Bei der zur Debatte stehenden Beobachtung einzelner Gliederungen der AfD und ihres Umfelds, wir diskutierten kürzlich in Halle darüber, ist das Hauptargument der Befürworter einer rigorosen Anwendung der präventiven inhaltlichen wie personellen Kantenschere jenes, wonach die Mitgliedschaft in der Partei durch die VS-Beobachtung vor allem für Anhänger des Öffentlichen Dienstes unmöglich würde; Mitglieder sprängen ab, Wähler liefen davon.
Das ist, so gilt es zu betonen, ein ernstes Thema, und Götz Kubitschek hat die Eckpfeiler einer souveränen Sicht auf die VS-Problematik bereits skizziert.
Ich habe die Problematik an anderer Stelle bereits im Oktober 2017 zusammengefaßt, aber aufgrund der aktuellen Ereignisse in Bayern und Hessen empfiehlt sich eine Wiedervorlage. Denn dort, so weiß die Süddeutsche vom 12.11., ist die AfD besonders unter “Arbeitnehmern” stark, die gar noch in den linken Gewerkschaften Mitglied sind:
Als die Bayern dann ihren Landtag wählten, stimmten (…) 14,5 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder für die AfD. Unter allen Wählern kam die Partei dagegen nur auf 10,2 Prozent der Stimmen. Schon bei der Bundestagswahl 2017 hatten überproportional viele Gewerkschafter AfD gewählt. Und zuletzt, bei der Landtagswahl in Hessen, votierte jedes fünfte männliche Gewerkschaftsmitglied für die AfD.
Auch in Bayern und Hessen, zwei strukturkonservativ geprägten Altbundesländern, brach man also “links” ins Wählerreservoir ein; auch dort (nicht nur im Osten) war der Öffentliche Dienst fest für CDU und Grüne (vorher: SPD) reserviert. Pauschal gesagt: Angehörige des Öffentlichen Dienstes sind überwiegend zufrieden mit den herrschenden Verhältnissen.
Zumindest in dieser Hinsicht muß man sich einstweilen durch die Ankündigungen des Herrschaftsinstruments Verfassungsschutz nicht verunsichern lassen: Der Öffentliche Dienst ist ohnehin das schwächste, weil mit den Zuständen Deutschlands zufriedenste Pferd im Stall der Alternative.
Demgegenüber ist die AfD die Partei der grundsätzlich oppositionell Ausgerichteten. Nach Daten von Infratest Dimap und der Forschungsgruppe Wahlen sind 80 Prozent der AfD-Wähler mit der Funktionsweise der Demokratie in unseren Tagen unzufrieden, 68 Prozent empfinden die herrschenden Verhältnisse als ungerecht (Wähler anderer Parteien: 39), doch nur 39 Prozent fühlen Nachteile durch Flüchtlinge.
Das zeigt: Die Krise, wie sie durch AfD-Sympathisanten interpretiert wird, ist keine ausschließliche Zuwanderungskrise, sondern eine grundsätzliche Krise der repräsentativen Demokratie in dem Zustand, in den die “Altparteien” sie gebracht haben, sowie der von ihr nur unzureichend verwalteten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse im Land.
Die stärksten Milieus für die AfD im Zuge der Bundestagswahl vor einem Jahr, im Herbst 2017, waren Arbeiter und Arbeitslose. Jeweils 21 Prozent stimmten aus ihren Reihen für die Alternative. Auch von den bereits erwähnten gewerkschaftsgebundenen Arbeitern, Wählern also, von denen man meinen könnte, sie seien durch fortwährende DGB-Propaganda antifaschistisch-dogmatisch geprägt, entschieden sich 18,6 Prozent für die AfD.
Eine Studie der Bertelsmann Stiftung verwies auf die Verluste der Linken in diesem Segment sowie auf die Verankerung der AfD im Gegenzug, und kommt zum Resümee:
Das zeigt, dass Die Linke den Kampf um ihr früheres Kernmilieu der Prekären bereits weitgehend verloren hat.
Im Jargon der Sinus-Geo-Milieus, die der Bertelsmann-Studie zugrundeliegen, erzielte die AfD insgesamt 28 Prozent im Lager der “Prekären” – also einschließlich der abstiegsbedrohten unteren Mittelschicht, um es umgangssprachlich zu formulieren. Die sogenannte Bürgerliche Mitte (nicht: die Oberschicht), ein weiteres Sinus-Milieu, wählte zu 20 Prozent AfD. Daraus folgt: Prekäre und Bürger der (unteren) Mittelschichten sind das doppelte Standbein der AfD – und das sind exakt die Zielgruppen der Wagenknecht-Gruppe »Aufstehen«.
“Traditionelle” folgen bei den AfD-Mitgliedern und Anhängern mit 16 Prozent im Mittelfeld; schlecht schneidet die AfD erwartungsgemäß bei anderen Milieus ab, etwa den “Hedonisten”, “Liberal-Intellektuellen” und den “Expeditiven” – sie stellen die oft hypermoralisch und derzeit triumphalistisch agierende Basis der Grünen dar.
Die Autoren der Bertelsmann-Stiftung formulieren es in ihrem typischen Sound so:
Damit ist die AfD bei der Bundestagswahl 2017 von unten in die Mitte eingedrungen, und hat sich dort als rechtspopulistische Protestpartei der sozial-kulturell Abgehängten und der sich sozial-kulturell bedrängt fühlenden Mitte etabliert.
Und:
Je mehr Haushalte aus der Unter- und Mittelschicht in einem Stimmbezirk wohnen, umso besser schneidet die AfD ab.
Wilhelm Heitmeyer verweist in seiner aktuellen Studie Autoritäre Versuchungen (Berlin 2018) ganz in diesem Sinne darauf, daß Gewerkschaftsmitglieder, Selbständige, Arbeiter, Arbeitslose (man erinnere sich an die Sinus-Milieus: “Prekäre” bis “Bürgerliche Mitte”) stärker zur AfD neigen. Besonders schwach als Sympathisanten vertreten sind jedoch, man ahnt es schon, Angehörige des Öffentliches Dienstes.
Neben Heitmeyers Feststellung ist aktuell auch interessant, daß sich in der Causa Wagenknecht – wir behandelten sie hier, da und dort – neue Entwicklungen andeuten. Zwar hat ihre Gruppe »Aufstehen« bereits virtuelle 165 000 Anmeldungen sammeln können, und sicherlich hat sie einige intellektuelle Köpfe wie Wolfgang Streeck oder Bernd Stegemann für ihre Sache begeistern können. Auch sind in der linken Publizistik der letzten Wochen und Monate – dies als letzte Erfolgsmeldung für den Wagenknecht-Flügel – einige Autoren »Aufstehen« und damit einem »linken Realismus« wider die postmoderne Ich-Politik des Antifaschismus zur Seite gesprungen.
Doch: Die “Bewegung”, die keine ist, wird angefeindet und droht noch vor einer eventuellen Ausweitung zur Parteiformation aus der Linken verstoßen zu werden. Wagenknecht und Co. können zwar damit leben und sind es wohl auch gewohnt, daß Teile der Linksjugend ihre Verachtung artikulieren (eine “Gammelbewegung” sei »Aufstehen«).
Schwerer wiegt jedoch der in diversen Medien kolportierte Umstand, wonach sich die Bundestagsfraktion der Linken auf einen möglichen Sturz der Fraktionsvorsitzenden Wagenknecht vorbereitet. Es gebe erstmals eine knappe Mehrheit für eine Abwahl der linken Galionsfigur, die in der eigenen Partei freilich unbeliebter ist als im parteifernen Wahlvolk, für das der TV-Talkshow-Stammgast Wagenknecht noch immer das Gesicht einer grundsätzlichen Opposition zum herrschenden Machtkartell aus Medien, Politik und Wirtschaft darstellt.
Der Grund für die dräuende Eskalation: Wagenknechts migrationspolitische “Rechtsabweichungen”, konkret: ein Rundbrief Wagenknechts, in dem sie dezidiert den Migrationspakt der Vereinten Nationen angriff:
Migration nütze vor allem großen Unternehmen; die Arbeiter auf dem heimischen Märkten würden unter der Konkurrenz aus dem Ausland leiden.
Der durch die AfD wesentlich in den Fokus der deutschen Öffentlichkeit geratene Migrationspakt könnte, so Wagenknecht weiter, den »letzten Sargnagel für die linken Parteien« verkörpern (eine Feststellung, der man sich ohne weiteres anschließen kann). Als wäre dies nicht potentieller Skandal genug, zitiert Wagenknecht on top den linken, aber realistischen und migrationsskeptischen Journalisten Norbert Häring:
Linke Parteien, die so etwas mittragen, sind dem Untergang geweiht und haben ihn verdient.
Damit hat Wagenknecht den schwelenden Konflikt sehenden Auges erheblich verschärft, und die diesbezügliche tiefe weltanschauliche, strategische und personelle Kluft innerhalb der bundesdeutschen Linken, die in der kommenden Dezember-Sezession (Heft 87) ausführlich abgebildet wird, weil sie unabhängig vom Ausgang des innerlinken Ringens erhebliche Folgen für die deutsche Rechte haben wird, könnte noch vor Drucklegung zum Bruch geführt haben.
MartinHimstedt
Ist die „drohende“ (ich schreibe das in Anführungen, den eigentlich müsste es beschlossene lauten) Beobachtung durch den „Verfassungsschutz“ tatsächlich so ein exorbitant wichtiges Thema? Mir erscheinen die Reaktionen, siehe auch eines der letzten Videos von Martin Sellner, doch etwas übertrieben.
Als Überläufer von der Linken stehen meine politische Meinung und deren Vertreter seit jeher unter Beobachtung (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Beobachtung_der_Partei_Die_Linke_durch_den_Verfassungsschutz). Mein Landesverband gilt sogar als „extrem“ – diese netten und größtenteils harmlosen Leute kenne ich persönlich.
In der Belehrung, bei Anstellung im öffentlichen Dienst, darf man nicht so ohne weiteres Mitglied gewesen sein: https://www.regierung.oberbayern.bayern.de/imperia/md/content/regob/internet/dokumente/formulare/f_bereich4/sg_43/43_390_i.pdf – ich kann mich nur nicht erinnern, dass das jemals irgendwen (in der Linken) interessiert hätte: Habe ich eine derart selektive Wahrnehmung, dass ich davon in all den Jahren nicht Notiz nahm? (Anedkdote am Rande: Für die AfD gibt es auf dem PDF ؘ– noch! – kein Kreuz, für die IB sowieso nicht.)