Nun. Als erstes stach mir, wenn ich es nicht mißverstanden habe, ein ziemlich deutlicher Widerspruch gleich zu Beginn des Artikels ins Auge. Er hebt an mit einer Grundsatzerklärung:
Magazinmacher sollten sich entscheiden, ob sie vorzugsweise aufklärerisch oder politisch tätig sein wollen; sonst sind ihre Produkte zwielichtig. Wir beide sehen uns in der Erkundungsbranche und lassen uns gern überraschen (…). Das unterscheidet uns von denen, die – wie die Häupter von Parteien, Szenen und Veranstaltungsbetrieben – auf die Erwartungen ihres Publikums Rücksicht nehmen müssen. Sie bewerten das Geschehen danach, ob es günstig oder ungünstig fürs Geschäft ist.
Schon diese Unterscheidung leuchtet mir nicht ein. Wenn das wirklich so ist, dann kenne ich eigentlich kein Magazin mit einer spezifischen politischen Ausrichtung (links, rechts, liberal, libertär…), das in diesem Sinne nicht “zwielichtig” wäre. Politische Parteinahme ist kein grundsätzlicher Gegensatz zu Aufklärung (und dies, seit es “Aufklärung” gibt), und idealerweise sollten ihr Klärung und Klarheit über eine bestimmte Lage vorangegangen sein.
Nachdem sich nun Böckelmann und Germis selbst zu den Aufklärern, nicht zu den Politikern bekannt haben, bemäkeln sie an Teilen des rechten Spektrums eine mangelhafte politische Parteinahme, nämlich für den Staat Israel.
Als die Mordbrenner, Kindermörder und Frauenschänder der Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel einfielen, reagierten die Wortführer des neurechten Mainstreams und der AfD hinhaltend – warteten erst einmal die weitere Entwicklung ab. Alles, was sie seitdem erklären, ist Ausdruck politischer Verlegenheit mit opportunistischem Beigeschmack. In dieser defensiven Haltung erkennen wir ein grundlegendes Defizit. Ausgerechnet vielen Vertretern des „nationalen Lagers“ scheint der Boden unter den Füßen fragwürdig oder beliebig geworden zu sein.
Leider nennen sie keine konkreten Beispiele, wer denn dieser “neurechte Mainstream” sein soll, und welche Kriterien man erfüllen muß, um innerhalb des Anti-Mainstream-Spektrums “Mainstream” zu sein.
Die Buhmänner, die sie kritisieren, beschwören “höchste Werte”, wie es sonst nur die schlimmsten Universalisten tun. Etwa Tino Chrupalla , der „Trauer um alle Kriegstoten“ bekundete und „Deeskalation“ forderte. “Man” warne “vor einseitiger Parteinahme und Stimmungsmache und vor der Ausweglosigkeit des Konflikts zwischen Islamisten und Zionisten”. “Man” bitte, “dem Bekenntnisdruck nicht nachzugeben und ins ‘Kriegsgeheul’ nicht einzustimmen.”
An den Bekenntnissen der Bundesregierung zum “Existenzrecht” Israels bemängeln Böckelmann und Germis, daß es sich hier um reinen “Gratismut” handle, ohne die Bereitschaft, für diese Staatsräson “ernsthaft militärisch für einstehen zu müssen”. Das Bekenntnis selbst sei also nicht das Problem, sondern lediglich seine mangelhaft radikale Umsetzung. Das entspricht Alexander Gaulands Stellungnahme von 2017 (die er später in Varianten wiederholte), Deutschland habe die “Verpflichtung, im Ernstfall einer existentiellen Bedrohung Israels an dessen Seite zu kämpfen und unter Umständen auch zu sterben.”
Denn der größere Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts sei ein “Krieg”, ein “Kampf der Kulturen, der auch in Europa ausgetragen wird”, dem man sich ohnehin nicht entziehen könne, der zu einem kommt, auch wenn man nicht hingehen möchte (ein Klassiker der zionistischen Propaganda, der das Ziel hat, Israels essentiell ethnonationalistische Kolonialpolitik zu verschleiern, samt allen Gewaltexzessen und Massenmorden an Zivilisten, wie es nun gerade wieder in Gaza der Fall ist – hier ein aktuelles Beispiel für dieses Genre aus der NZZ.)
Aus dieser Perspektive erscheint den Autoren das “Distanzgebot” wie ein feiges Ausweichen vor dem Unvermeidlichen, vor einer Entscheidung. Da ist von einem “lästigem Bekenntniszwang” die Rede, dem “selbsternannte Patrioten” zu entfliehen versuchen, indem sie sich hinter der Formel verstecken, “vorbehaltlose Unterstützung einer Kriegspartei sei ’nicht im deutschen Interesse’ ”.
Dabei schießen sie sich gleich im nächsten Satz ein Eigentor:
Das Argument ist jedoch ebenfalls Ausflucht, denn Deutschland ist derzeit in Kriegsfällen gar nicht imstande, seinen eigenen Interessen selbständig Geltung zu verschaffen. Militärisch ist es gleichsam nicht satisfaktionsfähig (bekommt jedoch Kriegsfolgen zu spüren).
Nun, wenn das so ist, dann braucht Israel, das bekanntlich eine äußerst einsatz- und satisfaktionsfähige Armee, Nuklearwaffen und die US-Militärmaschinerie im Rücken hat, keine deutschen Soldaten, die in Gaza oder vielleicht demnächst wieder auf der Sinai-Halbinsel für Großisrael “kämpfen und (unter Umständen auch) sterben”, aus welchen Gründen auch immer (“historische Verantwortung”, “Kampf der Kulturen” etc.)
Kubitschek hat genau das in seinem grundlegenden Beitrag zum Nahost-Konflikt ausgeführt:
Welche Konsequenzen sollte es haben, daß Deutschland fest an der Seite Israels stehe? Welche hatte es, seit Deutschland fest an der Seite des ukrainischen Volkes steht? Was folgt, wenn man sich verbal auf diese Weise hochgerissen hat? Es wird auch dieses Mal nicht zum Einsatz deutschen Soldatenlebens kommen, es kam in der Ukraine nicht dazu, und die “Kriegsmüdigkeit der Deutschen”, vor der die Außenministerin mit Blick auf die nachlassende Empathiedichte der Ukraine gegenüber warnte, ist eine Wendung, die dem Absurden und Peinlichen die Krone aufsetzte.
Wir dürfen uns mit Blick auf den israelischen Staat und die Verfaßtheit seines Volkes sicher sein, daß man die fest an der Seite herumstehenden Deutschen dort nicht braucht.
Ich weiß nicht genau, was das Stammpublikum von Tumult erwartet und ob diese Stellungnahme seiner Chefredakteure nun Leser vergrault hat und schlecht fürs Geschäft war. Offensichtlich ist hingegen, daß ein solcher Ruf der Lauwarmen an die Nahost-Front nicht mehr in die Erkundungs‑, sondern in die Bekenntnisbranche gehört. Dagegen wäre an sich nichts einzuwenden, etwas irritierend ist hingegen die Inkonsistenz der eigenen Argumentation und Selbstdarstellung.
Ich für meinen Teil möchte die Herren Böckelmann und Germis dazu einladen, sich doch einmal anzusehen und zu überdenken, was eben Götz Kubitschek und dann meine Wenigkeit (etwa hier und hier) über die Notwendigkeit eines eigenen Standpunkts angesichts des israelisch-palästinensischen Krieges geschrieben haben. Mich hat der Hamas-Angriff keineswegs “überrascht” (und den israelischen Tiefenstaat vermutlich auch nicht); meine Position betont ausdrücklich die Perspektive vom eigenen Boden (des “Jemeinigen”) aus.
“Der Kampf der Kulturen”, der angeblich in Gaza und Neukölln derselbe ist (in Wahrheit handelt sich hier um diametral entgegengesetzte Situationen, was ich auf dieser Seite unzählige Male zu begründen versucht habe), hat nun laut Böckelmann und Germis einen noch größeren Kontext, bzw. “Subtext”:
Dieser tritt zutage, wenn die Vorsitzenden der Friedenspartei AfD auf die neue „multipolare Weltordnung“ verweisen und Russland, China und Iran bzw. die BRICS-Staaten als Kontrahenten der USA anführen, aber das Potenzial eines Großraums Europa unerwähnt lassen. Die Berufung auf die – vernachlässigten – deutschen Interessen wirbt somit unausgesprochen für eine Allianz mit Russland, mittelbar auch mit China, gegen die entthronte globale Hegemonialmacht USA. Das ist gefährlich: Unter einem neuen Oberherrn, sei es nun Russland oder China, würde sich am Vasallenstatus Deutschlands nichts ändern.
Das ist gewiß ein berechtigter Einwand, über den man an dieser Stelle nicht viele Worte verlieren muß. Viele, die der Hegemonialmacht USA feindselig gegenüberstehen, tendieren dazu, deren geopolitische Gegenspieler zu idealisieren und sie als Projektionsflächen zu benutzen. Und ich kenne nicht wenige, die argumentieren, daß eine Anlehnung an die östlichen Hegemonen (in spe) zuallermindest das kleinere Übel wäre. Ein tatsächlich souveränes Deutschland, das jeglichen Vasallenstatus abgeschüttelt habe, sei ohnehin vorerst nicht denkbar oder in utopischer Ferne.
Aber wenn nun etwa Jürgen Elsässer, von Böckelmann und Germis als Beweisstück der Anklage zitiert, feststellt, „Putin macht alles, was im Westen mittlerweile verteufelt und unterdrückt wird”, dann ist das, unabhängig davon, ob man dies bewundert oder ablehnt oder mit Skepsis betrachtet, eine sachliche Feststellung, und keineswegs per se eine Artikulation einer “bodenlosen, geschichtsvergessenen, geradezu postmodernen Rechten.”
Zu diesen angeblich “postmodernen” Rechten (“postmodern” meint wohl so etwas wie intellektuell bloß spielend, abstrakt konstruierend, mit beliebig herumfliegenden Versatzstücken, die einem einfach mal so einfallen; oder vielleicht auch alles, was das Primat der “Aufklärung” und des Liberalismus in Frage stellt) zählen die Autoren auch diese Netzseite:
Postmoderne Rechte legen auf multipolar, gegenstrom.org, Manova, Sezession im Netz und anderswo vergleichende Expertisen über die ökonomischen und militärischen Potenziale Russlands und der Ukraine vor – als schwebten sie in einer neutralen Analyseplattform über der Erde und als finde der Krieg nicht beim übernächsten Nachbarn, sondern in Vorderasien oder im Maghreb statt.
Hier folgt erneut dasselbe strukturelle Argument wie angesichts Israel-Gaza (ein Krieg, der in Vorderasien stattfindet, uns aber trotzdem interessieren soll): Man wolle hier einem Krieg ausweichen, der nicht nur der Ukraine erklärt worden sei, sondern “per proxy” auch Deutschland selbst, weshalb mangelnde Parteinahmefreudigkeit für dieses Land als Zeichen eines luftleeren, schwächlichen, realitätsflüchtigen Intellektualismus (oder so ähnlich) zu werten ist.
Das kann man jedoch nur behaupten, wenn man Argumente der Kritiker der westlichen Seite des Krieges verzerrend darstellt. Das tun Böckelmann und Germis nun aber komischerweise nicht, sondern referieren recht korrekt:
Der Ukraine selbst wird nicht die Bedeutung eines eigenständigen politischen Faktors zuerkannt. Die Volkssouveränität spielt keine Rolle, die Ukraine wird als „Bauer im hegemonialen Schachspiel“ abgetan, künstlich beatmet von knapp gehaltener US-amerikanischer Pressluft – letztlich vom Profitinteresse der Rüstungskonzerne und jener, die ukrainisches Lithium für die grüne Energiewende benötigen.
Die gängige Rede vom „Stellvertreterkrieg“ besagt ja, dass die Ukrainer nicht einmal für sich selbst kämpfen. Die USA, heißt es, opferten bedenkenlos Hunderttausende, um Russland zu schwächen; Russland wiederum wolle und könne es nicht zulassen, dass die westliche Einflusszone um das Gebiet der Ukraine erweitert werde. Und auch Deutschland sei nur ein Spielball der US-amerikanischen Geopolitik.
Well. Ungefähr so sehe ich es auch. Es handelt um einen schändlichen, vorsätzlich eingefädelten Krieg, in dem hunderttausende Russen und Ukrainer sinnlos durch den Fleischwolf gedreht wurden und werden, und für den die NATO unter US-Führung eine wesentliche Verantwortung trägt. Ich mag mich irren. Aber das hat nichts mit der “Postmoderne” oder mit yogischem Fliegen zu tun, sondern mit den mir zugänglichen Fakten, gewonnen aus einer Analyse dieser Fakten (das nenne ich “Aufklärung”).
Der Appell von Böckelmann und Germis läuft also in diesem spezifischen Punkt darauf hinaus, als getreue Vasallen entschieden die Außen- und Geopolitik des amerikanischen Imperiums zu unterstützen, in der Ukraine ebenso wie in Israel-Palästina. Wer das nicht tue, sei eben “postmodern” (ein Wort, das ihnen so gut gefällt, daß sie es viermal wiederholen) oder bewege sich im “politischen Wolkenkuckucksheim”.
Diese Ansicht ist gewiß nicht “Mainstream” im rechten Mainstream, aber im echten Mainstream. Insofern haben wir es hier eher mit einer Konsensaffirmation als einer ‑störung zu tun, sind doch die Autoren damit mehr oder weniger auf einer Linie mit Baerbock und Scholz. (Wer hat denn übrigens, denken sie, die Nord Stream-Pipelines gesprengt?).
Der Grund scheint zu sein, daß sie sich von einem “europäischen Trutz- und Schutzbündnis”, das sich logischerweise unter dem Dach der NATO bilden müßte, in gemeinsamer Opposition zu Rußland und (ich vermute mal) “dem Islam” (“Kampf der Kulturen” und so), die Rettung oder “besser gesagt” Erneuerung der “Identität Deutschlands” erhoffen. Sie malen einen pan-europäischen Traum aus, natürlich streng auf dem Boden der harten Tatsachen, ohne eine Spur von postmoderner Wolkenkuckuckerei:
… die Widerstand leistenden Ukrainer sind nicht irgendeine ferne Kriegspartei. Sie sind unsere Leute, unter geopolitischen Aspekten und nach allem Augenschein. Und die Griechen, Rumänen, Kroaten, Polen, Litauer, Finnen, Schweden, Iren, Schotten, Niederländer, Franzosen, Italiener, Katalanen und Portugiesen rücken uns in der globalen Neuordnung so nahe wie im 19. Jahrhundert den Schwaben und Sachsen die anderen deutschen Stämme.
Ich für meinen Teil schaue mir Europa an und ich kann beim besten Willen nichts dergleichen erkennen.
Der Buhmann des russischen Bären hat in keiner Weise zu einem Zusammenrücken “unserer Leute” von Lissabon bis Helsinki geführt (in Osteuropa mag das anders aussehen, was die USA nach Kräften ausnützen und anstacheln). Die Unterstützung oder das Interesse der europäischen Völker für den “Stellvertreterkrieg” und den ukrainischen Nationalismus ist trotz allem Propagandagedöns gering und schwindet immer mehr dahin, während auch ihre Regierungen nur mehr halbherzig dahinterstehen.
Die Panikmache vor Putin und den russischen Barbaren lief weitgehend ins Leere, ermüdete, wie alle Pressekampagnen es eines Tages tun, um vom nächsten “current thing” abgelöst zu werden. An einen ukrainischen “Sieg” (was auch immer man darunter verstehen mag), glaubt offenbar auch die Biden-Regierung, die Selenskyj zunehmend im Stich läßt, schon lange nicht mehr.
Eine Hoffnung sehen die Autoren aber noch, nämlich in einer fundamentalen Krise, die die Europäer zum Zusammenrücken zwingen könnte:
Zu einer glaubwürdig wehrhaften Allianz finden die europäischen Eigenbrötler erst in einer abgründigen Notlage zusammen – angesichts potenzierter Massenmigration oder im Wohlstandsabsturz oder in Erwartung weiterer russischer Invasionen, vor allem aber in der Erfahrung, alleingelassen zu werden. Dass eine solche Situation eintritt, ist kaum noch abzuwenden. Am Abgrund, vorher nicht, werden sich die europäischen Solisten dazu überwinden, ihre Kräfte zu bündeln, um in der multipolaren Weltordnung selbst Machtpol zu sein. Einen eigenen deutschen Weg kann es dabei nicht mehr geben.
“Potenzierte Massenmigration”, “Wohlstandsabsturz” oder Antagonismus zu Rußland sind jedoch in letzter Konsequenz Folgen der US-amerikanischen Hegemonie und ihrer globalistischen Doktrinen. Man muß sich also klar werden, wer der Bock ist und wer der Gärtner sein könnte.
Aber auch, was nun überhaupt der Garten und wo der Boden ist. Böckelmann und Germis betonen, daß das Europa, das sie meinen, natürlich nicht der EU entspräche. Sie wollen stattdessen einem “realistischen Europäertum” das Wort reden, ein Begriff, den sie dem Philosophen Hugo Fischer aus dem Kreis um Ernst Jünger entlehnt haben. Dieser europäische Realist unterscheidet sich
vom Nationalisten und vom Einheits-Weltbürger dadurch (…), dass er sich – wie Fischer es nannte – „in der Mitte des Europäischen“ bewegt: die innereuropäischen Rivalitäten aushält, ja in gewisser Weise bewahrt, aber den Zwang zu gemeinsamer Selbstbehauptung als Gründungsereignis begrüßt.
In einer “Zeit der Massenmigrationsbewegungen, der Rückkehr zwischenstaatlicher Kriege und des neuen wirtschaftlichen Protektionismus” hieße das für “die europäischen Länder, koordiniert von Deutschland, Frankreich, Polen und Italien”, in einen “Wirtschaftskriegsmodus” zu gehen. Das bedeutet, die europäischen Nationen müssen “die Abhängigkeit von China und den USA weitmöglichst reduzieren”,
ihren Energiebedarf tatsächlich gemeinsam decken und eine harte europäische Währung gegen den Dollar subventionieren. Im neuen antiimperialistischen Kampf haben sie keine andere Wahl, als das Volumen ihrer Rüstungsaufträge drastisch zu erweitern und diese fortan europäischen Firmen zu erteilen (somit die Bevorzugung US-amerikanischer Lieferanten zu beenden) und die eigenen Interessen robust zu verteidigen.
Immerhin! Sie haben die Kurve gekratzt, und plädieren dafür, den “Trabantenstatus gegenüber den USA” abzuschütteln und “anstatt abstrakter Menschheitsideale wieder die Interessen seiner eigenen Völker” zu vertreten. Dazu müßte aber auch das politische System “Westen” abgeschüttelt werden, das sich in Europa hineingefressen hat wie eine Säure oder ein Krebsgeschwür, allerdings auch in seinen eigenen Laboratorien entstanden ist, nicht zuletzt in jenen der Aufklärung.
Was aber soll an seine Stelle treten? Es ist kein Wunder, wenn nun manche angesichts dieses Vakuums Richtung Rußland, China oder Türkei schielen, wie es dort gemacht wird.
Ich selbst, “guter Europäer”, der ich aus (romantischer?) Überzeugung bin, halte eine “wehrhafte Allianz” der “europäischen Eigenbrötler” für durchaus wünschenswert, aber nicht für besonders realistisch.
Das alternative Europa, das sich Böckelmann und Germis hier ausmalen, gefällt mir gut, es ist sogar sehr schön, nicht weniger schön als die Idee einer “Eurasischen Union” als alternatives Europa mit eigenen „kulturellen und politischen Standards“, wie sie Hauke Ritz 2014 auf Telepolis in einem Interview beschrieb. Darin erblicken die Tumult-Chefredakteure nach Elsässer ein weiteres Beispiel für eine “bodenlose, geschichtsvergessene, geradezu postmoderne Rechte, der völlig aus dem Blick gerät, wo sie selbst herkommt und ihren Verständnisrahmen hat.”
Aber warum eigentlich? Was finden sie an dieser Darstellung so anstößig? Daß sich dieses Gebilde, das seit 2014 auch tatsächlich existiert, als “europäisch” verstehen könnte? Es hat sich, ganz ohne Zutun des Ritz (seit wann ist er “rechts”?), der er es lediglich in einem Interview “präsentiert” hat (wie Böckelmann und Germis formulieren), im “postsowjetischen Raum” konstituiert, in dem die Idee einer solchen Wirtschaftsgemeinschaft keineswegs bodenlos, geschichtsvergessen oder postmodern, sondern ganz im Gegenteil eine realistische, naheliegende und historisch präfigurierte Option war.
Letzteres kann man von ihrem von Deutschland, Frankreich, Polen und Italien (Mitte, Westen, Osten, Süden, wer vertritt den Norden?) “koordinierten” Wunscheuropa im Wirtschaftskriegsmodus gegen Ost und West, in dem die Rolle des Binnenhegemons offenbar demokratisch aufgeteilt wird, nun wirklich nicht behaupten. Wo soll man da anfangen? Darf man eine solche Vision auch “postmodern” oder “bodenlos” oder “geschichtsvergessen” nennen? Mir würden Gründe dafür einfallen.
Es ist auch nicht einzusehen, was ein solches Projekt mit einer Parteinahme (bis hin zum “Sterben”) für Israel zu tun haben soll, einem der virulentesten Vorposten des amerikanischen Imperialismus, von dessen Gedeihen es abhängig ist. Ein ernsthafter “antiimperialistischer Kampf” um die Souveränität Europas müßte also auch zu einer Distanzierung von Israel führen. Ich vermute, daß hier mangelnde Einsicht über die Rolle des Zionismus in der amerikanischen Außenpolitik eine Rolle spielt (nachzulesen etwa bei Walt und Mearsheimer.)
Und es bleibt auch unklar, wie das nun alles zusammenpassen soll mit den eher vagen, auf Strohmänner angewiesenen Seitenhieben ins eigene Spektrum, die dem Artikel als Aufhänger (wenn nicht gar “Clickbait”) und Würze dienen. Ich hätte den Autoren empfohlen, ihren Text noch ein bißchen liegenzulassen und zu überdenken.
Laurenz
@ML
Ich gehe davon aus, daß Sie, vielleicht im Sinne der Redaktion, Stellung bezogen haben, weil die SiN im Text, wie auch die AfD, benannt wurde. Für meinen Geschmack sind Sie mit diesen beiden Herren noch viel zu wohlwollend umgegangen. Hackt hier die eine Krähe der anderen kein Auge aus? Im Grunde Zeitverschwendung. Was beiden Autoren völlig abgeht, ist das Bewußtsein für die geo-politische Situation Deutschlands, die sich quasi seit über 100 Jahren kaum verändert hat, außer die Abschaffung unserer militärischen Option, die wir durch Tributleistungen an unsere Nachbarn ersetzt haben. Hier sind beide Autoren in keiner Weise satisfaktionsfähig. Nachwievor sind wir durch unsere Nachbarn, wie in 2 Weltkriegen erlebt, militärisch bedroht. Die Sprengköpfe der Force de Frappe sind nachwievor auf uns gerichtet. Es existiert kein politisches Europa, Romantik hin oder her. So leicht, wie die USA den Regime-Wechsel in der Ukraine mit anschließendem Krieg vom Zaun brechen konnten, so leicht können sie das auch bei uns. Die AfD-Granden sagen doch nichts anderes, als Germany first, was erstmal heißt ideologie-befreiter Handel mit allen & Deine Baustelle ist nicht unsere Baustelle. Macht Israel übrigens auch nicht anders.