Dem britischen Philosophen Nick Land, dem »Mann mit sanfter Stimme und stählernen Ansichten«, und seinem postmarxistisch-technosophischen Weltgeschichtsfiebertraum des Akzelerationismus haben wir schon in Sezession 95 detailliert nachgespürt.
Er war nach dem abrupten Ende seiner akademischen Karriere an der Warwick University Ende der 1990er nach Schanghai übersiedelt. Seine einstweilige Tätigkeit als esoterisch-politischer Blogger deutete 2020 keineswegs darauf hin, daß von ihm nach seinem Frühwerk über Georges Bataille noch einmal bemerkenswerte Printveröffentlichungen kommen würden. Nun sind sie aber eben doch erschienen, und das gleich als »Doppelwumms«.
2012 begann Land auf seinem damaligen Blog »Urban Futures« mit der Veröffentlichung eines schließlich zehnteiligen Essays über die schwindende Aura des westlichen Liberalismus. Ausgangspunkt war eine 2009 ausgebrochene Debatte unter prominenten Libertären darüber, ob »Freiheit und Demokratie unvereinbar« seien (so damals Peter Thiel). Land nahm den Streit zum Anlaß für eigene Überlegungen zum Wesen der historischen Aufklärung, des Fortschrittsbegriffs und, wie er sie nannte, »demokratischer Mythen«.
Von Thiel und Konsorten kam er zum libertären Vordenker Hans-Hermann Hoppe, und von Hoppe war es bei ihm ein argumentativer Weg von gerade einmal drei Absätzen zum »obersten Sith-Lord der Neoreaktionäre«, nämlich dem unter Liberalismusskeptikern Mitte der 2000er bis in die frühen 2010er prominent gewordenen Informatiker und autodidaktischen Politphilosophen der »Neoreaktion«, Curtis »Mencius Moldbug« Yarvin.
An dessen Konzepten und Ausführungen sollte sich Land in der Folge ausführlichst abarbeiten und im Zuge dessen quasi nebenbei den Oberbegriff der »Dunklen Aufklärung« (Dark Enlightenment) etablieren.
Wiewohl all diese alten Weblogs aus verschiedenen Gründen heute nicht mehr bestehen, sind die dazugehörigen Texte doch – wie im Internet üblich – noch vielerorts kopiert und »gespiegelt« verfügbar. Das macht sie allerdings für weniger technikaffine Interessierte sehr mühsam aufzufinden. Doch nicht nur in einer Linderung dieses Umstands liegt das Verdienst einer längst überfälligen Printedition der zentralen Schriften der neoreaktionären »Bewegung«. Auch die erste deutschsprachige Überblicksdarstellung hierzu befindet sich im Abschluß.
Der gerade fünf Jahre junge, doch schon sehr renommierte reaktionäre Verlag Imperium Press aus dem westaustralischen Perth hat seiner Gesamtausgabe der Grundlagenschrift Nick Lands zur »Dunklen Aufklärung« ein Vorwort des Autors beigegeben, welches sein Anliegen konkretisiert:
Anders als der eigentliche, assoziativ zusammengeschriebene Text habe dessen Auslegung online ein radikales Eigenleben entwickelt und sich so selbst erfüllt – gemäß dem akzelerationistischen Modell der »Hyperstition«, wonach ein neuer Begriff sich aus einem Text in die Realität rückprojizieren kann. Tatsächlich sei es nie um eine simple reaktionäre Gegenaufklärung gegangen, sondern um die »dunkle«, schonungslos realistische Kehrseite der bekannten Aufklärung: eminent wichtige Lesehilfe für einen schwierigen Text, um nicht stumpfsinnige Nostalgie zu sehen, wo keine ist, und zu erkennen, wo Lands Denken anschlußfähig ist an Yarvins Parole: »Der einzige Weg hinaus führt hindurch.«
In deutscher Übersetzung bildet der Langessay zur »Dunklen Aufklärung« denn auch einen wesentlichen Teil der neuen Land-Blütenlese Okkultes Denken. Das übliche PR-Selbstbewußtsein von Matthes & Seitz Berlin wirkte dabei schon im vorhinein etwas aufgesetzt. So protzt die Verlagswerbung mit dem Claim »Erstmals auf Deutsch«, was schlicht unwahr ist, erschienen einzelne übersetzte Texte Lands doch bereits in Sammelbänden des Merve Verlags, etwa hier.
Die Überschneidung liegt im freudianischen Cyberpunk-Traktat »[[]] No Future [[1.343]] [[0]]«; hier gewinnt knapp die Neuübersetzung – obschon das Buch trotz der immensen Verspätung ein gründlicheres Lektorat verdient gehabt hätte.
Ursprünglich für Ende Juni 2022 angekündigt, wurde der Band insgesamt fünfmal verschoben, hat seinen geplanten Umfang parallel zum Ladenpreis um mehr als ein Drittel vermehrt und ist nun schlußendlich Ende April dieses Jahres erschienen. Der Längenunterschied entspricht exakt den herausgeberischen Zusätzen, verteilt auf ein Vorwort, einen 68seitigen (!) Briefwechsel über Nick Land aus dem COVID-Frühjahr 2020 sowie den lobenswerten und offenbar noch bis unmittelbar vor Drucklegung aktualisierten Anmerkungsapparat.
Die Textauswahl wirft stellenweise Fragen auf, etwa weshalb »Hypervirus« von 1995, worin Land ein halbes Jahrzehnt im voraus virales Marketing und Internet-Meme selbstbewußt vorhersagte (»Everyone will be doing it.«), nicht enthalten ist. Dennoch sind die beiden Herausgeber und »Korrespondenzessayisten« tatsächlich in gewisser Weise berufen: Literaturwissenschaftler Philipp Theison ist Fachmann für Science-fiction. Der technophile FAZ-Quotenkommunist Dietmar Dath indes hat bereits vor längerer Zeit Lands Ex-Mitstreiter Kodwo Eshun ins Deutsche übersetzt – 1999, also lange bevor der Warwick-Zirkel »Ccru« zum Kult wurde.
Beiden merkt man ihr Fasziniertsein von der Materie (»Schriften, die keineswegs nur den Herausgebern dieses Bandes über Jahrzehnte als Stimulantien dienten«, so Theison im Vorwort) deutlich an; beide versuchen, des Autors spätere »Apostasie« – die Abkehr von Utopien und Humanismus – sowie sein Streben nach »einer Aufladung des Denkens mit dunkler Energie« dialektisch zu ergründen, wie das Leser und Weggefährten Lands (etwa Mark Fisher) nun schon seit einem Jahrzehnt tun.
Theison bevorzugt an der Lektüre gerade die nebulösen Stellen – je unverständlicher, desto mehr Herausforderung klassischer Denkschablonen, desto besser. Dath schätzt Land als »klugen Feind«, der beim Gießen seiner Geschosse aus »genialen Vergleichen« gegen linken Liberalismus »absurd konsequent« vorhergehe und deshalb besonders reizvoll sei:
Nick Land besorgt dieses Sichtbarmachen […] in einem gar nicht trivialen Sinn BESSER als Dugin oder Götz Kubitschek oder sonst irgendwelche Nostalgiker der Gewalt. Denn deren Lehren und Behauptungen fassen den Stoff gar nicht an, der die sozialen Realverhältnisse reguliert: Weltmarkt, Profit, Produktivkraftentwicklung.
Als Lands Ziel durch dessen gesamtes kompliziertes und besonders anfangs esoterisches Werk hindurch identifiziert er mit Recht »Zerschlagung des aufgeklärt-bürgerlichen Menschenrechtsuniversalismus«, ausgehend von der Bataille-Exegese des Briten.
Darauf angesprochen, wie es zu einer deutschen Ausgabe in dieser Form gekommen sei, antwortete Nick Land mir noch letztes Jahr via Twitter, ihm sei das alles gleich, er segne pauschal jede Publikationsanfrage ab. Seine heutige Distanz zum Frühwerk entwertet dieses indes keineswegs: Das alles ist starker Tobak und wortwörtlich wahnsinnig dicht, Lesen wird zur echten Arbeit.
Auch muß eine spätmoderne Rechte, die sich in unserer verkehrten Welt ausgerechnet der Ehrenrettung des Rationalismus verpflichtet fühlt, zwangsläufig mit Lands fiebriger »Theoriefiktion« fremdeln. Doch auch das geht vorbei – alles in allem ein tolles Buch, im zweifachen Wortsinn.
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+ Nick Land: Okkultes Denken. Mit einem Korrespondenzessay von Dietmar Dath und Philipp Theisohn, Berlin: Matthes & Seitz Berlin 2023. 432 S., 38 € – hier bestellen!
MARCEL
Wer "Dark Enlightenment" in Romanform lesen möchte, dem sei Thomas M. Disch (1940-2008) Camp Concentration empfohlen.