Hierbei handelt es sich oft um dieselben Leute, die sich das Etikett des “Rassismus” und der “Islamophobie” nicht aufpappen lassen wollen. Daß das Schlagwort vom “Antisemitismus” häufig strukturell ähnlich benutzt wird, scheinen sie nicht zu sehen: Es hat dann den Zweck, Kritik abzuwehren, indem dem Kritiker ein ethischer, irrationaler oder psychologischer Defekt unterstellt wird. Damit kann man seine Argumente ignorieren und ihn per Ächtung aus der Diskussion ausschließen.
Der Vorwurf des “Antisemitismus” ist ohne Zweifel eine mächtige “politische Waffe”, wie es Norman Finkelstein in einer seiner fulminanten Streitschriften formulierte. Und bei keinem anderen Begriff wird derart verbissen um die Grenzen des “Zulässigen” gerungen, wie hier (etwa bei der Frage, wann – erlaubte – “Israelkritik” zu – verbotenem – “Antisemitismus” wird).
Diese Grenzen sind allerdings schwammig und können je nach Belieben und Kontext verschoben werden. Wenn etwa ein Marcus Ermler einen Haufen Zitate danach abklappert, ob sie “pro-jüdisch” seien oder nicht, dann scheint ihm nicht einmal der Gedanke zu kommen, daß er diesen Begriff vielleicht erst einmal definieren sollte.
Wenn das Judentum allerdings kein “monolithischer Block” ist, wie die Bekämpfer des Antisemitismus gerne (und richtig) betonen, was ist dann die “richtige” “pro-jüdische” Haltung? Gerade in Bezug auf Israel gibt es eine Vielzahl von innerjüdischen Positionen, die von bedingungsloser Bejahung über moderate Kritik bis hin zur radikalen Ablehnung reichen.
Das bedeutet auch, daß es nicht nur einen, sondern mehrere jüdische Schilde gibt, hinter die man sich potenziell stellen kann, um den Antisemitismus-Knüppel zu schwingen. Und vor lauter Knüppelschwingen verliert man Inhalte und Tatsachen aus den Augen, und auch die Notwendigkeit, sich einen eigenen Schild zu zimmern.
Hier wäre zu konstatieren, daß sich die epochale Spaltung zwischen Globalisten und Nationalisten auch durch das Judentum zieht, wobei ich in Bezug auf die USA sogar von einer Art “jüdischem Bürgerkrieg” sprechen würde. Diese Spaltung verläuft allerdings etwas komplizierter als bei Nichtjuden, und das hat mit der Besonderheit des Judentums als Diasporavolk zu tun, dessen nationale Verortung im Staat Israel noch recht jungen Datums ist (und aufgrund der Territorialkonflikte mit den Palästinensern und arabischen Nachbarn ein noch lange nicht abgeschlossenes Projekt).
Diesen innerjüdischen Konflikt sprach auch der amerikanisch-jüdische Publizist Daniel Pipes an, der gute Kontakte zu Teilen der AfD pflegt, und eine Allianz zwischen europäischen “Rechtspopulisten” und israelisch-amerikanischen Rechtszionisten zu schmieden sucht.
Es handelt sich hier um den Versuch, eine “Internationale der Nationalen” zu begründen, in der Israel eine führende oder mindestens stark akzentuierte Rolle spielen soll – der selbsterklärte “Christian Zionist” Steve Bannon hat es erfolglos versucht, nun ist der israelisch-amerikanische Vordenker Yoram Hazony, Autor des Buches The Virtue of Nationalism (“Die Tugend des Nationalismus”), mit seinem “National Conservatism”-Thinktank an der Reihe.
Wenn überhaupt, dann zeigt dieser Artikel Pipes’ vom Januar 2019 mit dem Titel “Europas Juden gegen Israel”, daß dies eine eher fragwürdige Idee ist. Er ist auch auf Deutsch unter dem Titel “Europäische Diaspora und Israel” in dem Sammelband Was Juden zur AfD treibt erschienen (Hagalil, das angeblich „größte jüdische Online-Magazin in deutscher Sprache“ ließ es von unserem alten Freund Armin Pfahl-Traughber verreißen, der ein “zynisches Spiel” mit “Diskursen” wittert.)
Als Einstiegsbeispiel kontrastiert Pipes das Lob von Premierminister Netanjahu für Matteo Salvini als “großen Freund Israels” mit den Angriffen, denen Salvini seitens “linksliberaler italienischer Juden” ausgesetzt sei, die ihm “Rassismus gegen Ausländer und Einwanderer” vorwerfen.
Das ist ein Muster, das sich in so gut wie jedem westeuropäischen Land beobachten läßt: Das organisierte “Establishment-Judentum”(“Jewish establishment” nennt es Pipes) ist in der Regel multikulturalistisch-globalistisch ausgerichtet und sieht in den Rechtspopulisten latent antisemitische Wiedergänger des Faschismus, die es erbittert bekämpft, während diese sich durch Bekenntnisse zu Israel als die wahren Judenfreunde und besseren Anti-Antisemiten zu präsentieren versuchen.
Diese Frontlinie ist ähnlich (aber eben nur ähnlich) in den USA zu beobachten. Pipes bemerkt:
Diese europäischen Spannungen besitzen ein amerikanisches Pendant: die israelische Regierung hat wesentlich bessere Beziehungen zur Regierung Trump als das US-amerikanische jüdische Establishment. Symbolisch dafür steht, dass die jüdische Gemeinde in Pittsburgh, als Donald Trump anreiste, um die elf in der Synagoge ermordeten Juden zu betrauern, gegen seine Anwesenheit protestierte und so dafür sorgte, dass der israelische Botschafter in den Vereinigten Staaten den Präsidenten alleine willkommen heißen musste.
In der Tat hat Trump eine “alternative” jüdische Elite an seiner Seite versammelt, was ihn derart selbstsicher macht, daß er Juden, die für die Demokraten stimmen (und das sind in der Regel etwa 3/4 der jüdischen Wähler), der “Illoyalität” gegenüber – Israel bezichtigte. Damit hat er indirekt die Frage in den Raum gestellt, welchem Staat gegenüber Juden durch ihr Judentum (und nicht ihre Staatsbürgerschaft) zur Loyalität verpflichtet seien, was ihm prompt den Vorwurf einbrachte, “antisemitische Denkmuster” zu bedienen.
An der überwiegenden diasporajüdischen Parteinahme für Globalismus und Multikulturalismus (die nicht notwendigerweise mit einer Totalverwerfung von Israel einhergehen muß), ändern jedenfalls auch zunehmende Angriffe auf Juden durch muslimische Einwanderer wenig, so auch in Deutschland. Das jüdische Establishment – etwa der Zentralrat der Juden – ist hier auf ein- und demselben Kurs wie die Merkel-Regierung und das Parteienkartell der Bundesrepublik. Zwar wird regelmäßig eine allgemeine Panikstimmung bezüglich des angeblich wachsenden Antisemitismus in Deutschland ausgerufen, andererseits wird größte Sorgfalt darauf gelegt, daß dieser evozierte Antisemitismus nach links, rechts und “islamistisch” zerstäubt wird und als eher diffuser Vorwurf im Raum stehen bleibt.
Nach “rechts” bedeutet stets, diesen Antisemitismus “insinuierend” der AfD unterzuschieben (ähnliches geschieht in den USA mit Trump, dem vergeworfen wird, er schaffe ein “Klima” des Hasses, der Intoleranz usw. und sei darum auch am Anstieg des Antisemitismus indirekt schuld). Diese Ventilation ist die häufigste, egal, woher der Wind kommt. Das hat den Vorteil, daß die bewußt diffus gehaltene Drohkulisse AfD weiterhin aufrechterhalten werden kann, während die Kollateralschäden der “bunten Politik” , an deren Berechtigung und Alternativlosigkeit grundsätzlich nicht gerüttelt werden darf, vertuscht werden.
Selbst jene wenigen Juden, die offen Roß und Reiter nennen, was antisemitische Übergriffe angeht, wie etwa Michael Wolffsohn, hüten sich davor, die Mitverantwortung des jüdischen Establishments an der Lage zu benennen, wobei er sich als glühender Unterstützer der Merkel-Politik des Jahres 2015 selbst ins Gebet nehmen müßte (“Migration ist ein Geschenk des Himmels”).
Hinzu kommt der Mechanismus der “Hierarchie der Opfer”: Deutsche Politiker beteuern immer wieder, kostbares “jüdisches Leben” schützen zu wollen, während Ausländergewalt und ‑kriminalität gegen Nichtjuden in Deutschland schon seit über einem Jahrzehnt “bunter” Alltag sind (man erinnere sich an das Buch Deutsche Opfer, fremde Täter von Götz Kubitschek und Michael Paulwitz), ohne daß sich irgendein Politiker darum kümmert.
Es gibt hier also von jüdischer Seite eine Menge Klagen über “Antisemitismus”, aber keine Spur der Selbstkritik und kaum Empathie für die nichtjüdischen Opfer des Multikulturalismus, den man offenbar als Projekt zu schützen versucht, trotz des Problems des muslimischen Antisemitismus. Das führt zu der paradoxen Situation, daß die größte Empörung über den muslimischen Antisemitismus aus Richtung AfD kommt, während sich das jüdische Establishment in Deutschland beharrlich weitaus größere Sorgen um die AfD zu machen scheint und sie erbittert bekämpft.
Pipes erkennt an, daß es sich hier um ein typisches Muster handelt:
Wenig überraschend konzentriert sich Israels Regierung auf die außenpolitische Ausrichtung dieser [“rechtspopulistischen”] Parteien und betrachtet sie daher beinahe ausnahmslos als ihre besten Freunde in Europa, während das jüdische Establishment in Europa ebenso vorhersehbarerweise auf die innenpolitische Ausrichtung dieser Parteien hinweist, indem es sie als unverbesserlich antisemitisch darstellt und sogar die Rückkehr der faschistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts prognostiziert.
Hierfür gibt es etliche Beispiele.
Erika Steinbach, die nicht müde wird, sich zu Israel zu bekennen, wurde im November 2019 von der deutsch-israelischen Gesellschaft ausgeladen und zur “persona non grata” erklärt:
Die DIG hat in der jüngsten Sitzung ihres Bundespräsidiums in Berlin beschlossen, Sie schriftlich aufzufordern, Ihre politischen Überzeugungen künftig nicht mehr mit Ihrer Mitgliedschaft in der DIG zu untermauern oder zu begründen.
Alexander Gauland forderte (2017), daß deutsche Soldaten im Ernstfall an der Seite Israels kämpfen müßten, und die pro-israelische, pro-atlantische BILD-Zeitung drehte ihm das Wort um und unterstellte ihm “gefährliche Sätze über das Existenzrecht Israels”. Ein paar Monate später wiederholte Gauland dies zugespitzter im Bundestag:
Der Fraktionsvorsitzende der AfD, Alexander Gauland, sagte, “es war und ist richtig, die Existenz Israels zu einem Teil unserer Staatsräson zu erklären”. Das enthalte jedoch die Verpflichtung, im Ernstfall an Israels Seite “zu kämpfen und zu sterben”. Er sei nicht sicher, ob das Ausmaß dieser Verpflichtung überall in Deutschland verstanden werde. Die Existenzsicherung Israels beginne am Brandenburger Tor, sagte Gauland. Wer den Davidstern verbrenne und Kippaträger angreife, habe das Gastrecht in diesem Land verwirkt.
Angesichts der Bundestagswahlen 2017 schrieb der israelische Präsident Rivlin:
Wir schätzen Bundeskanzlerin Merkels klare Haltung gegenüber der AfD und im Kampf gegen den neofaschistischen Trend, der in der ganzen Welt sein Haupt erhebt. Diese antisemitischen und rassistischen Stimmen haben keinen Platz, weder auf deutschem Boden noch irgendwo anders.
Drei Jahre später scheint er seine Meinung nicht geändert zu haben, während die Presse allen Ernstes skandalisiert, daß Gauland, offenbar nicht ziemend ehrfürchtig und betroffen genug, während einer Holocaustgedenkrede Rivlins “minutenlang in derselben Sitzposition verharrte: die Augen nach unten gerichtet, den Kopf auf dem Arm aufgestützt.”
Renaud Camus, der Schöpfer des Begriffs “der große Austausch” und Freund des jüdischen Philosophen Alain Finkielkraut, hat sich mehrfach pro-zionistisch und pro-israelisch positioniert. Und doch zählte eine jüdische Antidiskriminierungsorganisation wie die LICRA (das französische Pendant zur ADL) zu seinen erbittertsten Feinden. Dieser (und einer anderen Organisation) muß er nun eine Geldstrafe von 1,800 Euro bezahlen, weil er die Masseneinwanderung als “Invasion” bezeichnet hat (zusätzlich hat er zwei Monate Gefängnisstrafe auf Bewährung ausgefaßt).
Pipes nennt ein weiteres Beispiel:
Als herausragendes Beispiel dafür ist Rabbi Pinchas Goldschmidt zu betrachten, der Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz. Er warnt äußerst sanft davor, dass ein Premierminister Jeremy Corbyn Juden dazu veranließe, Großbritannien zu verlassen, während er Zivilisationisten [Pipes’ Begriff für “rechtspopulistische” Parteien und Politiker] emphatisch dessen bezichtigt, eine Rückkehr zu „totaler Diktatur“ anzustreben, und ihre proisraelische Haltung als illegitime Jagd nach einem anerkennenden „Koscherstempel“ denunziert.
Derselbe Rabbi Goldschmidt hat übrigens – nach dem Anschlag auf “Charlie Hebdo” – folgendes geäußert:
Was die Frage betrifft nach dem Zusammenstoß zwischen dem säkularen, post-christlichen Europa und der neuen Migrationswelle, die im Kern religiös ist, so findet hier in der Tat ein Zusammenstoß der Zivilisationen [“clash of civilizations” nach Huntington] statt. Und wir, die Juden, wir sind in der Mitte dieses Zusammenstosses. Auf der einen Seite ist das, was in Paris und Brüssel passiert, daß Kinder, die auf der Straße mit der Kippa herumlaufen, attackiert werden. Auf der anderen Seite haben wir die Gegenreaktion des alten Europa. Wir haben Gesetze, die die religiöse Freiheit einschränken: in der Schweiz gegen Minarette, in Frankreich gegen die Burka, in Deutschland den Versuch eines Gesetzes gegen Beschneidung, in Polen und Holland gegen Halal- und koscheres Fleisch. Das ist also die Reaktion des alten Europa gegen diese Welle religiösen Ausdrucks. Wir sehen uns im gemeinsamen Kampf mit unseren muslimischen Brüdern, die ein freies, friedliches Europa wollen, die sich integrieren wollen, wie auch unsere Vorväter sich vor 120 Jahren in Westeuropa integriert haben, und sie sind unsere natürlichen Verbündeten.
Dies behauptet Rabbi Goldschmidt wohlgemerkt, nachdem er berichtet hat, daß etliche französische Juden auswandern wollen, weil sie in Frankreich “keine Zukunft für ihre Kinder sehen”, und nur kurz nach den Anschlägen auf “Charlie Hebdo”, in deren Folge ein Islamist einen koscheren Supermarkt überfiel und dort Geiseln nahm. Die Identifikation mit der Minderheit, die gegenüber der Mehrheit religiöse Sonderregelungen durchsetzen will, wiegt stärker als alle anderen Bedenken. Den muslimischen Antisemitismus scheint er nicht sehr ernst zu nehmen oder nicht für sehr gefährlich zu halten. Man hat es hier offenbar mit einer sehr eingefleischten Mentalitätsfrage zu tun.
Goldschmidt wurde übrigens mit der höchsten Auszeichnung Frankreichs, der Aufnahme in die Legion d’Honneur, geehrt: Man kann also getrost sagen, daß hier keine Randfigur spricht, sondern ein Mitglied des Establishments.
Ihm gegenüber stünde etwa ein Gilles-William Goldnadel, der in Pipes Profil der “Guten” paßt: ein militanter rechter Zionist, der die Redefreiheit von Oriana Fallaci (islamkritisch) verteidigt und jene von Edgar Morin (israelkritisch) bekämpft hat, Netanjahu-Anhänger, israelischer wie französischer Staatsbürger, von Sarkozy mit dem “Ordre national du Mérite” ausgezeichnet, Autor in konservativen Blättern wie Le Figaro und Valeur Actuelles, Mitglied der gaullistischen Partei “Die Republikaner”. Goldnadel ist der Ansicht, daß es keinen “moderaten Islam” gibt, allenfalls hin und wieder moderate Muslime.
Auch ein Alain Finkielkraut und ein Eric Zémmour würden in dieses Profil passen, wobei sie beide weniger als Zionisten, denn als französische Patrioten auftreten, insbesondere der letztere (und alle drei werden von dem globalistischen jüdischen Philosophen Jacques Attali scharf wegen ihrer “Islamfeindlichkeit” kritisiert, ebenso wegen ihres “Souveränismus”, den er für eine Form des Antisemitismus hält, der die Juden und Muslime, die sich gegen das “Phantom des Großen Austauschs” verbünden müssen, gleichermaßen bedrohe.)
Dieser innerjüdische Kampf habe, so Pipes, große Bedeutung für die Zukunft Europas:
Dieser Umstand gründet in der einzigartigen moralischen Autorität, die der Holocaust den Juden zuteilwerden lässt in der Beurteilung dessen, wer ein Faschist ist und wer nicht. Anders, in der zurückhaltenderen Formulierung des Wall Street Journal, ausgedrückt: “Während jüdische Wähler in vielen europäischen Ländern einen relativ kleinen Teil der Wählerschaft repräsentieren, könnte ihre Unterstützung zu gewinnen dazu beitragen, das öffentliche Image der rechtsextremen Parteien zu verbessern.”
Um diese “far-right parties” mit Israel (wohl eher der Likud-Partei) in ein Boot zu setzen, spannt Pipes einen Schirmbegriff auf:
… es geht immer um die von der Presse als rechtsextrem, populistisch, völkisch oder nationalistisch bezeichneten Parteien, — die ich selbst aber als zivilisationistisch bezeichne (da sie vornehmlich bestrebt sind, die westliche Zivilisation zu erhalten).
Dieses “Framing” habe ich im ersten Teil dieser Serie beschrieben: Israels Sache sei nicht bloß, dem jüdischen Volk eine nationale Heimstatt zu schaffen, sondern Israel sei ein Vorposten der “westlichen Zivilisation”, der “Demokratie und Menschenrechte”, im Kampf gegen den “Islamismus” und so weiter. Wie ich bereits darstelle, muß dies als Mythos zurückgewiesen werden. Israels innen- wie außenpolitische Probleme sind das Resultat seiner Gründung als ethnischer Siedler- und Kolonialstaat auf besiedeltem Gebiet; Europas politisches Problem der Massenimmigration, die Köpfe wie Renaud Camus und Guillaume Faye als eine “Kolonisierung” deuten, ist dem fast diametral entgegengesetzt.
Pipes verspricht nun den “Zivilisationisten”(“Populismus” lehnt er nach Begriff und Inhalt ab) das Heil aus Jerusalem, wenn die israelischen Juden in diesem Bürgerkrieg siegen:
Falls sich Jerusalem durchsetzt, werden die Zivilisationisten einfacher und zügiger in den politischen Mainstream Europas eintreten, zu Einfluss gelangen und ihre Hauptanliegen, die Zuwanderung zu kontrollieren und die Islamisierung zu bekämpfen, in Angriff nehmen. Falls sich das lokale jüdische Establishment durchsetzt, werden die Zivilisationisten länger um Legitimität kämpfen müssen und daher langsamer zu Einfluss gelangen und ihre Ziele nur weitaus mühseliger erreichen.
Dabei ist er bemüht, die aktive Rolle dieses “lokalen jüdischen Establishments” runterzuspielen. Obwohl die größte Judenfeindlichkeit nachweislich von islamistischer und linker Seite käme (in beiden Fällen handelt es sich wohl vor allem schlicht um antizionistische und anti-israelische Aktivitäten),
… hofieren viele europäische Juden — und insbesondere ihre Anführer — in selbsterniedrigender Weise das Establishment — politische Parteien, Medien, Bildungseinrichtungen — und verfestigen damit die moralische Überlegenheit ausgerechnet jener Kräfte, die ihr Leben ruinieren. Sie haben, um Bat Ye’ors Wortwahl zu verwenden, das Verhalten von Dhimmis übernommen (den historischen Status zweiter Klasse für nichtmuslimische Monotheisten, die unter muslimischer Herrschaft leben).
In Wahrheit verhält es sich eher umgekehrt, daß die nicht-jüdischen Teile des Establishments in Europa (und den USA) unaufhörlich um Legitimation von jüdischer Seite buhlen, kraft der von Pipes selbst gepriesenen “einzigartigen moralischen Autorität, die den Juden durch den Holocaust verliehen ist”; von einem “Status zweiter Klasse” innerhalb des Establishments kann hier keine Rede sein, und die vermeintlichen “Dhimmis” sind zum Teil äußerst aktiv an der Multikulturalisierungspolitik mitbeteiligt, die angeblich “ihr Leben ruiniert” (insbesondere in Frankreich und Großbritannien). Sie glauben schlicht und einfach nicht, daß ein “Eurabien” als antijüdische Verschwörung droht, wie die zitierte Bat Ye’Or.
Die Legitimationen werden auch ziemlich bereitweillig vergeben. So erhielt Angela Merkel unter anderem den “Abraham Geiger-Preis”, den “Heinz Galinski-Preis”, den “Rabbi-Lord-Jakobovits-Preis des Europäischen Judentums“, ” Elie Wiesel Award” des Holocaust Memorial Museum (Washington), die Ehrendoktorwürden der Universitäten Haifa und Tel Aviv oder den “Theodor-Herzl-Preis” des Jüdischen Weltkongresses (Henryk Broder dazu: “Die spinnen, die Juden. Und wie!”). Waren das allesamt Akte der Selbsterniedrigung von “Dhimmis”?
Endgültig absurd wird es, wenn Pipes auch den israelischen Präsidenten Reuven Rivlin als “Dhimmi” bezeichnet, weil dieser die “Zivilisationisten” als gefährliche “Neofaschisten” bezeichnete, obwohl er sich ihrer entschiedenen Unterstützung Israels bewußt sei. Dementsprechend verweigerte Rivlin Salvini ein Treffen. Diese Episode erscheint nicht gerade ermutigend, was das “Heil aus Jerusalem” und das zu erwartende Ausmaß der Gegenliebe angeht.
Unbefriedigend ist auch Pipes’ Konklusion:
Falls der Kampf hitziger werden sollte, steht sein Ausgang bereits jetzt schlechterdings fest: die Staatsräson wird die israelische Regierung letztlich dazu bringen, sich über die Bedenken der örtlichen jüdischen Gemeinden hinwegzusetzen und mit Zivilisationisten zusammenzuarbeiten, während die europäischen Juden weiterhin auswandern und ihren eigenen Einfluss zunehmend verringern werden. Diese Entwicklung ist begrüßenswert, denn Zivilisationisten sind keine Bedrohung im Stile der 30er Jahre, wie sie Oppositionspolitiker und Mainstream-Medien an die Wand malen, sondern vielmehr eine gesunde Antwort auf ein außerordentliches Problem. Tatsächlich verhält es sich so: je schneller die israelische Stimme tonangebend sein wird, desto besser für alle — Europa, seine jüdische Bevölkerung und den Staat Israel. Die einzige Frage besteht darin, wie bald das geschehen wird.
Hier erträumt Pipes eine Win-win-Situation für die zionistische Seite: Durch eine massive “Alija” (weil die “Zivilisationisten” an der Macht sind? Sollten diese umsetzen, was Pipes von ihnen will, gäbe es für die europäischen Juden doch keinen Grund mehr, auszuwandern?) würde Israel demographisch aufgestockt werden, während in Europa Regierungen herrschen, die stramm pro-israelisch ausgerichtet sind und ihre moralische Legitimation von den Verwaltern des Holocaust in Jerusalem empfangen haben. Der Staat Israel wird sozusagen, frei nach Jesaja 49,6, zum “Licht der Nationalisten” erklärt. (Böse gefragt: Was unterscheidet die solcherart eingespannten “Zivilisationisten” denn dann von “Dhimmis” für Israel, die stets an einer Holocaustleine gehalten werden müssen?)
Letztlich hat dieser Artikel den einzigen Zweck, europäischen Nationalisten einen Persilschein und politische Protektion im Austausch für außenpolitische Israel-Unterstützung (inklusive der Übernahme pro-amerikanischer, anti-iranischer, neokonservativer etc Positionen) in Aussicht zu stellen. Pipes sieht die “moralische Autorität der Juden”, zu bestimmen, wer “Faschist” ist und wer nicht (also: wer auf der politischen Bühne mitspielen darf und wer nicht) nicht nur als faktisch gegeben, sondern offenbar auch als legitim an.
Aber sein Artikel thematisiert indes selbst den Umstand, daß es “die” Juden als politische Einheit nicht gibt, sondern vielmehr sind rivalisierende Fraktionen auszumachen, die sich gegenseitig als Schmocks (und nicht selten als “Antisemiten” oder “selbsthassende Juden”) diskreditieren und ihre Persilscheine sehr unterschiedlich verteilen. Wie realistisch ist sein Szenario also überhaupt? Und wer sagt, daß sich die “lokalen jüdischen Eliten” von Israel “überstimmen” lassen werden?
Da ist es dann auch schon (fast) egal, daß Pipes ein äußerst militanter Interventions-“Falke” ist: nicht nur hat er den desaströsen Irak-Krieg begrüßt, er hat auch 2010 in einem Artikel, der auch in der Online-Ausgabe der Welt erschienen ist, gefordert: “Barack Obama sollte den Iran bombardieren” – um seine miserablen Umfragewerte zu verbessern (Lorenz Jäger nannte Pipes dafür “Dr. Seltsam”).
Es spricht nichts dagegen, wenn die AfD oder eine sonstige nationale Opposition gute Beziehungen zu Israel pflegt. Sie darf aber nicht in die Falle tappen, sich einen außenpolitischen Kurs aufzwingen zu lassen, der nicht in Deutschlands Interesse sein kann, noch darf sie der Illusion verfallen, Israel wäre ein “Königsmacher”, der ihr zu Macht und Geltung verhelfen kann. Sie sollte auch nicht danach trachten, im Rahmen der “Holocaust-Religion” Absolution, Legitimation oder eine moralische Aufwertung anzustreben, da auf diese Weise nur der “Schuldkult”, von dem sich eine nationale Alternative unbedingt lossagen muß, affirmiert und perpetuiert würde.
Ein AfD-Politiker, der die Pipes’sche Strategie befürwortet, meinte neulich zu mir, dieser “Schuldkult” müsse unbedingt ein Ende haben, damit Juden und Deutsche wieder normale Beziehungen auf Augenhöhe haben können. Aber “Schuldkult” ist eben der Kern dieser angeblichen “moralischen Autorität” (sprich: Macht), und ich finde es einigermaßen widersprüchlich, diesen abschaffen zu wollen und gleichzeitig via Israel-Partisanentum nach Absolution oder Anzügen zu streben, mit denen man in den Klub gelassen wird. Ich denke, hier muß eine grundsätzlich andere Basis anstelle dieses schiefen Fundaments gelegt werden.
Was aber aus den USA herübergespülte Gestalten wie Daniel Pipes oder Steve Bannon betrifft, so sie locken mit Karotten, die sie niemals hergeben werden, wahrscheinlich nicht einmal besitzen, und sollten daher als die Irrlichter der Nationalisten erkannt werden, die sie sind.
Buchtipp: Was Juden zur AfD treibt. Neues Judentum und neuer Konservatismus, hg. von Vera Kosova, Wolfgang Fuhl und Artur Abramovych. 170 Seiten, 14,80 Euro. Besprechung von Michael Klonovsky hier.
Maiordomus
@Lichtmesz. Wenn Sie von "Holocaust"-Religion schreiben, versteht derjenige Analytiker Sie noch am relativ exaktesten, der in diesem Zusammenhang von den Grundwerten nach Max Scheler ausgeht. Es gibt andere, die diese Ihre Ausdrucksweise auf keinen Fall verstehen wollen, sondern "unter der Herrschaft des Verdachts" (Hermann Lübbe) Ihnen dies übelnehmen werden.
Grundwerte. Da gibt es einerseits "das Wahre": wie war es tatsächlich? Andererseits: "das Heilige", den unbedingten Respekt vor den Opfern. Die Ehrfurcht, die man ihnen schuldet. Etwas im Grunde Diskussionsloses. Diese beiden obersten transzendentalen Wertbegriffe werden regelmässig durcheinandergeschüttelt. Geht es um das Heilige, haben empirische Werte, Zahlen, Chemisches und dergleichen, nichts verloren. Dies war wohl mit ein Grund, weswegen es Jahrzehnte dauerte, bis die offizielle Opferzahl von Auschwitz auf eine immer noch fast unvorstellbare Million herabgesetzt wurde, und zwar von einer noch um ein um ein vielfaches höheren Zahl.
Mir schien es in diesem Sinne unangemessen, bei einem Mittagessen mit einem bedeutenden jüdischen Philosophen, der 16 nahe Verwandte in mehreren der über 500 Lager verloren hatte, über Zahlen zu debattieren. Noch respektloser wäre es gewesen, eine von mir selber für ein öffentliches Gespräch eingeladene jüdische Überlebende, die Sekretärin in Auschwitz gewesen war (und im Zusammenhang mit ihrem Überleben auf eine Art "Schindler" verwies), im Hinblick vielleicht auf denselben Fragen zu stellen. Es hätte, bei spürbar vorsichtigen Formulierungen, erst recht als unanständig gelten können. Die Veranstaltung in einem Saal einer Ordensgemeinschaft war eindrücklich. Die Frau, eine authentische Zeugin, war nicht zu verwechseln mit einem Historiker, der noch so viel Bücher studiert und von dort Zahlen und Fakten hätte aufzählen können.
Im Vergleich zu einem Schulgottesdienst und auch noch anderen Anlässen herrschte bei diesem Besuch eine Stimmung, auch Aufmerksamkeit, wie sie bei religiösen Feiern fast nur bei der Abdankung eines Mitschülers zu registrieren gewesen war. Wenn die Dame nicht noch über einen durchaus - wenn das hoffentlich nicht rassistisch ist! - typisch jüdischen Witz und Humor verfügt hätte! Auch verwahrte sich die Frau mit zwar schon hinfälliger Gesundheit gegenüber zu grosser Hilfsbereitschaft: Man solle sie nicht wie ein Baby behandeln usw. Witz und Humor wirkten entlastend.
Die präsentierte Wahrheit über Auschwitz war die Authentizität der Person. Der dominierende Grundwert blieb das Heilige. Es wäre daneben gewesen, den Gast im Stil eines amerikanischen Beschuldigtenanwalts auf vermutete Widersprüche der Erzählung behaften zu wollen. Oder Fragen zu stellen, die man auch einer heiligen Mutter Teresa nicht gestellt hätte.
Wenn Sie, Herr Lichtmesz, hier die Ausdrucksweise "Ausschwitz-Religion" verwenden, gewiss im Zusammenhang mit dem, was alles bis hin zum Jugoslawienkrieg damit "transzendental" legitimiert wurde, kann man dies rein intellektuell verstehen. Diejenigen aber, welche für Sie das nicht satisfaktionsfähige, durch die Meinungsfreiheit gedeckte Schimpfwort "Faschist" im Köcher haben, werden den Ausdruck "Auschwitz-Religion" anders deuten, und zwar so, dass die feindbildbezogene Meinungsverschiedenheit vielleicht bis nach Karlsruhe weitergezogen wird. Und mag Martin Walser seit seiner Wortschöpfung "Auschwitz-Keule", in Verbindung mit dem als Sohn geouteten Jakob Augstein, sich hundertfach gebessert haben: er wird diese "Keule" noch mal ins Grab nehmen. Dabei ist aber der Geist oder Ungeist, wie man sich auszudrücken pflegt, längst aus der Flasche entwichen.