen »Clown-World«-Mems) tat­säch­lich mitt­ler­wei­le auf Inter­net­platt­for­men all­ge­gen­wär­tig und sym­bo­li­sie­ren eine nicht nur klamm­heim­li­che Freu­de über Zer­falls­er­schei­nun­gen des gewohn­ten Sys­tems – von eska­lie­ren­den Demons­tra­tio­nen bis hin zu tat­säch­li­chen Schie­ße­rei­en mit vor­der­grün­dig poli­ti­schem Motiv.

Zual­ler­erst: Wahl­los Men­schen zu töten, ist kein poli­ti­scher Akt, son­dern höchs­tens ein Ver­such der »Kunst« durch Ver­stö­rung, wie schon 1930 der aller »rech­ten« Allü­ren unver­däch­ti­ge André Bre­ton im Zwei­ten sur­rea­lis­ti­schen Mani­fest fest­stell­te – lan­ge vor Richard Mil­let mit des­sen »Lite­ra­ri­scher Elo­ge auf Anders Brei­vik« (2012). Mit dem Christ­church-Atten­tä­ter Bren­ton Tar­rant hat der auf­se­hen­er­re­gends­te poli­ti­sche Atten­tä­ter der letz­ten Jah­re zwar in sei­nem Mani­fest »Desta­bi­li­sie­rung und Akze­le­ra­tio­nis­mus« als »Tak­ti­ken für den Sieg« genannt. Was er dazu aller­dings geschrie­ben hat (und was von pro­mi­nen­ten rech­ten Kom­men­ta­to­ren geist­los nach­ge­kräht wur­de), hat rein gar nichts mit tat­säch­li­chem Akze­le­ra­tio­nis­mus zu tun. Es ist viel­mehr die exakt glei­che »Stra­te­gie der Span­nung«, die von NATO und CIA finan­zier­te und gesteu­er­te euro­päi­sche Ter­ror­zel­len sich in den 1970ern auf die Fah­ne geschrie­ben hat­ten (und die schon damals nicht funk­tio­niert hat, weil man die Mas­se schlicht nicht zur Revo­lu­ti­on hoch­rei­ßen kann, punc­tum). Wer sich heu­te einem der­ar­ti­gen »Eska­la­tio­nis­mus« hin­gibt und den über­mäch­ti­gen Staat zum noch här­te­ren Drein­schla­gen rei­zen will, der macht sich extrem ver­däch­tig und besorgt sehen­den Auges die Arbeit des Feindes.

Klä­rungs­be­darf also: Wer bis­her schon mit dem »Post­mo­der­nis­mus« (vgl. Sezes­si­on 92) als der wich­tigs­ten kul­tur­wis­sen­schaft­li­chen Strö­mung der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts nicht zurecht kam, der kann über eine weit­aus obsku­re­re, um ein Viel­fa­ches wei­ter zuge­spitz­te Schu­le des Den­kens nur noch fas­sungs­los sein: den – tat­säch­li­chen – Akzelerationismus.

Die Ablei­tung vom latei­ni­schen Acce­le­ra­tio für »Beschleu­ni­gung« legt eine begriff­li­che Nähe zur vom fran­zö­si­schen Medi­en­theo­re­ti­ker Paul Viri­lio 1977 in sei­nem Auf­satz »Geschwin­dig­keit und Poli­tik« begrün­de­ten Dro­mo­lo­gie nahe, der »Wis­sen­schaft vom Ren­nen«, die sich auf die wahr­nehm­ba­re Stau­chung des Ver­hält­nis­ses von Raum und Zeit durch die stän­di­gen Ent­wick­lun­gen der Hoch­tech­no­lo­gie in den Berei­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on und (Waren-)Verkehr fokus­siert. Und wäh­rend tat­säch­lich bei­de Betrach­tungs­wei­sen von der Gegen­wart eines schein­bar erstarr­ten kri­sen­haf­ten Sta­di­ums vor dem Ein­tre­ten eines Endes gleich wel­cher Art aus­ge­hen (was Viri­li­os Fach­kol­le­ge Jean Bau­dril­lard in Abwand­lung eines medi­zi­ni­schen Ter­mi­nus als »Par­oxys­mus« bezeich­net hat), könn­ten doch die jewei­li­gen Fol­ge­run­gen nicht unter­schied­li­cher sein: Die Dro­mo­lo­gie iden­ti­fi­ziert aus­ge­hend von der Marx­schen Ana­ly­se (in den Grund­ris­sen der Kri­tik der poli­ti­schen Öko­no­mie) einer dem hoch­mo­bi­len Kapi­tal ent­sprin­gen­den »Ver­nich­tung des Raums durch die Zeit« die Geschwin­dig­keit als bestim­men­den Fak­tor, der die Distanz, also den Raum eli­mi­nie­re und die Zeit immer wei­ter ver­dich­te. Die­ser in Zei­ten von Glo­ba­li­sie­rung und welt­wei­ter Echt­zeit­kom­mu­ni­ka­ti­on längst rea­len Ent­wick­lung gegen­über nimmt sie eine kri­tisch-ana­ly­ti­sche Posi­ti­on ein und ist bemüht, den Sinn des ein­zel­nen für die Fol­gen ins­be­son­de­re im media­len Bereich zu schär­fen. Für den gleich­falls lin­ker Denk­tra­di­ti­on ent­stam­men­den Akze­le­ra­tio­nis­mus hin­ge­gen ste­hen alle Zei­chen auf Sturm; er will den »Spät­ka­pi­ta­lis­mus« (Wer­ner Som­bart) nicht ein­he­gen oder zurück­drän­gen, son­dern ihn viel­mehr mög­lichst rasch und radi­kal dem in ihm selbst ange­leg­ten Ende zutrei­ben. So fußen sei­ne eska­la­ti­ven Grund­an­nah­men sowohl auf Mar­xens »Rede über die Fra­ge des Frei­han­dels« (»Aber im all­ge­mei­nen ist heut­zu­ta­ge das Schutz­zoll­sys­tem kon­ser­va­tiv, wäh­rend das Frei­han­dels­sys­tem zer­stö­rend wirkt. […] Mit einem Wort, das Sys­tem der Han­dels­frei­heit beschleu­nigt die sozia­le Revo­lu­ti­on.«), als auch auf Nietz­sches Kri­sen­dia­gno­se im Wil­len zur Macht (§ 898): »Die Aus­glei­chung des euro­päi­schen Men­schen ist der gro­ße Pro­ceß, der nicht zu hem­men ist: man soll­te ihn noch beschleu­ni­gen. Die Not­wen­dig­keit für eine Kluft­auf­rei­ßung, Distanz, Rang­ord­nung ist damit gege­ben: nicht die Not­wen­dig­keit, jenen Pro­ceß zu verlangsamen.«

Die­se Ver­in­ner­li­chung des Grund­sat­zes »Was fällt, das soll man auch noch sto­ßen« ver­läuft dabei tat­säch­lich über einen post­struk­tu­ra­lis­ti­schen Vek­tor, näm­lich die extra­va­gan­te Nietz­sche­re­zep­ti­on des Pari­ser Phi­lo­so­phen Gil­les Deleu­ze. Die­ser for­der­te bereits 1972 gemein­sam mit dem Psych­ia­ter Félix Guat­ta­ri im Anti-Ödi­pus, dem ers­ten Teil ihres berühmt-berüch­tig­ten gemein­sa­men Haupt­werks Kapi­ta­lis­mus und Schi­zo­phre­nie, eine intel­lek­tu­el­le »Deter­ri­to­ri­a­li­sie­rung«: Selbst das avant­gar­dis­tischs­te zeit­ge­nös­si­sche Den­ken sei noch immer in for­ma­len Struk­tu­ren und Codes sei­nes kon­kre­ten Rau­mes – kul­tu­rel­ler und dar­über hin­aus­ge­hen­der Art – befan­gen; es kön­ne daher kaum mehr leis­ten, als Pas­tic­ci­os längst bekann­ter und bereits über­hol­ter The­sen vor­zu­brin­gen. Die­ser Star­re ste­he eine zuneh­mend ent­grenz­te rea­le Welt ent­ge­gen, deren Ent-Ter­ri­to­ri­a­li­sie­rung der Men­schen (beson­ders durch Unter­schich­ten­mi­gra­ti­on) eine par­al­le­le Deter­ri­to­ri­a­li­sie­rung des Den­kens erzwin­ge, um wie­der fle­xi­bel zu wer­den und eine neue Zukunfts­pla­nung über­haupt zu ermög­li­chen. Die­se Ent-Bin­dung der akze­le­ra­tio­nis­ti­schen Theo­rie, deren Ver­tre­ter alle »zurück­ge­blie­be­nen« Anhän­ger der klas­si­schen Ideo­lo­gien des 19. Jahr­hun­derts als selbst­ge­fäl­li­ge Lang­wei­ler ver­höh­nen, schlägt sich nicht zuletzt in einem selbst­be­wußt-pro­vo­kan­ten Eklek­ti­zis­mus nie­der. So ent­hält die Quel­len­samm­lung #ACCELERATE#, die der bri­ti­sche Sze­ne-Haus­ver­lag Urba­no­mic gemein­sam mit dem bekann­ten deut­schen Mer­ve-Ver­lag (sie­he Sezes­si­on 84) 2014 her­aus­ge­ge­ben hat, neben Ein­las­sun­gen der oben Genann­ten und wei­te­rer übli­cher Ver­däch­ti­ger auch uner­war­te­te Stim­men wie jene des dys­to­pi­schen Schrift­stel­lers J. G. Ball­ard oder des eigen­wil­li­gen Gesell­schafts­theo­re­ti­kers Thor­stein Veblen.

Am Beginn und im Brenn­punkt des merk­wür­di­gen Gesche­hens stand »ein Mann mit sanf­ter Stim­me und stäh­ler­nen Ansich­ten« (Han­nes Stein mit woh­li­gem Schau­dern in der Welt): der damals sehr jun­ge bri­ti­sche Phi­lo­soph Nick Land, nach sei­ner Pro­mo­ti­on über die Tra­kl-Rezep­ti­on Mar­tin Heid­eg­gers von 1987 bis 1998 Lehr­be­auf­trag­ter an der Uni­ver­si­tät War­wick in Coven­try, wo er 1992 mit The Thirst for Anni­hi­la­ti­on eine Medi­ta­ti­on über den noto­risch Gren­zen der Lite­ra­tur und des Geschmacks über­schrei­ten­den Geor­ges Batail­le vor­leg­te. Zum bestim­men­den Ereig­nis in jener Zeit wur­de das Her­ein­bre­chen der Digi­ta­len Revo­lu­ti­on mit der sprung­haf­ten Durch­set­zung und Ver­brei­tung des Inter­nets und der Neu­en Medi­en ab 1993. Tief beein­druckt von den sich damit schein­bar auf­tu­en­den unge­ahn­ten Mög­lich­kei­ten, ist Land denn auch in einer kur­zen Ein­spie­lung der pas­send beti­tel­ten bri­ti­schen Fern­seh­do­ku­men­ta­ti­on Visi­ons of Hea­ven and Hell von 1994 über die Zukunft einer digi­ta­li­sier­ten Welt zu sehen, wie er vor einer Glas­vi­tri­ne mit mensch­li­chen Hirn­schnit­ten sitzt und die all­ge­mei­ne Durch­set­zung einer hori­zon­ta­len und ent­hier­ar­chi­sier­ten – mit Deleu­ze und Guat­ta­ri in Tau­send Pla­teaus zu spre­chen: »rhi­zo­ma­ti­schen« – Grund­struk­tur von Gesell­schaf­ten, Unter­neh­men und Com­pu­ter­netz­wer­ken vor­her­sagt. Im glei­chen Geis­te grün­de­te er 1995 zusam­men mit der Kul­tur­wis­sen­schaft­le­rin Sadie Plant die »Cyber­ne­tic Cul­tu­re Rese­arch Unit« (Ccru), die War­wick zwei Jah­re lang mit ihren neo­si­tua­tio­nis­tisch-futu­ris­ti­schen Ver­an­stal­tun­gen und Publi­ka­tio­nen auf Trab hielt, ehe alle wesent­li­chen Mit­glie­der die Uni­ver­si­tät (teil­wei­se nicht ganz frei­wil­lig) ver­las­sen hat­ten und die For­schungs­stel­le ihre Zulas­sung auf dem Cam­pus ver­lor; offi­zi­ell auf­ge­löst wur­de sie gleich­wohl erst 2003. Land behan­del­te in sei­nen dama­li­gen Publi­ka­tio­nen – wäh­rend sei­ne Fach­kol­le­gen mit der Geschich­te der Meta­phy­sik und ähn­li­chen Harm­lo­sig­kei­ten befaßt waren – ein vol­les Jahr­zehnt »zu früh« heu­ti­ge Main­stream-The­men wie Bio­tech­no­lo­gie, das Inter­net als Sucht­mit­tel oder den Auf­stieg Chi­nas zur wirt­schaft­li­chen Groß­macht. Die­se wahl­wei­se als »toll­wü­ti­ger Nihi­lis­mus«, »durch­ge­knall­ter schwar­zer Deleu­zia­nis­mus« oder »Cyber-Schau­er­li­te­ra­tur« bezeich­ne­ten Tex­te wur­den 2011 von zwei alten Weg­ge­fähr­ten zusam­men­ge­faßt und auf­ge­legt unter dem schil­lern­den Titel Fan­ged Nou­me­na (in etwa »abs­trak­te Gedan­ken mit schar­fen Zäh­nen«), ein schel­mi­scher­wei­se genau 666 Sei­ten star­ker Back­stein von einem Buch, mit dem sich auch ein Schau­fens­ter ein­wer­fen oder eine Pro­duk­ti­ons­ma­schi­ne blo­ckie­ren lie­ße. Land, der sich vom uni­ver­si­tä­ren Appa­rat längst ver­ab­schie­det hat und mitt­ler­wei­le in Schang­hai lebt, wür­de sich wohl nicht von so etwas distanzieren.

Auf­fal­lend bei all­dem: Getreu der mar­xis­ti­schen Dia­lek­tik von Basis und Über­bau gibt es kei­nen real­po­li­ti­schen Anspruch. Viel­mehr wird die der Ver­wer­tungs­lo­gik ent­sprin­gen­de Ent­kop­pe­lung der Poli­tik von Max Webers »Ver­ant­wor­tungs­ethik« im akze­le­ra­tio­nis­ti­schen Modell qua­si neben­bei bis zur Implo­si­on auf die Spit­ze getrie­ben. Wozu sich mit dem Appen­dix auf­hal­ten, wenn man gleich auf das Herz zie­len kann? Tat­säch­lich exis­tier­ten die umstürz­le­ri­schen Visio­nen Nick Lands und der Ccru-Vete­ra­nen rund 15 Jah­re lang außer­halb der poli­ti­schen Sphä­re, ehe Ben­ja­min Noys, Pro­fes­sor für Kri­ti­sche Theo­rie an der Uni­ver­si­tät Chi­ches­ter, in sei­nem Werk The Per­sis­tence of the Nega­ti­ve 2010 den Akze­le­ra­tio­nis­mus über­haupt erst als Begriff in die poli­ti­sche Sphä­re über­führ­te. Dort, wo das Den­ken mehr­heit­lich noch immer im Morast des 19. Jahr­hun­derts fest­steckt, ist das Kon­zept seit­her erwart­ba­rer­wei­se wenig the­ma­ti­siert und noch weni­ger ver­stan­den wor­den. Als ein Pau­ken­schlag gedacht war noch die Publi­ka­ti­on des »Mani­fests für eine akze­le­ra­tio­nis­ti­sche Poli­tik« von Nick Srnicek und Alex Wil­liams 2013: Die Autoren rekla­mier­ten den Tech­no­po­si­ti­vis­mus Nick Lands für eine noch zu schaf­fen­de zivil-revo­lu­tio­nä­re Lin­ke in einer Zeit, da alle Aus­wüch­se eines belie­bi­gen Kon­zerns von lin­ken Akti­vis­ten ange­grif­fen wur­den. Von links gab es dafür – u. a. von ein­schlä­gi­gen Schwer­ge­wich­ten wie Anto­nio Negri und »Bifo« Berar­di – rhe­to­ri­sche Ohr­fei­gen, weil vom ruhi­gen aka­de­mi­schen Stand­ort aus ledig­lich der alte, lang­wei­li­ge Gramscis­mus akze­le­ra­tio­nis­tisch umla­ckiert wer­de. Da hat­te Land selbst die alte Radi­ka­li­tät längst als jugend­li­che Epi­so­de zu den Akten gelegt, war nach Schang­hai gezo­gen und Hor­ror­schrift­stel­ler geworden.

Nach wie vor auf eine Selbst­zer­stö­rung des heu­ti­gen Kapi­ta­lis­mus zu spe­ku­lie­ren, kommt gleich­wohl nicht von unge­fähr: Längst tre­ten in Gestalt von »abtrün­ni­gen« Wirt­schafts­wis­sen­schaft­lern wie dem Sie­ge­ner Pro­fes­sor Niko Paech mit sei­nem Buch Befrei­ung vom Über­fluss Advo­ka­ten einer Post­wachs­tums­öko­no­mie auf den Plan, mit der eben jene Zen­tri­fu­gal­kräf­te abge­bremst wer­den sol­len, auf denen Akze­le­ra­tio­nis­ten Rich­tung Hori­zont rei­ten wol­len. Ihnen steht zumin­dest in den all­mäh­lich wan­ken­den Hoch­bur­gen des Spät­ka­pi­ta­lis­mus die Poli­tik in der Theo­rie nicht mehr nach: An die Macht stre­ben­de neu­alt­lin­ke Klas­sen­kämp­fer wie Jere­my Cor­byn in Groß­bri­tan­ni­en oder Ber­nie San­ders und Alex­an­dria Oca­sio-Cor­tez in den USA for­dern unter Wort­ge­klin­gel wie »Green New Deal« eine Umver­tei­lung von oben nach unten, die stren­ge Besteue­rung gro­ßer Ver­mö­gen und eine Beschnei­dung der fak­ti­schen Olig­ar­chie von Par­tei­spen­dern und ‑för­de­rern, um letzt­end­lich durch tita­ni­sche Inves­ti­ti­ons­pro­gram­me eben den gewohn­ten Kapi­ta­lis­mus aus sei­ner öko­lo­gi­schen wie wirt­schaft­li­chen Kri­se zu füh­ren. Die­se ortho­dox-unfle­xi­ble Betrach­tungs­wei­se ent­lang der Deu­tungs­mus­ter des frü­hen 20. Jahr­hun­derts ist jedoch weder in der Lage, den hybri­den Cha­rak­ter der post­in­dus­tri­el­len Kri­sen­ent­fal­tung zu erfas­sen, noch radi­kal genug, um Lösun­gen statt blo­ßer Media­ti­on bis hin zum staat­li­chen Diri­gis­mus anbie­ten zu kön­nen. Es liegt nahe, einen – so gese­hen – einer »nihi­lis­ti­schen« Logik fol­gen­den drit­ten Anlauf zur Erstür­mung der Fes­tung des Kapi­tals zu wagen: Die Erwar­tung eines pro­le­ta­ri­schen Auf­stands ist im indus­tri­el­len Zeit­al­ter ent­täuscht wor­den, und auch Gramscis Hege­mo­ni­al­theo­rie hat sich tot­ge­lau­fen an der Elas­ti­zi­tät einer glo­ba­len Wirt­schaft, die jeden Gegen­druck und alle Sym­pto­me der Ent­frem­dung und Zer­rüt­tung wie­der­um in kom­mer­zi­el­le Pro­duk­te umzu­len­ken ver­mag – beson­ders absurd etwa mit der vor­über­ge­hen­den Ein­füh­rung von »Real Meals« (ali­as »Unhap­py Meals«) durch den Fast­food-Rie­sen Bur­ger King im Mai 2019, um in Anspie­lung auf die klas­si­schen »Hap­py Meals« des Kon­kur­ren­ten McDonald’s mit bun­ten Kar­tons um eine Por­ti­on Fri­teu­sen­fraß »ein Zei­chen zu set­zen für die nicht gut gelaun­ten Men­schen in unse­rer Gesellschaft«.

Übt man Kri­tik an der Ver­fe­mung zeit­ge­nös­si­scher Dis­si­denz gera­de durch die Medi­en, so folgt als höh­ni­sche Ant­wort oft: »Mei­nungs­frei­heit bedeu­tet nicht Frei­heit von Kon­se­quen­zen!« Nun, das gilt natür­lich min­des­tens genau­so­sehr auch für die Pres­se­frei­heit. Hier könn­te ein Ansatz­punkt für ergeb­nis­ori­en­tier­ten rech­ten Akze­le­ra­tio­nis­mus lie­gen: Die all­fäl­li­gen Ent­stel­lun­gen und Kunst­feh­ler eta­blier­ter Preß­ben­gel weit­läu­fig bekannt­zu­ma­chen, ist eine der weni­gen sinn­vol­len Nut­zungs­mög­lich­kei­ten sozia­ler Netz­wer­ke, denn auch der klas­si­sche Jour­na­lis­mus ist als Aus­fluß der Ver­wer­tungs­lo­gik nicht vor Selbst­de­mon­ta­ge und Implo­si­on gefeit. Ande­re, hal­bi­ro­ni­sche Denk­an­stö­ße zu krea­ti­vem Han­deln lie­fert nicht nur der gereif­te Klas­si­ker Fight Club von Chuck Palah­n­i­uk (1996): Der gera­de ein­mal 23jährige Medi­en­ak­ti­vist Mike Ma ver­öf­fent­lich­te im Früh­jahr 2019 mit Harass­ment Archi­tec­tu­re eine atem­los dahin­ra­sen­de, bis­si­ge Epi­so­den­samm­lung reins­ter Hyperbeschleunigung.

Rech­ter- wie lin­ker­seits steht auf dem Weg zu einem akze­le­ra­tio­nis­ti­schen Stand­punkt ein gewich­ti­ges Hin­der­nis quer – das ist der Kon­ser­va­tis­mus. Doch: Ob eine der­art zum Poli­ti­kum erho­be­ne geis­ti­ge Unbe­weg­lich­keit ange­sichts der heu­ti­gen Lage noch ver­tret­bar ist? Nicht ohne Grund kur­sie­ren beson­ders in der ame­ri­ka­ni­schen rech­ten Dis­si­denz böse Bon­mots wie »Kon­ser­va­ti­ve wol­len Bewah­rer sein, aber konn­ten noch nicht ein­mal nach Geschlech­tern getrenn­te Toi­let­ten bewah­ren«, oder, zum Gna­den­stoß zuge­spitzt: »Kon­ser­va­tiv sein, das heißt, ängst­lich am Spiel­feld­rand der Geschich­te zu ste­hen und die Spie­ler zu bit­ten, etwas lang­sa­mer zu machen.« Ganz anders – regel­recht radi­kal – nimmt sich da doch eine Beja­hung der Beschleu­ni­gung, der Zen­tri­fu­gal­kräf­te und der frei­ge­setz­ten Selbst­ver­zeh­rung der Sys­te­me aus!

Neben all sei­nen uto­pisch-tech­no­so­phi­schen Aspek­ten, die ihn viel­fach wie einen polit­phi­lo­so­phi­schen Abklatsch von Frank Her­berts Wüs­ten­pla­net-Epos oder Wil­liam Gib­sons revo­lu­tio­nä­rer Neu­ro­man­cer-Tri­lo­gie erschei­nen läßt, mag der für den Durch­schnitts­rech­ten befremd­lichs­te Aspekt am klas­si­schen Akze­le­ra­tio­nis­mus aber des­sen Absa­ge an die heroi­sche Unter­gangs­po­se sein: Alle Theo­rie soll von Ergeb­nis und Effi­zi­enz her gedacht wer­den. Das heißt eben oft, sich nicht wie ein bocki­ges Kind über man­geln­de »Fair­neß« und »Unauf­rich­tig­keit« des poli­ti­schen Geg­ners zu bekla­gen oder einen hoch­nä­si­gen Kul­tur­pes­si­mis­mus zu pfle­gen, der all­zu­oft nur eige­ne Untä­tig­keit bemän­teln soll. Statt des­sen gilt es, die beson­ders im Infor­ma­ti­ons­zeit­al­ter höchst insta­bi­len Ent­schei­dungs- und Macht­pro­zes­se zu durch­schau­en und ihre inne­ren Wider­sprü­che zu ver­schär­fen. Ein beacht­li­ches Bei­spiel akze­le­ra­tio­nis­ti­scher Par­tei­po­li­tik stellt aus die­ser Per­spek­ti­ve die tak­ti­sche Stimm­ab­ga­be der thü­rin­gi­schen AfD-Land­tags­frak­ti­on bei der Wahl des Minis­ter­prä­si­den­ten am 5. Febru­ar 2020 dar. Die unver­hoff­te Wahl des FDP-Kan­di­da­ten Tho­mas Kem­me­rich zum Minis­ter­prä­si­den­ten »von Höckes Gna­den« ver­setz­te das gesam­te bun­des­re­pu­bli­ka­ni­sche Par­tei­en­sys­tem in gewal­ti­ge Tor­si­ons­schwin­gun­gen, mit kata­stro­pha­len Fol­gen für FDP und CDU: Das mor­sche Sys­tem begräbt die eige­nen Sprech­pup­pen unter sei­nem betrof­fen­heits­schwe­ren Gewicht.

Man kann zur AfD ste­hen, wie man will – in ihrer selbst­ge­setz­ten Auf­ga­be einer Zer­trüm­me­rung des eta­blier­ten groß­west­deut­schen Par­tei­en­fil­zes ist sie damit einen gehö­ri­gen Schritt vor­an­ge­kom­men und hat dem geneig­ten Beob­ach­ter einen Hoch­ge­nuß berei­tet. Gera­de vor dem Hin­ter­grund der fort­wäh­ren­den Ummünz­ung poli­ti­scher Dis­si­denz in Kon­sum­gü­ter – der viel­ge­rühm­te »Wider­stand« erschöpft sich oft schon in einem »muti­gen« Anste­cker oder Jute­beu­tel – liegt eine Beschäf­ti­gung mit dem ganz ande­ren Blick­win­kel des Akze­le­ra­tio­nis­mus nahe, mit dem lachen­den Umren­nen all­des­sen, das bereits schlei­chend fällt. Neue Blick­win­kel eröff­net ein sol­cher intel­lek­tu­el­ler Aus­flug alle­mal. Und um einen Feind bekämp­fen zu kön­nen, muß man ihn vor allem erst ein­mal sehen können.

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

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