In der NZZ (v. 10.5.2021) heißt es im Beitrag Niklaus Nuspligers dazu:
Nach der langwierigen Auszählung der Stimmen stand am Samstagabend fest, dass die Scottish National Party (SNP) mit 64 Mandaten einen deutlichen Sieg errungen hat, aber ihr Ziel, aus eigener Kraft mehr als die Hälfte der 129 Parlamentsmandate zu erringen, um einen Sitz verfehlte.
Die SNP konnte ja im Vorfeld der Wahlen tatsächlich davon ausgehen, daß ihnen die alleinige absolute Mehrheit zufallen würde. Das Ergebnis der SNP ist demzufolge zwar ein Erfolg, aber einer mit Einschränkungen:
Einerseits ist die Forderung nach einer Neuauflage des Unabhängigkeitsreferendums von 2014 ohne absolute Mehrheit politisch weniger zwingend. Andererseits aber ist das gesamte Lager der Unabhängigkeitsbefürworter im neuen Parlament klar in der Mehrheit, da sich die Grünen, die ebenfalls ein Referendum befürworten, von 6 auf 8 Sitze verbesserten. Zur stärksten Oppositionskraft avancierten erneut die Konservativen mit 31 Sitzen vor Labour mit 22 Mandaten, während die Liberaldemokraten auf 4 Sitze kamen. Der Alba-Partei von Sturgeons Vorgänger Alex Salmond missglückte der Einzug ins Parlament.
Eine Rechtspartei existiert nicht, weshalb man von einem weiteren Linksruck der schottischen Politik ausgehen kann, zumal die Grünen-ähnlichen schottischen »Nationalisten« nun auch offen mit den Original-Grünen regieren zu beabsichtigen; der entsprechende Zeitgeist weht dort heftig (– ein wenig »Off Topic«, zugegeben, aber so schaut es übrigens aus, wenn Schotten eine Abschiebung verhindern):
Sturgeon, die ihr Direktmandat im Süden Glasgows klar verteidigte, machte bereits am Samstagabend deutlich, dass sie in der gemeinsamen Parlamentsmehrheit mit den Grünen ein «klares demokratisches Mandat» für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum im Verlauf der neuen Legislatur erkennt.
So einfach ist es aber nicht im Vereinigten Königreich:
Doch eine rechtmässige Volksabstimmung ist nur nach Zustimmung der Zentralregierung in London möglich. Noch bevor die Resultate aus Schottland überhaupt vorlagen, liess Boris Johnson am Samstag über den «Daily Telegraph» verlauten, dass er einen Urnengang nicht zu erlauben gedenke. «Ein Referendum im derzeitigen Kontext wäre unverantwortlich und verwegen», erklärte er.
Auch nach dem Brexit kehrt also auf der Insel keine Ruhe ein:
Ein Nein von Johnson wollen die SNP und die Grünen daher nicht einfach akzeptieren. Zwar erklärte auch Sturgeon, zunächst gelte es die Corona-Krise zu bewältigen. Doch signalisierte sie am Sonntag in der BBC, dass sie bereits 2022 ein Gesetz über die Abhaltung eines rechtskräftigen Referendums ins Regionalparlament in Edinburg schicken könnte. In der Folge wäre es laut Sturgeon an der Regierung in Westminster, rechtlich gegen diesen Schritt vorzugehen und die Regionalregierung vor den britischen Supreme Court zu ziehen. Das von Sturgeon skizzierte Vorgehen wäre politisch riskant und rechtlich umstritten, aber da Grossbritannien keine geschriebene Verfassung kennt, ist der genaue Weg für eine allfällige schottische Unabhängigkeit nicht in Stein gemeisselt.
Fakt ist, daß die SNP noch keinen präzisen Plan zu einem unabhängigen Schottland vorlegen kann, weshalb es denkbar ist,
dass die Zustimmung zur Unabhängigkeit abnehmen würde, sobald die SNP genaue Pläne zur Finanzierung des Staatshaushalts, zu einem allfälligen EU-Beitritt oder zum Umgang der Grenze zu England vorlegen müsste. Ein rasches Referendum wäre daher für die SNP auch mit erheblichen Risiken verbunden, während sie von einer Verweigerungshaltung Westminsters politisch profitieren könnte.
Es bleibt also spannend.
– –
Unerwartet spannend gestaltet sich auch die Situation in Ungarn. Meret Baumann verkündet in der NZZ (v. 12.5.2021) ohne große Übertreibung: »Orban muss um die Macht zittern«. Tatsächlich haben sich – unter wesentlicher Beteiligung der ehemaligen Rechtspartei Jobbik – sechs Parteien Ende Dezember 2020 auf ein 13-Punkte-Programm geeinigt, mit dem man als gemeinsame Wahlliste in den Wahlkampf 2022 ziehen möchte (mehr dazu hier).
Unterdessen hat sich die Coronalage einigermaßen verschärft; vor allem aufgrund diverser Mißstände im Gesundheitssektor wächst in Teilen des Volkes die Ablehnung der Regierung. Wie in den meisten EU-Ländern sieht man die »Durchimpfung« als effektivste Lösung:
Der Regierungschef hofft nun auf eine erfolgreiche Fortsetzung der bisher beeindruckend verlaufenen Impfkampagne. Nur so kann die Wirtschaft den von der Pandemie verursachten Einbruch rechtzeitig vor der Parlamentswahl in einem Jahr wettmachen, was für Orbans Partei Fidesz von fundamentaler Bedeutung ist. Denn erstmals seit 2010 muss sie ernsthaft um ihre Vorherrschaft fürchten.
Bisher profitierte die einzige Volkspartei Ungarns von der Zersplitterung der einzelnen Lager:
Der Fidesz positionierte sich als «zentrales Kraftfeld» in der Mitte und spekulierte darauf, dass die zersplitterte Linke und die extreme Rechte bei einem wenig wahrscheinlichen Zusammengehen gefährlich werden könnten, aber niemals getrennt. Diese Wette ging auf und bescherte Orban 2014 und 2018 jeweils mit weniger als der Hälfte der Stimmen Zweidrittelmehrheiten im Parlament.
Das hat sich, siehe oben, mit dem erst strategischen, dann mittlerweile auch inhaltlichen Linksrutsch Jobbiks verändert; die Allparteien-Allianz gegen Orbán steht einstweilen und weiß sich in gefälligem Regime-Change-Sound Verhör zu schaffen:
Die dreizehn Punkte für einen «Epochenwandel», auf die man sich verständigt hat, sind denn auch sehr grundsätzlich und umfassen die Stärkung der unabhängigen Justiz und der freien Presse, Transparenz, eine neue Verfassung und eine Reform der Wahlgesetze. Vertreter der Allianz verglichen diese mit dem runden Tisch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, nur dass es diesmal um die Dekonstruktion des Orban-Regimes gehe.
Es gehört schon einige Chuzpe dazu, den historischen Fall der realsozialistischen Diktatur mit einem möglichen Fall einer demokratisch wiederholt gewählten Regierung zu parallelisieren, aber Rasseln gehört wohl zum Geschäft. Kann Jobbik, das trotz seiner kleinen Rechtsabspaltung Mi Hazánk Mozgalom (in Umfragen: 1 Prozent) noch einige Kader der »alten« nationalistischen Rechten mit entsprechenden Lebensläufen aufstellt, wirklich mit Grünen und Linkssozialisten zusammengehen?
Ja, meint Baumann:
Dass eine solche Koalition trotz allen inhaltlichen Differenzen bestehen kann, haben die Kommunalwahlen vor anderthalb Jahren gezeigt. Damals gelang es der Opposition überraschend, zehn der grössten ungarischen Städte zu erobern, darunter mit Budapest die mit Abstand bedeutendste.
Die Verantwortung schiebt die Korrespondentin Orbán höchstpersönlich zu, dessen Reform des Wahlgesetzes seine unterschiedlichen Gegner in eine gemeinsame Front stellte:
Es lässt landesweite Listen nur noch für Parteien zu, die in mindestens 50 der 106 Einerwahlkreise einen Kandidaten aufstellen. Das verunmöglichte die bisherige Taktik der Opposition, mit separaten Listen anzutreten, aber sich für die Direktmandate abzusprechen und nicht zu konkurrenzieren. Ein solches System fordert eine bipolare Parteienlandschaft mit zwei klaren nationalen Alternativen. Erstmals spielt die ungarische Opposition nun nach diesen von Orban geschaffenen Regeln, die sich gegen ihn wenden könnten, wenn im nächsten Frühling eine Wechselstimmung herrschte. Das ist zum jetzigen Zeitpunkt zwar spekulativ, aber keineswegs ausgeschlossen. In den Umfragen führt die vereinigte Opposition seit Wochen, wenn auch hauchdünn.
Interessant ist das sogenannte Framing, mit der der überwiegend Orbán-kritischen Leserschaft die Querfront zwischen Postkommunisten, Linkssozialisten, Grünen, Liberalen und eben Jobbik schmackhaft gemacht werden soll; Orbáns Ungarn erscheint geradezu als Diktatur, die endlich überwunden werden müßte.
Das Bündnis von ganz links bis ganz rechts ist ein Akt der Vernunft, aber auch der Verzweiflung.
Letztere dürfte zunehmen, wenn man ernstlich Wahlsieger würde und es an die Kabinettbildung ginge. Mit reiner Anti-Orbán-Demagogie läßt sich kein Land regieren.
– –
Regieren: Das wollen bald auch die bundesdeutschen Grünen. Moritz Gathmann und Alexander Marguier fragen daher in der Titelstory des Mai-Cicero (5/2021): »Würden Sie dieser Frau Ihr Land anvertrauen?«
Es geht, natürlich, um Annalena Baerbock und die ersten der 12 Seiten Text beschreiben einigermaßen erwartbar die Geschichte der Grünen und ihrer aktuellen Hoffnungsfiguren. Interessant ist eher die Analyse der Grünen im soziologischen Bereich:
Die Grünen sind ein Verein der weißen Akademiker-Mittelschicht. Das bestätigt die Statistik: 72 Prozent der Grünen-Mitglieder haben einen Hochschulabschluss; das ist mit Abstand der Spitzenplatz unter den Parteien. Mitglieder mit mittlerer Reife (9 Prozent) oder Hauptschulabschluss (4 Prozent) gibt es kaum. Und noch in einer weiteren Kategorie sind die Grünen Spitzenreiter: Fast die Hälfte ihrer Mitglieder sind Angestellte im Öffentlichen Dienst oder Beamte,
was die erhebliche Unterstützung restriktiver Coronamaßnahmen ebenso begünstigen dürfte wie ihre finanzielle Ausstattung. Denn die Grünen sind nicht nur die Partei der Akademiker-Mittelschicht, sondern auch die »Partei der Gut- bis Besserverdiener«, wie Gathmann und Marguier darlegen. Mit (mindestens) einer entscheidenden Folge im Politischen:
Die Grünen-Wähler stehen heute nur noch in gesellschaftspolitischen Fragen links, nicht mehr in der Sozial- und Wirtschaftspolitik.
Gesellschaftspolitisch linksorientiert, sozial- und wirtschaftspolitisch mittig – das erinnert nicht zufällig an die CDU/CSU unter Angela Merkel. Und tatsächlich:
Wie nah die Grünen-Wähler heute inhaltlich an Unions-Wähler sind, verdeutlicht eine Allensbach-Studie von Anfang 2021: Auf einer Links-rechts-Skala von eins bis 100 stehen die Grünen-Wähler sechs Punkte links der Mitte, Unionswähler fünf Punkte rechts davon. 1991 lagen zwischen den Lagern noch 23 Punkte.
Der Grüne von heute ist also akademisch, wohlständig, neu-mittig (und klimaideologisch, würde ich ergänzen). Das weckt Erinnerungen an die passende Beschreibung derer, die an der Wahlurne für Bündnis90/Die Grünen votieren, durch Markus Vahlefeld bei der Achse des Guten:
Der wohlhabende Hausbesitzer, der sich eine Solaranlage üppig finanzieren, steuerlich fördern und durch feste Abnahmeprämien sichern lässt, ist die grüne Kernwählerschaft. Sie weiß, welche Vorteile sich bei der Umverteilung von unten nach oben bieten. Der prekäre Mieter dagegen, der jährlich immer teurer werdenden Strom vom Energieerzeuger beziehen muss, oder der Arbeiter, der sich Mobilität nicht mehr wird leisten können, ist den Grünen herzlich egal. Das Fußvolk der Grünen sind dann die jakobinischen Weltverbesserer, die zerknirschten Protestanten und das Bildungsprekariat, das hofft, in den diversen staatlich geförderten Programmen, Stiftungen und NGOs ein halbwegs auskömmliches Leben führen zu können.
Es ist zu befürchten, daß ihnen dies gelingen wird. Ob in einer Koalition mit der CDU/CSU (»Grün, grüner, Union?«, fragte Marc Felix Serrao in der NZZ v. 8.5.2021 mit einiger Berechtigung), der »Ampel« mit SPD und FDP oder doch in einer grün-rot-dunkelroten Koalition scheint mir angesichts der derzeitigen grünen Welle fast schon nachrangig zu sein.
Die einzige aufmunternde Nachricht hierbei ist: Noch ist jede Welle irgendwann gebrochen.
RMH
@Pressespiegel zu den Grünen,
Zusammengefasst: Es sind faktisch Parasiten, welche die Macht in diesem Lande erhalten werden.