“Noch höre ich die Stimme unseres Religionslehrers diesen Vers sagen, es ist jetzt dreiunddreißig Jahre her. Erinnere ich mich recht, so hatte man die Inschrift gerade im Jahre der tiefsten Inflation auf einem alten, wohl hundertjährigen Gedenkstein gefunden.”
(Karin Ruths-Hoffman, in: Wir erlebten Rudolf Steiner. Erinnerungen seiner Schüler, Stuttgart 1967)
Nichts ist in diesen Zeiten naheliegender und verlockender als Gedanken über die Zukunft. Eine “Zeitenwende” (Olaf Scholz) zum dräuenden oder bereits laufenden III. Weltkrieg generiert am laufenden Band Spekulationen, Szenarien, Phantasien. Keiner bleibt davon verschont, nicht einmal der Pragmatischste, Ignoranteste oder Geduldigste.
Daraus erwächst die Frage, wie weit und auf welche Weise man sich in Zukunftsdenken hineinbegibt. Anthropologisch formuliert: Wieviel Zukunft erträgt der Mensch?
Ich gehe von folgendem aus: der “Realität der Massenmedien” (Niklas Luhmann), einem kritischen Blick auf dieselben, verschieden langen Zeitspannen, mir wohlbekannten sympathischen und antipathischen Verführungen, einigen Mitteln der “Psychohygiene” und vom Glauben.
Unter diesem Blickwinkel will ich die Zukunftsproblematik strukturieren, indem ich vom kleinen Zeitraum zum größeren gehe, sodann die Beobachtungsinstrumente, mit denen diese Zeiträume gesehen werden können, beschreibe, und schließlich Worte für die spezifischen Gefahren der Gemütsverwirrung beim Wahrnehmen des jeweiligen Zeitraums suche.
1. Zeitspanne: nächste Tage und Wochen
Instrumente: Militärberichterstattung, Wirtschaftsnachrichten, Soziale Medien
Gefahr: Psychologisch ungefährlich, außer man pfriemelt sich in Frontverläufe, Dollarkurs- oder Gasspeicherfüllstände hinein. Dann sieht man den Wald vor Bäumen nicht mehr und vergeudet seine Lebenszeit; oder man bleibt an der Oberfläche der (auch alternativ-)medial vermittelten Zuschauerdemokratie hängen (Skandalaussagen, Wahlen, Rücktritte, Gipfeltreffen, Ablenkungsmanöver à la “Reichsbürgerputsch”, “Klimakleber” usw.) und regt sich nach Durchsicht der abonnierten Telegramkanäle über das auf, worüber man sich aufregen soll.
Es ist Kriegszeit. Und das muß auch in die Gesellschaft hineinkommuniziert werden.
So sprach Oberst André Wüstner bezeichnenderweise im Interview im ADR-Morgenmagazin des 16. Jänner. Die kleinsten wahrnehmbaren Zeitspannen erzeugen wenig Gefühlsunrat, geben aber ebensowenig Aufschluß über die Wirklichkeit des Krieges.
2. Zeitspanne: nächste Monate, dieses Jahr
Instrumente: Wirtschaftstheorien, Politik als Bühnenshow (mit Figuren, Puppenspielern, Bühnenumbau usw.) verstehen, Trends in den Narrativen beobachten
Gefahr: Psychologisch nur dann ungefährlich, wenn man strikt beim Beobachten bleibt und sich weder Hoffnung noch Haß erlaubt. In dieser Größenordnung stellt sich rasch die Gefahr des „Parteiischseins“ ein. Sympathie und Antipathie sind es hier, die den Blick einengen und polemogen wirken.
Was wird 2023 geschehen? Wird die BRD im Jahresverlauf weiter “deindustrialisiert”? Wann geht Putin endlich all in? Hat er den Propagandakrieg längst verloren? Wer wird siegen, Rußland oder der “kollektive Westen”?
Diese Fragen fördern, kaum daß man Antworten darauf in den Medien findet oder sie unter Leuten zu diskutieren wagt, unüberbrückbare Meinungsdifferenzen zutage. Die Antipathie ist in der Politik das weitaus überwiegende Gefühl, und ich kenne keinen Zeitgenossen, der wirklich imstande ist, die Gegenseite der seine Gefühle bestimmenden Partei im Konflikt gelassen zu rezipieren.
3. Zeitspanne: nächste Jahre
Instrumente: Systemfrage, Geopolitik, Prophezeiungen/Extrapolierungen
Mit diesem Wahrnehmungsfokus tritt man weiter weg von den Parteiungen und Meldungen und betritt die Ebene der Gedankenmodelle. Bricht “das System” zusammen und wenn ja, wann? Welche Machträume und raumfremden Mächte gewinnen wo und wie an Einfluß? Stehen “Great Reset” und “multipolare Weltordnung” in einem Widerspruch oder ergänzen sie sich am Ende? Gibt es große Pendelbewegungen oder Pläne der Hintergrundmächte?
Gefahr: Psychologisch ist dieses Zeitfenster wesentlich gefährlicher als die kürzeren. Der sich in der zweiten Zeitspanne herausentwickelnde Wunsch kann nicht nur Vater mancher Gedanken werden, sondern kann auch die Gedanken komplett parasitieren.
Die Grenze zwischen theoretischen Szenarienentwürfen und langen Linien der Geschichte, die ihre Eigenlogik jetzt vor unseren Augen entfalten, die man aber im eigenen Innern von Sympathie- und Antipathiekräften freihalten kann, einerseits – und Phantasien, Trieben und Vorstellungen über die eigene Rolle (als Untergangsprophet, als Rechtgehabthabender, als Selbsterreger, als möglicher Reservist für eine neue Regierung usw.) andererseits, ist fließend.
Darin liegt die Gefahr dieser Weitblicksinstrumente. Dennoch kann man sie nicht nichtbenutzen – sie ergeben sich nahezu zwangsläufig aus dem zweiten Zeitfenster, weil der Beobachter “die Punkte verbinden” will zu einem Bild.
Diese Ebene ist die gefährlichste, weil die Nerven des Beobachters oft blankliegen. Es geschieht ewig lange Zeit nichts, der “Crash” und der “Tag X” werden immer wieder verschoben, es stellt sich womöglich Katastrophensehnsucht ein oder der Wunsch, der Krieg möge endlich seine “reinigende” Kraft zeigen.
Wer in dieser Zeitspanne auf der Folter liegt, ist leichte Beute für die luziferischen Kräfte.
Psychohygienisch hilft das Ergründen der eigenen Motive, um sich von den hier lauernden Gefahren, so gut es eben geht, zu lösen. Wovor habe ich Angst? Wie ist mein Verhältnis zur Macht? Und zur Ohnmacht? Will ich Rache nehmen?
Ich glaube, daß man, wenn man sich länger mit dieser Zeitspanne befaßt, nicht alleine klarkommen wird. Die Gefahr des Festdrehens in der eigenen (Angst‑, Macht‑, Rache- usw.-) Phantasie ist – frei nach Paul Watzlawicks Geschichte mit dem Hammer – nur sozial abwendbar: durch Austausch und ab und zu eine kräftige Kopfwäsche von Vertrauten …
4. Zeitspanne: lange Zeiträume, Jahrhundert(e) …
Instrumente: Großtheorien, Geschichtsphilosophie, Eschatologie
Gefahr: Wenn jemand Marxist ist und die Geschichte als Geschichte der Ökonomie denkt, wenn jemand Spenglers „Untergang des Abendlandes“ als Denkmodell bevorzugt oder mit René Guénon Die Krise der modernen Welt als zyklische Wiederkehr des Gleichen denkt und uns derzeit im “Kaliyuga” sieht, wenn jemand die gegenwärtige Lage mit dem Niedergang Roms vergleicht – dann wird er selbst in dieser Weltraumteleskopperspektive unscheinbar und klein.
Die lang- und längstgedehnte Perspektive kann entweder falsche politische Hoffnungen (auf das Himmelreich auf Erden, “die Enkel fechten’s besser aus”…) wecken oder das Gemüt nachhaltig frustrieren und lähmen. Aus der Angst vor solcher Lähmung, die einträte, ließe man sich auf die lange Zeitspanne in Gedanken ein, speist sich mancher Einwand gegen “Verschwörungstheorien”, weil man ja doch nichts dagegen tun kann, daß es die Rothschilds oder die Freimaurer sind, deren Pläne sich über die Jahrhunderte zurückverfolgen lassen.
Die historischen Weitwinkelaufnahmeeinstrumente können aber unter einer Bedingung heilsam und keineswegs irreführend oder lähmend sein: das derzeit ablaufende Böse unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit zu betrachten.
In unserem Briefwechsel Volkstod – Volksauferstehung haben wir den Versuch unternommen, eine sehr lange Zeitlinie aufzuzeigen. Christliches Zeitdenken schmarotzt nicht an den Trieben, sondern richtet die Seele auf Ordnung und Hoffnung, letztlich: auf Gott aus.
Die kaum mehr bloß “psychohygienisch” zu nennende schwierigste Aufgabe des Menschen liegt, wenn er sich in diesen Zeitspannen zuhause zu fühlen beginnt, darin, das ganz Große wieder auf das ganz Kleine zurückzubeziehen: im Alltag zu handeln sub specie aeternitatis.
Dies ist nach meiner Erfahrung dann und nur dann möglich, wenn man Gott als Beobachter aller Vorstellungen, Wünsche und Handlungen ins eigene Denken – gerade in das zukunftstaumelnde Denken in Kriegszeit – einbezieht. Und dann das nächstliegende Notwendige tut.
Ein gebuertiger Hesse
Wow. Großartig verdichtete Ansage! Den letzten, allemal den letzten Absatz möge jeder hier Lesende in sein wissendes Herz aufnehmen (sagt ein gläubiger Wahl-Heide).