Unter dem rhetorischen Titel „Wo stehen die Waldorfschulen politisch? Rechts, links oder in der Mitte“ versuchen die Offiziellen in der „Erziehungskunst“, dem Organ des Waldorfbundes Deutschland, nun nicht einmal mehr, mit der Mitte zu liebäugeln. Jahrelang, jahrzehntelang, wünschten sie sich nichts sehnlicher.
Waldorfschulen sind linksaußen angekommen, politisch vereindeutigt, reduziert auf ein Gegnerabwehrprogramm. Barkhoff und ich sind „hinreichend verlässliche Informationen“ dafür, daß man aufrüsten muß in Sachen Spaltung der Gesellschaft.
Die im trauten Dreierkreis einander interviewenden Herren vom „Arbeitskreis Waldorfschulen gegen Rechts“ behaupten auf dieser Grundlage und aufgrund uns kollokativ-kontaminierend zugerechneter Fälle von „Neonazi“-Kindern aus den 90ern, daß Waldorf nicht mit „Rechts“ vereinbar sei. Nicht zu vergessen: die „Reichsbürger“ geben ebenfalls Anlaß zu großer Sorge, waren Henning Kullack-Ublick vom Waldorfbund Deutschland gar eine eigene Reichsbürgerbroschüre wert.
Dies also das Gefahrenabwehrszenario. Linksextremismus gibt ihnen explizit keinen Anlaß zur Sorge. Und in „Auseinandersetzungen mit Eltern islamischer Religionsgemeinschaften“ handelt es sich gleichfalls lediglich um „Beschulungsprobleme“, die aber „keine Unterwanderung oder Politisierung von Schule bedeuten“. Haltet den Dieb!
„Die Gefahr der Entdifferenzierung, der Politisierung des gesamten Kommunikationswesens ist in der gesellschaftlichen Emanzipation und Autonomsetzung des politischen Systems angelegt, ist mithin ein Merkmal des Differenzierungsprozesses selbst. Die ausdifferenzierte politische Ordnung weist Tendenzen zur Unstabilität auf, nämlich durch
- die Unbestimmtheit dessen, was ein politisch entscheidungsbedürftiges Problem werden kann. Die politische Funktion ist keine inhaltlich fest umrissene Sachaufgabe, sondern ihre Thematik hängt davon ab, welche Probleme jeweils politisiert werden, weil keine besseren Lösungen institutionalisiert sind.
- Die Zentralisierung der verbindlichen Macht zu legitimem Entscheiden
- die Generalisierung dieser Macht, ihre Verwendbarkeit für viele und auswechselbare Zwecke
- die Abstrahierung einer politischen Sondersprache, in die Erwägungen anderer politischer Sphären erst übersetzt werden müssen, um politisches Gewicht zu erhalten (…).“
(Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, 1981)
Politik hat eine Tendenz, auf andere soziale Systeme auszugreifen, sie sich einzuverleiben, sie sich gefügig zu machen. Das liegt am Code der Politik selbst: Macht/Ohnmacht. Der Versuch, das politische System selber auf den Machtpol zu setzen, und in der Folge Macht ausüben zu können über die Kommunikation anderer gesellschaftlicher Teilsysteme ist mithin schon im Politischen angelegt.
Das „Politisieren“ unterschiedlicher Probleme, für die es vorderhand keine besseren Lösungen gibt, ist also einerseits völlig normal und geschieht in der Gesellschaft andauernd, andererseits ist es nichtsdestoweniger ein Fehler im System. Wenn nämlich, wie Luhmann ausführt, Macht zentralisiert ist (in totalitären Systemen ist das ein typischer Zug), und sprachlich sowohl generalisiert ist (alles mögliche ist plötzlich „politisch“), als auch zu einer Sondersprache (dem Unwörter-Begriffsrepertoire, das Manfred Kleine-Hartlage in „Die Sprache der BRD“ beschrieben hat) mutiert ist, entsteht eine zugespitzte Problemsituation.
Dann nämlich kann eine Schulform, die ja per se Teil des Erziehungssystems ist, sich vorauseilend politisch definieren. Sie braucht dann nur noch an der zentralisierten Macht zu hängen und sich der ubiquitären politischen Sprache und ihrem antifaschistischen Schlagwörterspiel anzubequemen, et voilà: „Waldorfschulen gegen Rechts“.
Rudolf Stichweh, seinerseits Luhmannschüler, hat solcherlei Entwicklungen „Fundamentalismus“ genannt. Fundamentalismus sei der Versuch, „Übersichtlichkeit und Ordnung dadurch wiederherzustellen, daß man behauptet, eines der Funktionssysteme sei viel wichtiger als die anderen, und folglich sei von diesem einen Funktionssystem die Entwicklung der Gesellschaft zu steuern“. Ein solcher Fundamentalismus liegt vor, wenn das Erziehungssystem von der Politik und diese wiederum von der Wirtschaft gesteuert wird.
Erziehung hat dann als System aufgehört zu existieren, es werden nur noch übriggebliebene Programme abgespult, ähnlich einem längst erloschenen Stern, dessen Licht wir noch sehen. Dann kommt es zu einer Konstellation, in der Erziehung nicht länger ohne den Fremdcode Macht/Ohnmacht bestehen kann, und sich daher selbst politisiert.
Doch der Waldorfbund bräuchte nicht einmal in die Ferne der luhmannschen Systemtheorie zu schweifen, um zu erkennen, daß der politische Fundamentalismus eine Gefahr für ihre Schulen darstellt. Rudolf Steiners Ideen zur „Dreigliederung“ der Gesellschaft sind im Grunde Protosystemtheorie (beide kommen vom selben Organismusgedanken des Deutschen Idealismus her, den sie auf das Soziale übertragen haben).
Bei Steiner heißt es, erst in ihrer durchgreifenden funktionalen Trennung, ohne daß ein Gebiet in das andere in unberechtigter Weise eingreife und dadurch zu sozialen Komplikationen führe, könnten die drei funktionalen Teilsysteme des „sozialen Organismus“ ihre eigenen Kräfte voll entfalten.
In seinem Vortrag zur „Zusammenwirkung des Geistes‑, Rechts- und Wirtschaftslebens zum einheitlichen dreigegliederten sozialen Organismus“ sprach Steiner 1919 davon, das freie „Geistesleben in seiner Selbständigkeit, das Rechtsleben in seiner Selbständigkeit, in seiner Losgelöstheit vom Wirtschaftsorganismus, und die freie Ausgestaltung der Wirtschaftsorganisation als eine solche“ nicht erst als Sozialutopie einführen, sondern jederzeit beobachten zu können.
Das „freie Geistesleben“ umfaßt Bildung, Kunst, Religion, und ist wie ein anderer Körperteil im Organismus auch für genuin andere Aufgaben zuständig als die Politik, die für ihn in das Rechtsleben gehört. Steiner hat es gewußt, seine Adepten betrügen ihn und sich selber, weil sie aus machtpolitischen Motiven handeln.
In Hamburg hat die AfD kürzlich eine „Aktion neutrale Schule“ ins Leben gerufen. Wenn Lehrer mit T‑Shirts mit dem Aufdruck „FCK AFD“ zum Unterricht erscheinen, oder eine ganze Schule sich zum Gruppenfoto für „#wirsindmehr“ aufzustellen hat, verletzt dies das Neutralitätsgebot, das im Grundgesetz für staatliche Institutionen und deren Vertreter gilt, mithin auch für öffentliche Schulen und ihre Lehrer (zur Klarstellung: für Waldorfschulen nicht, da sie Privatschulen sind).
Auf der Ebene ausgleichender Gerechtigkeit im politischen Leben ist diese Aktion notwendig und ein sinnvolles Korrektiv. Doch dem politischen Fundamentalismus im Erziehungssystem kann sie nicht beikommen, so sehr auch das Grundgesetz bemüht wird und der „Beutelsbacher Konsens“.
Das Problem „Übersichtlichkeit und Ordnung dadurch wiederherzustellen, daß man behauptet, eines der Funktionssysteme sei viel wichtiger als die anderen, und folglich sei von diesem einen Funktionssystem die Entwicklung der Gesellschaft zu steuern“, liegt viel tiefer. Politik will Erziehung steuern, das Erziehungssystem wehrt sich daher vergeblich mit Mitteln der Politik. Denn „die Generalisierung dieser Macht, ihre Verwendbarkeit für viele und auswechselbare Zwecke“ (Luhmann) ist der angestrebten „neutralen Schule“ vorgeordnet.
Waldorfschulen können überhaupt nicht „politisch neutral“ sein, sie sollten es auch gar nicht wollen, sie sollen „freies Geistesleben“ sein wollen. Die Fragestellung, ob sie „rechts, links oder in der Mitte“ stünden, zeigt, daß sie sich allzu gern steuern lassen wollen, um mit Stichweh gesprochen „Übersichtlichkeit und Ordnung wiederherzustellen“. Hier kommt endlich einmal das zum Tragen, was Armin Nassehi niemals müde wird zu wiederholen: der Ausdifferenzierung der Gesellschaft kann nicht durch Komplexitätsreduktion Einhalt geboten werden. Auch nicht durch jene der „Waldorfschulen gegen Rechts“.
Carlos Verastegui
Mit Luhmann kann ich auch immer weniger anfangen. Allein die "Sprache" tut weh: Gleich drei Mal ist "-(D)ifferenzzierung" enthalten! Der Formalismus der angebliche wertfreien "Sprache" ist so weit getrieben, dass alles inhaltsleer wird. Abstraktion und Generalisierung sind schöne Sachen, mit ihnen kann aber auch viel Missbrauch getrieben werden. Werden sie beim Wort genommen und nicht mehr als Verständnismittel, sondern als angemessen kodifiziertes Verständnis selbst angesehen, führen sie ins Verständnisnirgenwo. Sie sind absurd. Wie verhält sich "Ordnung" zum "System", oder sind nur das zwei verschiedene Wörter für das Gleiche? Oder ist es das Gleiche, nur auf zwei verschiedenen Ebenen? Was genau ist mit "Differenzierung" gemeint, was mit "Politik", "Politisierung", "politisch"? Was hat hier die "gesellschaftliche Emanzipation" - was das auch immer sein soll - zu suchen, und, wie verhält sie sich zur "Autonomsetzung" des von wenigstens mir noch unverstandenen "politischen Systems"? Was für eine "Stabilität" bzw. "Unstabilität" wird da und aus welchen Gründen vorausgesetzt? Was ist damit überhaupt gemeint? Und warum eigentlich nur "Tendenzen"? Vielleicht weil das Wort "stabil" in vollem Wortsinne unangemessen ist? Dann war die Sprache von anfang an falsch gewählt, die Theorie, auf schiefen Grund gebaut, hinkt. Das alles ist viel zu furchtbar, als dass man damit irgendetwas Sinnvolles anfangen könnte. Vielleicht aber bietet sich Luhmann auch nur deswegen an, weil Luhmann selbstredend neutral besetzt, Carl Schmitt hingegen politisch genau verortet zu sein scheint. Anhand von Carl Schmitt nämlich kann zumindest ich den Sachverhalt sehr gut verstehen. Oder auch Max Weber. Schulen erziehen aufgrund anerkannter Wertvoraussetzungen, können dashalb nicht neutral sein, jede Bildungs- und Erziehungsanstalt erzieht im Sinne desjenigen Typus, den sie als für "ihre Gesellschaft" repräsentativ und zudem - Achtung! - SYSTEMERHALTEND erachtet. Der Typus selbst ergibt sich aus einem grundsätzlich politischen Auftrag, welcher auch stillschweigend oder kamoufliert sein kann, meistens aber eine Direktive ist, solche Menschen hervorzbringen. Warum sollten sich die Waldorfschulen der Heranziehung des politisch und sozial von den Machthabern intendierten Menschenschlags enthalt? Vor allem, wenn wir das derzeit wirksame politische und soziale "System"berücksichtigen. Sogar konfessionelle Schulen müssen sich ihm beugen, nur eine Sektenerziehung könnte sich ihm entziehen.