Hinter Benoist liegt heute bereits ein halbes Jahrhundert politischer und metapolitischer Arbeit. Seinen Eintritt in die Politik vollzog Benoist, als er sich 1960, ein Jahr vor seiner Immatrikulation an der Sorbonne, zugunsten des französischen Algeriens aussprach. Er geriet vorübergehend ins Umfeld der „Action Française“ und stieß mit 16 Jahren auf die anti-universalistischen wie anti-egalitären Ideologeme des Maître der alten Rechten, Charles Maurras. Der junge Benoist zählte damit von Beginn an zu den Außenseitern seiner Generation. Doch merkte er rasch, daß die besten Tage der royalistischen AF vorbei waren (das waren sie wohl schon vor 1934) und daß deren antiquierter Gestus seinem revolutionär-antibürgerlichen Lebensgefühl entgegenstand; eine wichtigere Rolle für die biographische Entwicklung Benoists nahm der Bund um die Zeitschrift Europe-Action ein.
In ihm trafen sich junge, teils militante Aktivisten jenseits der „klassischen“ rechten Strömungen. Unter ihnen zu finden waren faschistische Intellektuelle wie Lucien Rebatet, vormalige Waffen-SS-Freiwillige wie Marc Augier de Saint-Loup, neuheidnische National-Sozialisten wie der normannische Autor Jean Mabire; vor allem aber jüngere Ehemalige der Algerien-Truppe „Organisation Armée Secrète“ (OAS), der Studentenvereinigung „Fédération des étudiants nationalistes“ (FEN), bei der Benoist seit 1961 Mitglied war, und vormalige Mitglieder der „Jungen Nation“ und der „Nationalistischen Partei“. Führender Kader der Bewegung war Benoists Freund Dominique Venner. Dieser wurde 1962 aus der Haft entlassen und vertrat einen aktivistischen, „soldatisch“ verstandenen Nationalismus, bevor er sich aus der Politik zurückziehen und den historischen Arbeiten zuwenden sollte. Aber auch ein Fabrice Laroche mischte bei den „europäistischen“ Rechten mit. Dieser Laroche war u. a. Redakteur der Wochenschrift Europe-Action-Hebdomadaire – und ein Pseudonym von Benoist.
Benoist verachtete – wie das Gros der Aktivisten – Massenkultur und Materialismen, erblickte im Egalitarismus ein Verhängnis, lehnte die als dekadent empfundene Spießbürgerlichkeit ab und pflegte den Kult einer dynamischen Elite. Aber auch andere Prägungen sorgten für eine anti-parlamentarische und anti-demokratische Weltanschauung: Gegen die neue Zeit, die mit der Preisgabe Algeriens ihr schwaches wahres Gesicht gezeigt habe, stellten die europäischen Nationalisten heroische Prinzipien des Kampfes. Benoist und seine Mitstreiter lasen Henry de Montherlant, Pierre Drieu la Rochelle, Maurice Barrès, sie diskutierten über Venners Nationalismus-Schrift Für eine positive Kritik. Sie bewunderten die militante Romantik der deutschen Freikorps sowie der OAS, der Benoist sein erstes Buch überhaupt widmete.
Benoist folgte folgte zwar in vielen Punkten der damals szeneüblichen Verquickung von Nationalismus, rassischen Gedanken und Europa-Ideal, setzte aber immer wieder eigene Akzente. Ein Beispiel hierfür ist die 1966 publizierte Schrift „Was ist Nationalismus?“, in der er, neben einigen rassetheoretischen Elementen, eine europäische Psychologie skizzierte, die auf dem Tragischen, dem Willen, der Realität und auf Verantwortung basierte. Er blieb im Ganzen mit dieser Schrift zwar im Rahmen des biologisch fundierten Nationalismus Venners und Mabires, zeigte aber schon, daß er sich auch für Werte und Normen, ja für philosophische Betrachtungen überhaupt interessierte.
Unter anderem wurde er bereits in diesem Zeitraum aufmerksam auf Louis Rougier, einen Vertreter des logischen Empirismus und Liebhaber der hellenisch-römischen Antike. Von Rougier, der später Förderer der wissenschaftlichen Prestigezeitschrift Nouvelle Ecole wird, übernahm Benoist anti-universalistische Impulse für seine christentums- und demokratiekritische Sicht sowie Begeisterung für die seiner Ansicht nach organisch gewachsenen, hierarchischen Ordnungen des antiken Europas.
Diese Einsichten verarbeitete Benoist neben den Europe-Action-Schriften in zahlreichen weiteren Periodika der dezidiert revolutionären proeuropäischen Rechten, so etwa auch im neufaschistischen Periodikum Defense de l’Occident von Maurice Bardèche, und verstärkt in italienischen Organen – ähnlich wie Ernst Nolte erfuhr und erfährt Benoist speziell in Italien Wertschätzung, verfügt über eine respektable Leserschicht und referiert dort sowohl an Universitäten wie auch vor nonkonformen Zirkeln; einer seiner italienischen Diskussionspartner ist Gabriele Adinolfi, der wiederum lange in Frankreich lebte.
Zwischen 1965 und 1968 versuchten sich die Jungeuropäer auch an Wahlbeteiligungen; vor allem daran gingen sie schließlich zugrunde. Neben dem Ausbleiben von elektoralen Erfolgserlebnissen und internen Streitigkeiten – über die Frage nach der Haltung zum Christentum oder dem gesunden Verhältnis zwischen Militanz und Theoriearbeit – geriet die Bewegung auch in finanziell kaum zu bewältigende Krisen. In dieser delikaten Situation wurde das Groupement de recherche et d’études pour la civilisation européenne („Studiengruppe für die europäische Zivilisation“) gegründet. GRECE war ein bewußt gewähltes Akronym, das die geistige Orientierung des Klubs an der klassischen Antike unterstreichen sollte. Die Denkfabrik wurde nicht, wie bis heute häufig kolportiert, als Reaktion auf die Mai-Unruhen der 68er in Paris gegründet, sondern bereits im Januar 1968.
Benoist und seine Mitstreiter aus verschiedenen Zirkeln des Nationalismus (vor allem aber aus den Reihen der FEN) hielten die alten Strukturen der Rechten ebenso für verkrustet wie den parlamentarischen Betrieb und machten die fortdauernde Fixierung auf historisch verlorene Schlachten wie das Algerien-Dilemma für den mangelnden politischen Erfolg verantwortlich. Weiter wurde beanstandet das Fehlen einer langfristig angelegten politischen oder metapolitischen Strategie, der Mangel an konkreten Zielsetzungen, der völlige Verzicht auf eine wissenschaftlich abgesicherte Theorie sowie das Ignorieren des kulturellen Umfeldes als politischem Kampffeld. (Auch vom politischem Aktivismus als solchem nahm Benoist Abstand und wird in Mein Leben feststellen, daß der reine Aktivist dazu neige, kritisches Denken wie ein Gläubiger zu verdrängen. So lande er im Sektierertum. Gleichwohl sei die Phase des radikalen Aktivismus eine lehrreiche Zeit für politisch Denkende; eine Schule, die Benoist nicht missen will, sie gar als eine der besten überhaupt ansieht und jeden bemitleidet, der diese Erfahrung nicht machen durfte.)
Das Ziel Benoists – und des GRECE allgemein – war demzufolge ein vollkommener Erneuerungsprozeß der Rechten auf ideengeschichtlicher, metapolitischer und sozialwissenschaftlicher Basis. Die frühe Weltanschauung dieser sich jetzt um GRECE formierenden Nouvelle Droite entstand aus der intensiven Beschäftigung mit Denkern aller Richtungen, wobei unter vielen Vorreitern sicherlich die Klassiker der französischen Rechten um Joseph de Maistre, Maurice Barrès, Maurras, die nichtmarxistischen Sozialisten wie Pierre-Joseph Proudhon, die Syndikalisten um Georges Sorel und Édouard Berth, sowie nicht zuletzt die moderne Verhaltensforschung und Soziologie zu nennen sind. Die Denker der Konservative Revolution kamen erst wenige Jahre später entscheidend hinzu. Der bisher weitgehend theorielosen jungen Rechten sollte also eine kohärente Doktrin erarbeitet werden, die nicht vom Gefühl – Königstreue –, nicht vom Ressentiment – Kolonialnostalgie und Algerienschmach –, nicht von verlorenen Schlachten – Vichy, Kollaboration – getragen werden wollte, sondern die auf den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft zu beruhen hatte.
Alain de Benoist nahm in der Zeit zwischen 1968 und 1975 Abstand von den meisten Theoremen der Europe-Action-Zeit (und will – überspitzt gesagt – heute beispielsweise auch lieber einen praktizierenden Muslim als Nachbarn als einen Skinhead) – andere entwickelte und systematisierte er weiter. Dazu zählten demokratieskeptische Überlegungen in Anknüpfung an „indoeuropäische“ Aristokratie-Modelle. Inspiriert wurde diese Auffassung von der indoeuropäischen Forschung, welche in der Nouvelle Droite, man denke an Jean Haudry, emsig betrieben wurde. Die zeitgenössische Demokratie, vor allem deren Grundpostulate Freiheit und Gleichheit, wurde als regelrecht „uneuropäisch“ empfunden. Aber auch antikapitalistische, dem „Krämergeist“ entgegen gerichtete Ideen wurden formuliert. Das Ziel war eine „Kulturelle Revolution der Mentalitäten“, also nichts anderes als antike Tugenden und Leitbilder mit sozialbiologischer Unterfütterung der modernen Anthropologie in die Gegenwart zu überführen, um für eine Rückbesinnung auf die Prinzipien einer hierarchisch geordneten Gesellschaft sowie für die „Umwertung aller Werte“ im nietzscheanischen Sinne zu kämpfen.
Diese auch im Wortsinne radikalen Ideen wurden mit einer besonderen Verve vertreten und sorgten spätestens dann für offene Feindschaft, als es Benoist und Co. von 1978 bis 82, mit dem sogenannten Sommer der Nouvelle Droite 79 als Höhepunkt, gelang, gewisse Posten in Mainstream-Publikationen rund um das Figaro-Magazine zu erlangen. Die folgende aggressive Pressekampagne sorgte aber für den weitestgehenden Rückzug der neurechten Leitwölfe in die eigenen Zirkel und Publikationen. Auch in der Bundesrepublik wurde von Zeit bis FAZ gegen Benoist geschossen. Die Angriffe beschränkten sich nicht auf linke Medien, sondern kamen auch aus der konservativen Ecke, etwa aus William Schlamms Zeitbühne.
Ein guter Freund Benoists, Armin Mohler, sah in der fehlenden Rückendeckung für Benoists Truppe durch andere konservative Strömungen ein klassisches Beispiel dafür, daß Liberalkonservative grundsätzlich bei jeder antifaschistischen Kampagne früher oder später in die Knie gehen: „Sie hoffen, sich retten zu können, wenn sie die etwas konsequenteren Rechten eilfertig den Wölfen zum Fraß vorwerfen“. An anderer Stelle frotzelte Mohler: „Man hat oft das fatale Gefühl, die Liberalkonservativen seien mehr mit ihrer Abgrenzung gegen rechts als mit dem Kampf gegen die Linke beschäftigt.“
Mit dieser Feststellung hängt auch zusammen, daß Benoist frappierenderweise zeitlebens bei linken wie rechten Theoretikern Anstöße sucht, indes nie bei solchen der etablierten „Mitte“. Will man Benoists originelle Weltanschauung überhaupt mit dem Schubladen-Denken erfassen, ist sie noch am ehesten als antiliberale Links-Rechts-Synthese zu interpretieren. Überhaupt ist das dezidiert Antiliberale die größte Konstante in Benoists mehr als 50jähriger geistiger Entwicklung; Parteien und der Parlamentarismus als solcher sind für ihn keine Option. Es hat dabei nichts mit „Mimikry“ zu tun, daß Benoist Mitte der 80er Jahre die Wendung zur direkten, organischen, mitwirkenden Demokratie vollzog und alte Zöpfe radikal rechter Strömungen abschnitt. Der Volksvertretung im westlichen Stil weist er indes weiterhin nur den Status „Notbehelf“ zu, die das demokratische Prinzip nicht gänzlich abdecke. Stets müsse auf die Korrektur durch die Umsetzung der partizipativen Demokratie, d. h. der direkten oder organischen Demokratie, gesetzt werden. Das Ziel bleibe die „aktive Staatsbürgerschaft“ in einem gemeinwohlorientierten Verbund.
Im Vorwort zur 2001 erschienenen éléments-Textsammlung Schöne vernetzte Welt, die im ersten und eigentlichen deutschen Stammverlag Benoists, dem Grabert-/Hohenrain-Verlag, vorliegt, spricht er dem derzeitigen System ab, weiterhin demokratisch zu sein. Was bleibe, seien Liberalismus und die herrschende Ideologie der Ware, verkleidet in einem humanitären Diskurs. Gegen den „Hauptfeind“ Liberalkapitalismus müsse mehr konkrete Demokratie gefordert werden. In seinem programmatischen Text „Wider die kapitalistische Ordnung“, der in Frankreich 2009 als Geleitwort zu einer Aufsatzsammlung der nationalrevolutionären Zeitschrift Rébellion erschien, und der 2012 in der Edition JF als Anhang zu Benoists Am Rande des Abgrunds publiziert wurde, ergänzte Benoist diese Aussagen zur nichtdemokratischen Verfaßtheit des liberalen Westens: Die Entkopplung zwischen politischer Klasse und Volk habe aus dem Finanzbürgertum als der dominanten Gesellschaftsschicht eine neue Oligarchie gemacht. Diese regiere in Einklang mit der „Diktatur des Überwachungsstaates“. Benoist bilanziert: „Insofern ist die Demokratie nicht länger diejenige politische Ordnung, die ihr legitimes Machtmonopol aus der Souveränität des Volkes herleitet“.
„Souveränität des Volkes“ ist dabei keine Floskel Benoists. Er ist längst kein Antidemokrat mehr – blieb aber Antiliberaler und wurde mehr und mehr Antikapitalist. Benoist fordert gezielt den Gesellschaftsaufbau von unten, was wiederum sicher damit zusammenhängt, daß die Herrschaftsverhältnisse und ‑strukturen, insbesondere auf globaler Ebene, immer unklarer und damit ungreifbarer werden. Als Denker des Konkreten setzt Benoist demgegenüber auf die Basisdemokratie als erfahrbare Realität für die Menschen vor Ort.
Ein weiterer aktueller Schwerpunkt Benoist gilt der Bearbeitung der mit dem „NWO“-Komplex verquickten Frage, wie es zu verhindern wäre, daß Geldeliten allein die Politik gestalten, wie folglich der moderne, wesensgemäß antidemokratische Finanzkapitalismus zu zügeln ist. Benoist fokussiert sich immer stärker auf ökonomische Problemstellungen und gibt Antworten, die – erneut – jenseits von „rechts“ und „links“ (ob „neu“ oder „alt“) firmieren, wenn er die Einhegung der „Geldherrschaft“ von unten ebenso fordert wie den „Abschied vom Wachstum“, das Formulieren einer neuen Konsumkritik sowie einen neuen Umgang mit Kapitalismus und globaler Ökonomie angesichts des klaffenden Abgrunds. Benoist stellt damit nichts weniger als die “Systemfrage”. Es verwundert nicht, daß auch der 70jährige Benoist keine Freunde in den Reihen liberalkonservativer Besitzstandswahrer und Altherrenverbände sucht, ja sie verachtet und – für deutsche Konservative sicherlich ungewohnt – im Gegenzug die antibürgerliche, sozialrevolutionäre Arbeit radikaler Jugendgruppen wie der „Organisation socialiste révolutionnaire européenne“ (SRE) ausdrücklich begrüßt und bis heute unterstützt.
Ein geistiger Schwenk in Richtung „Mitte“ ist von Alain de Benoist daher auch im Alter nicht zu erwarten. Dafür sprechen nicht nur aktuelle Publikationen wie der vor wenigen Wochen in einer Festschrift für Rolf Kosiek publizierte Aufsatz wider transatlantische Vernetzungen oder die starke Orientierung am linken Antiliberalismus eines Jean-Claude Michéa, sondern auch die vertiefte Beschäftigung mit den französischen Nonkonformisten der 1930er Jahre sowie entsprechende Bezugnahmen auf Édouard Berth und Thierry Maulnier. Der Links-Rechts-Überwinder Maulnier sah schon in der Zwischenkriegszeit den Liberalismus als primären Feind und strebte nicht weniger als die ganzheitliche Überwindung des Kapitalismus an. Maulniers unorthodoxe Kritik an Finanzwesen, Bankenversagen und nicht zuletzt dessen Absage an von oben aufgezwungener Staatsbürokratie wird in den kommenden Jahren wohl eher an Aktualität hinzugewinnen, denn historisch erledigt zu sein.
Dieser lange Weg, den Alain de Benoist seit 1959 zurücklegte – etwa von der Erneuerung von oben mittels neuer Aristokratie zur Erneuerung von unten mittels partizipativer Demokratie – zeigt, wie undogmatisch und geistig flexibel er stets auf Veränderungen in Politik, Ökonomie und Gesellschaft reagiert. Er sucht niemals Applaus eines wie auch immer konstituierten „eigenen Lagers“, verzichtet auf jedweden Dogmatismus, holt sich Ideen dort, wo es sinnvoll und hilfreich erscheint, und verliert doch nicht seine eigene Konstanten aus dem Blick. Auch dies wird bei der Lektüre der „Lebendigen Erinnerung“ deutlich, die ab heute in deutscher Übersetzung lieferbar ist und ein beachtliches Panorama eines unheimlich vielschichtigen Denkens bietet.
Literaturhinweise:
+ Alain de Benoist: Mein Leben. Wege eines Denkens, Berlin: Edition JF 2014, 432 S., 8 Bildseiten, 24.90 €
+ Autorenportrait Alain de Benoist
+ Studie zu Alain de Benoist bei Antaios
+ Bücherschrank Alain de Benoist (mit allen deutschsprachigen lieferbaren Titeln Benoists)