Lernen
Alexander Nitzberg, geboren 1969 in Moskau, ist einer der bedeutendsten und umtriebigsten deutschen Übersetzer russischer Literatur, und zwar sowohl von Lyrik als auch von Prosa, was nicht viele können.
Die Liste der von ihm übersetzten Dichter liest sich wie ein Who-is-Who der russischen Klassiker: unter anderem Dostojewskij und Puschkin, Woloschin und Bulgakow, Achmatowa, Radlowa und Rostopschina, Sawinkow (hier und hier) und Majakowski.
Zusätzlich hat er seit 1996 einige eigene Lyrik-Bände veröffentlicht, nebst einem herrlichen Lehrbuch “wie man Gedichte macht” mit dem Titel Lyrik Baukasten.
Auch sein jüngstes Buch ist ein Lehrbuch zum “Selbermachen”, allerdings mit einem gänzlich anderen Thema. Der geschliffene Geomant. Das Horoskop der vier Elemente ist eine detaillierte Einführung in eine klassische Orakeltechnik, die sich insbesondere im Mittelalter (Dante erwähnt sie am Ende seiner Commedia) und der Renaissance großer Beliebtheit erfreut hat und die höchstwahrscheinlich orientalischen Ursprungs ist: die “Geomantie” oder “Punktierkunst”, wobei sich das Wort “Geo” hier auf die Welt “als Ganzes” bezieht. Es steht für “den platonischen Mischkrug, in dem alle Anteile sinnvoll verrührt werden”.
Die Elemente Feuer, Erde, Wasser, Luft symbolisieren hier die vier Grundprinzipien, aus denen “alle Dinge bestehen”: Das Feuer steht für Geist und Willen, “den drängenden Impuls zum Sein”, Luft für die “gedankliche Konzeption”, Wasser für “das Prinzip des Lebens, der sinnlichen Wahrnehmung und Empfindung”, die Erde für das “Manifeste, das Formgewordene, die Gestalt”.
Diese sind die vier Grundelemente des geomantischen Horoskops, das sehr einfach zu erstellen ist: Alles, was man braucht, ist ein Blatt Papier und Bleistift. Aus zufällig gesetzten Punkten oder Strichen entstehen geomantische “Karten”, die oft von erstaunlicher Schönheit und Komplexität sind. Sie zu ergründen, bedeutet, sich auf einen inneren “Erkenntnis- und Läuterungsprozess” einzulassen. Das Orakel ist keine “bloße Antwortmaschine”; es anzuwenden und zu deuten, ist eine Kunst.
Nitzberg, geschult am strengen Denken René Guénons, steht dabei firm auf dem Boden neoplatonischer Philosophie. “Esoterik” ist für ihn verbunden mit Namen wie Heraklit, Platon, Hermes Trismegistos, Apuleius, Boethius, Ficino, Pico della Mirandola und Paracelsus, und nicht mit den Entartungen des “New Age”, der Theosophie, des Räucherstäbchenkitsches oder der “tiefenpsychologischen Surrogate” im Gefolge von C. G. Jung, die er in seiner Einleitung scharf kritisiert und verwirft.
Im Zuge dieser Kritik spricht er auch tiefer liegende Übel an. Aus Nitzbergs Sicht hat “unsere westliche Zivilisation im postaufklärerischen Zeitalter jede Bindung an ihre esoterischen Wurzeln verloren”: “Etwas, das jahrhundertelang Bestand hatte und dem Menschen im Inneren einen Halt bot, wurde preisgegeben und gnadenlos ersetzt.” Die Kunst des geomantischen Orakels einzuüben mag ein Weg sein, sich zu den “Müttern” (so auch der Name der vier Grundfiguren eines geomantischen Horoskops) zurückzutasten; jeder Leser mag selbst entscheiden, wie sehr er sich darauf einlassen mag.
Der geschliffene Geomant ist ein kurzweiliges, klar geschriebenes Buch, geeignet auch für Laien, Anfänger und Neugierige ohne praktische Ambitionen. Es bietet Esoterik mit nüchterner Klarheit, ohne “Geschwurbel”, Quatsch und mystische Benebelung. Als Bonus enthält es einen vom Autor aus dem Lateinischen übersetzten raren Traktat eines alten Meisters der Geomantia, Pietro d’Abano aus Padua.
Alexander Nitzberg: Der geschliffene Geomant. Das Horoskop der vier Elemente, Chiron Verlag, Tübingen 2023, 243 Seiten, 26,80 €.
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Lesen (und Schauen)
Dieses Buch ist zugegebenermaßen vielleicht nicht unbedingt das passendste Geschenk für Weihnachten, das man empfehlen kann.
Der erste Text, den ich mit dem Namen Martin Lichtmesz zeichnete, war ein Artikel in englischer Sprache über den Berliner Undergroundfilmer Jörg Buttgereit, sekundiert von einem Interview, das ich mit ihm in einem Schöneberger Kino geführt hatte, in dem er damals als Projektionist arbeitete, aufgenommen auf einem alten Kassettenrecorder (das Tape muß noch irgendwo existieren).
Artikel und Interview wurden Mitte 2000 in einem kurzlebigen Neofolk-Industrial-Fanzine mit kleiner Auflage abgedruckt (damals war ich noch ein gänzlich unpolitischer Filmstudent, Buttgereit trifft also keine “Kontaktschuld”).
Buttgereit, Jahrgang 1963, hatte damals – zumindest für jene, die einen ausreichend großen Knall hatten, sich für dergleichen zu interessieren – einen “Kultstatus” als extrem “transgressiver” Filmregisseur, berühmt-berüchtigt vor allem durch seine Horrorfilme Nekromantik (1987) und Nekromantik 2 (1991). Der Film, der den stärksten Eindruck bei mir hinterlassen hat, ist allerdings der depressive Suizid-Episoden-Film Der Todesking (1989).
Der “Charme” dieser abgründigen, amateurhaften, die Schmerzgrenzen des Zuschauers brutal strapazierenden, geradezu antisozialen Low-Budget-Filme (Nekromantik wurde komplett auf Super‑8, sein Nachfolger auf 16mm gedreht) bestand vor allem darin, daß sie Produkte einer unbremsbaren, ungehobelten, un- bis anti-intellektuellen Filmer- und Provokationsleidenschaft jenseits jeglicher kommerzieller Interessen waren.
Buttgereit und seine Spießgesellen wollten niemals “Kunst” machen, aber mit ihrem obsessiven Willen zum Tabubruch und zum Überschreiten der Grenzen des Darstellbaren, sind sie in Bereiche vorgedrungen, die tiefer gelegen sind, als sie vielleicht vermutet oder beabsichtigt haben. Hinter dem juvenilen Jux und dem gewollt Schockierenden und Abstoßenden waren durchaus ernsthafte Fühlungsaufnahmen mit dem Tod, dem Grauen und dem Sterben wahrnehmbar. Das ist etwas, wo man durchmuß – oder wo zumindest ich durchmußte.
Buttgereits reich bebilderte, auf alten Tagebucheinträgen basierenden Memoiren Nicht jugendfrei! zeigen, auf welchem Boden seine “Untergrundfilme” entsprossen sind. Es ist das heute beinahe mythisch anmutende West-Berlin der siebziger und achtziger Jahre, eine einzigartige Insel anarchisch-chaotisch gärender Subkulturen, in der Buttgereit als Kind der Punkrock-Generation aufgewachsen ist (und ein großes, aber sympathisches und trotz allem offenbar bodenständiges Kind ist er bis heute geblieben).
Als Sozialisierter der “schwarzen Szene” und Fan von SPK, NON, Psychic TV, Nurse with Wound, Current 93, Coil, Nick Cave, Lydia Lunch, den Einstürzenden Neubauten und anderen üblichen Verdächtigen kam ich fünfzehn bis zwanzig Jahre zu spät zur Party. Von der Mauerstadt habe ich nur mehr einen Abglanz erlebt. Abtauchend in Buttgereits Tagebucheinträge (verfaßt in einem schlichten, unprätentiösen Stil), fühle ich die Wehmut (und vielleicht auch den Neid) des Zuspätgeborenen, der gerne dabeigewesen wäre.
Ich muß aber auch sagen, daß vieles, was damals aufregend, genialisch, befreiend, herrlich verboten und subversiv gewirkt haben mag, heute etwas schal und abgeschmackt erscheint. Nach der Orgie kommt der Katzenjammer, und auch der schönste “Kick” währt nicht ewig.
Es ist inzwischen witzlos geworden, für die “Radikalität” von John Waters zu schwärmen oder sich über die ohnehin nur lahmen Vorstöße der Zensur und des “Jugendschutzes” vergangener Zeiten zu ereifern, die trotz aller Indizierungslegenden auch Buttgereits Filme nur am Rande betrafen. Irgendwann erreicht wohl jeder den Zeitpunkt, an dem die “Blumen des Bösen” nicht mehr so berauschend und verführerisch duften wie einst.
Von früher Kindheit an war Buttgereit besessen von den reißerischeren und trashigeren Angeboten der Popkultur, von Monsterfilmen, Horrorschund, von Godzilla, Superheldencomics und Bruce Lee, der ihn dazu animierte, Kampfsportunterricht zu nehmen. Später kommen die “Mitternachtsfilme” von John Waters und David Lynch hinzu. Er besucht Konzerte von Queen, Kiss und Led Zepellin, von DAF, Dead Kennedys und Throbbing Gristle.
Es ist eine Geschichte des besessenen Konsums von Filmen – im Kino, im Fernsehen, auf stark gekürzten Super-8-Kopien, auf Betamax- und VHS-Kassetten; von Konzerten, von Schallplatten, von obskuren Magazinen und anderen Schätzen des analogen Zeitalters, in deren Besitz zu gelangen es oft erheblichen Aufwands bedurfte. Die digitale Verfügbarkeit von allem und jedem via Internet hat einen wesentlichen Teil dieses Zaubers zerstört.
Auch in dieser Hinsicht löste Buttgereits Buch in mir nostalgische Gefühle aus, bis hin zum Phantomschmerz. Wer eine ähnliche Reise wie ich hinter sich hat, wird an ihm seine (zwiespältige) Freude und Faszination haben.
Jörg Buttgereit: Nicht jugendfrei! Tagebuch aus Westberlin, Martin Schmitz Verlag, Berlin 2023, 364 Seiten, 36,00 €.
Florian Sander
Herr Lichtmesz, warum eigentlich so oft dieser resignative Unterton?
Ich habe Ihre Konter in der Nahost-Debatte genossen und Ihre Empfehlungen hier machen mich als jemand, der ebenfalls Nähe zur "schwarzen Szene" hat, neugierig. Aber dann: "Ok, sicher nicht jedermanns Sache, aber vielleicht gibts ja wen, der was damit anfangen kann...", "Nicht das passendste zur Weihnachten, aber ok...", "Richtig gut, aber naja, heute im Internetzeitalter im Grunde auch nur noch nostalgisch, seufz".
Och Mensch. Jetzt begeistern Sie sich doch mal! Im Übrigen: Sooo sehr hat unser Zeitalter den Charme von damals auch nicht hinweggefegt, und es ist längst nicht alles heute immer überall verfügbar. Man kann vergangene Rebellionen und Revolten durchaus auch im Kontext ihrer Zeit genießen, anerkennen und einfach mal für sich stehen lassen.
Beste Grüße von einem bekennenden New Ager, der auch mal Räucherkerzen anzündet und Jung liest. :)