Denn die beiden widerständigen Nationen, die selbstbewußt und, soweit es der Spielraum der Europäischen Union und der Märkte zuläßt, einigermaßen erfolgreich am Modell einer souveränistischen, illiberalen Demokratie arbeiten, erfahren in der weiten Presselandschaft dafür konstant Kritik.
Polen als Exempel: Die NZZ (v. 25.1.) wittert »Trumpismus auf Polnisch«. Martin Pollack lobt zunächst den polnischen Weg in die freie Welt nach 1989/90 als »vielbewunderte Erfolgsgeschichte«. Doch davon seien, so der Wiener Autor mit allzu offensichtlicher Larmoyanz,
nur mehr bittere Erinnerungen geblieben,
weil, man ahnt es schon,
das Land seit dem Wahlsieg der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) 2015 zum Tummelplatz von rabiaten rechtspopulistischen, fundamentalkatholischen und europafeindlichen Kräften geworden ist, vergleichbar
– und auch dies kann der Leser antizipieren –
mit Viktor Orbans Ungarn.
Eine polnische Anti-PiS-Wende werde dadurch erschwert, daß die Opposition fragmentiert sei, womit Pollack unzweifelhaft Recht behält (wir erinnern uns zum Vergleich auch an die ungarische Situation aus der zweiten »Sammelstelle«), wohingegen die Wertung, es handle sich beim anhaltenden Erfolg der PiS um den Erfolg einer »radikal rechten Wende«, einigermaßen übertrieben scheint – trotz nationalkonservativ-sozialpatriotischer Orientierung und aus den ihr heraus folgenden Maßnahmen.
Gewiß gibt es Grund zur Kritik an einer Regierung, die es seit ihrem Wahlsieg 2015 – beispielsweise – versäumt, an jenem gesellschaftlich-ökonomischen Mißverhältnis zu arbeiten, wonach die Gehaltsrealität bei unseren Nachbarn so aussieht, daß ein des Deutschen oder Englischen mächtiger Callcenter-Agent in Warschau oder Kattowitz durchschnittlich (es gibt Ausnahmen) mehr verdient als ein Universitätsdozent ebendort.
Und selbstverständlich zeigt sich auch die PiS-Regierung immer noch überwiegend ohnmächtig, was die materiellen Sehnsüchte vieler Polen anbelangt, die sich einen Großteil des Jahres im Ausland – etwa in Großbritannien – aufhalten und sich aufgrund der innerpolnischen Lohnproblematik damit fern der Heimat verdingen (müssen).
Für eine erklärtermaßen patriotische Regierung dürfte dies ebenso ein Ärgernis sein wie das massive Stadt-Land-Gefälle, das entsprechende Abwanderungsbewegungen begünstigt.
Aber gleichwohl muß man Jaroslaw Kaczynski und seine Regierung intuitiv in Schutz nehmen, wenn Pollack, linksliberalen Neusprech reproduzierend, von der
Spaltung der Gesellschaft
raunt,
die Kaczynski und seine Anhänger ständig vertiefen
würden.
Der liberalen Hufeisentheorie folgend, diagnostiziert Pollack nicht nur »rechte« Momente wie »kruden Anti-Intellektualismus und Anti-Elitismus« bei der PiS-Regierungspartei. Diese besitze nach Ansicht des Wiener Beobachters auch »neobolschewistische Instinkte«, die sie gestählt gegen ihre Feindbilder ausrücken lasse, und zwar
gegen unabhängige Richter und kritische Journalisten, Schwule und Lesben und jüngst gegen die Frauen, die gegen eine Verschärfung der ohnehin rigiden Abtreibungsgesetze protestieren und massenhaft auf die Strasse gehen, ungeachtet der zunehmenden Brutalität der vom Regime gegen sie aufgebotenen Sicherheitskräfte.
Bei so viel Dramatik, peinlicher Überspitzung und unappetitlichem Regime-Change-Jargon fehlt nur noch der Verweis auf anzufordernde UN-Friedenstruppen, die das unterjochte Volk zwischen Ostsee und Tatragebirge vom Schlächter-in-spe zu befreien hätten.
Und tatsächlich sehnt sich Pollack zumindest nach einer Rückkehr Polens
in ein freies demokratisches Europa,
die jedoch in weiter Ferne liege, da
der Weg hin zu einem autoritären Staat (…) klar vorgezeichnet
scheine.
Einen Beleg hierfür sieht Pollack darin, daß das – trotz manifester Schwankungen – einigermaßen katholische Polen über Gemeinden in der Provinz verfüge, die sich als »LGBT-freie Zonen« verstünden,
was im freien Europa mit Fassungslosigkeit zur Kenntnis genommen wird.
Pollack, weiterhin bestmöglich entrüstet:
Zu mehr als verbalen Protesten konnte die EU sich bisher nicht durchdringen.
Also doch Blauhelme?
Pollacks Gepolter erreicht das Gegenteil dessen, was er bezwecken möchte: Man kann nur mit moderatem Hohn auf diese Zeilen reagieren, was um so bedauerlicher ist, als daß es – siehe oben – ja tatsächlich Mißstände gibt, die man als ehemaliger Auslandskorrespondent in Warschau in seiner Berichterstattung behandeln könnte.
Einen Aspekt deutet Pollack dabei sogar an: die latent antideutsche Stimmung von Teilen der PiS-Regierung. Eine entsprechende Emotionalisierung politischer Ereignisse kann jederzeit aktiviert werden, um jene Ressentiments im Wahlvolk zu wecken, die (nicht nur) dem polnischen Nationalismus immanent sind.
Virulenter Chauvinismus bleibt zweifelsohne ein ewiges Hindernis im deutsch-polnischen Verhältnis. Doch mit westlerisch-liberaler Propaganda wider die rückständigen Staaten Ostmitteleuropas wird man ein solches Langstreckenproblem nicht lösen können. (Es ist dies ein aus historischen Gründen vermintes Terrain, das ich im Gespräch mit der nationalkatholischen Zeitschrift Templum Novum – abgedruckt in deren aktueller Ausgabe – gleichwohl nicht umschiffen konnte.)
– –
Wird Polen zwar nicht von einer »radikal rechten Wende« heimgesucht, kann man doch konstatieren, daß patriotische Standpunkte in weiten Teilen des Volkes als vorherrschend anzusehen sind. Daraus resultiert eine parlamentspolitische Hegemonie für das Wahlbündnis »Vereinigte Rechte«, das aus der prägenden PiS und fünf kleineren Rechtsparteien besteht. Mithin kann man in Polen hegemonietheoretisch das Gegenteil der Bundesrepublik Deutschland erblicken.
Das sehen Robert Pausch und Bernd Ulrich gänzlich anders. In einem Leitartikel für Die Zeit (4/2021) vermessen die beiden Journalisten das Gelände bundesdeutscher Politik: »Wenn das Gestern endet« widmet sich dementsprechend den letzten fünf Jahren der bunten Republik. Diese Jahre, man höre und staune, seien davon geprägt gewesen, daß
das Lager rechts von Angela Merkel die Diskurse der Republik
bestimmt habe. Doch wir können aufatmen:
Das ist nun vorbei.
Fast jede Projektion, und möge sie von kritischen Lesern auch in Teilen als wahnhaft verworfen werden, birgt zumindest einige rationale Teilaspekte, weshalb der Beitrag trotz besagter Ausgangsthese die Lektüre verdient.
Korrekt ist zunächst die Definition »politischer Hegemonie«, die als »gesellschaftliche Grundströmung« umrissen wird. Eine solche
bewirkt, dass jene, denen die Fließrichtung gefällt, sich fast spielerisch treiben lassen können, während die anderen ständig dagegen anschwimmen müssen.
Wer kurz den Anflug von Hoffnung verspürt, daß die Autoren mit dem »dagegen anschwimmen« das Anrennen der alternativen Rechten wider die »schalldichten Kautschukmauern« (Martin Lichtmesz) des liberalen Establishments und seiner antifaschistischen Kofferträger gekonnt beschrieben haben, sieht sich enttäuscht.
Pausch und Ulrich gehen vielmehr davon aus, daß eine »Merkel-Grün-Hegemonie« von 2005 bis 2016 andauerte, die von einer rechten Dominanz ab dem 1. Januar 2016 abgelöst worden sei. Dem Publikationsort gemäß erfährt die schwarz-grüne Allianz, die zwar nicht koalitionär vereint war, aber eben die »Fließrichtung« vorgab, reichlich Lob:
Trotz des hohen moralischen Anspruchs ersparte die Merkel-Grün-Hegemonie sich selbst und wenn möglichen dem ganzen Land größere Zumutungen.
Das muß man sacken lassen, ist doch ebenjene Hegemonie als Allianz aus Kapitalvertretern, opportunistischer Mitte und antifaschistischer Moralpolitik die schlechthin größte Zumutung der vergangenen Jahrzehnte für unser Land gewesen und unter anderem für die fehlenden Grenzschutzmaßnahmen 2015 verantwortlich zu machen.
Für die Autoren ist das Gegenteil der Fall: Ausgerechnet in den Jahren 2005 bis 2016 wird die BRD als »Insel der Guten und Seligen« verklärt. Doch was geschah dann? Die Silvesternacht von Köln, und
nach links-mit-Merkel dominierte von da an rechts-von-Merkel.
Wer Ironie sucht, wird nicht fündig. Die meinen das so, wenn sie schreiben:
Sachte und stetig driftete die Republik zwischen 2016 und 2018 nach rechts.
Doch die Rechten können eben keine Politik – und dann kam der Sommer 2018 mit der Zäsur »Chemnitz«. Wir erinnern uns: Ausländer töteten in einer Auseinandersetzung, die sich nach dem Zufallsprinzip ergab, einen Einheimischen.
Proteste ob der relativierenden Verlautbarungen von Politik und Medien führten zu einer Skandalisierung der Stadt und ihrer Bewohner; von angeblichen »Hetzjagden« auf Migranten wurde Bericht erstattet (Rechte versetzten »die Stadt in Angst«, so Pausch/Ulrich). Daß es keine Beweise für solche Exzesse gab, die das Niveau von Antifa-Projektionen überstiegen, wurde einem Verfassungsschutzchef sogar zum Verhängnis: Hans-Georg Maaßen mußte seinen Platz an der Spitze des Bundesamtes räumen, weil er es wagte, die Beweislage als zu dünn zu umschreiben.
Für die Schreiberlinge der Zeit hervorhebenswert ist indes vielmehr CSU-Leitwolf Markus Söder, der entschlossen Kante gegen rechts zeigte, während seine Partei angeblich in den Jahren zuvor immer wieder rechts ausscherte. Söder, so liest man mit Erstaunen über einen ominösen rechtsoffenen Kurs, habe diesem einen Riegel vorgeschoben:
Der Kurswechsel von Söder wurde zum Kurswechsel für die ganze Republik, er war es, der den wichtigsten Hebel zerbrach.
Der Rest des »Stücks« in der Zeit ist rasch erzählt: Die »Rechts-von-Merkel-CDU« – personifiziert angeblich durch Merz, Spahn (!) und Schäuble (!!) – hätte ab dem Zeitpunkt der CSU-Tendenzwende den Faden verloren, und mit ihr die »Besorgte-Bürger-Hegemonie« ihre angebliche Vorherrschaft.
Noch absurder als die Bestandsaufnahme fällt die Prognose der Autoren aus. Der im Herbst 2021 zu erwartenden Koalition aus Schwarz und Grün schreiben sie zu, eine Reduzierung der »Gesinnungsspiele« mit sich zu bringen –
an ihre Stelle tritt der Streit um Lösungen.
Bei so viel christdemokratisch-grünem Pragmatismus, der einen erwarten darf, würde man gar nicht merken, in welcher hegemonialen Phase man lebe. Die nächste Hegemonie könnte man nämlich erst als eine solche erkennen,
wenn sie wieder vergeht.
Wenn sie überhaupt vergeht – und nicht nach vier Jahren durch alte wie neue Milliardenprogramme »gegen rechts« und für mehr Diversität, mehr Multikulturalismus, mehr Antifaschismus etc. perpetuiert worden ist.
– –
Legt man Die Zeit zur Seite, wird einmal mehr evident, daß der »Blick nach links« eher dort lohnt, wo das Amalgam aus linken, (schwarz-)grünen und liberalen Ideologiefragmenten noch keine Verblendungszusammenhänge hervorbringenden Verheerungen mit sich brachte. Das ist häufiger an den Rändern des vielschichtigen linken Milieus der Fall als bei den populäreren Medien wie taz, neues deutschland (mittlerweile nur noch: nd) oder Jungle World.
Als Beispiel für ein lesenswertes Nischenprodukt ist die ehemals »antideutsche«, dann »postantideutsche« – in den Augen ihrer innerlinken Gegner: »rechtsantideutsche« – bzw. »ideologiekritische« Zeitschrift Bahamas (Berlin) anzuführen. Ihr Wesenskern ist anders als derjenige der »linksantideutschen« Periodika sans phrase (Freiburg) und Phase 2 (Leipzig) eher in der Polemik als in (semi)wissenschaftlichen Diskursen zu bestimmen.
Mit einigem Argwohn – denn ich bevorzuge andere linke Zeitschriften – mußte ich in den letzten Jahren jedenfalls feststellen, daß die Bahamas-Abonnentenzahl in meinem politischen Nahfeld sukzessive anwuchs, so daß mich von Zeit zu Zeit der Verdacht beschleicht, daß die in weiten Teilen der Linken mittlerweile verhaßte Berliner Quartalsschrift stärker »rechts« rezipiert wird als in ihrem eigenen Ursprungsmilieu der K‑Gruppen-Überbleibsel und jüngeren Kreisen der radikalen Linken.
Doch die von allen Seiten befehdeten Ideologiekritiker, die sich vor einigen Jahren selbst als »Abrißunternehmer« einer »regressiven« Linken stilisierten, wollen gar nicht mehr zur Linken gerechnet werden. Im Editorial der druckfrischen Ausgabe (Nr. 86, Winter 2021) beschreibt die Redaktion um Justus Wertmüller und Hans-Gerd Tegeler ihr Blatt denn auch im gewohnten Bahamas-Sound als
eine Handreichung zur Befreiung aus diesem Zwangs- und Solidarzusammenhang.
Lohnenswert im neuen Heft ist insbesondere ein Beitrag des regelmäßigen Autors Martin Stobbe über »Woke Supremacy«. Der bremische Wahl-Wiener, der sich gemäß Eigenaussage einst über das konkret-Magazin (vgl. dazu die erste »Sammelstelle«) »politisierte«, bietet nur vordergründig einen 2020er Jahresrückblick, tatsächlich aber einen (weiteren) Generalangriff auf die woken, also politisch hyperkorrekten, »erleuchteten« respektive »erwachten« Linken seiner Zeit.
Für Sezession-Leser nicht neu (dank der Beiträge von Nils Wegner, Sophie Liebnitz und anderen) dürfte dabei der Umstand sein, daß die Wurzeln dessen, was liberalkonservative Kritik heute als »Kulturmarxismus« zu fassen versucht und man mithin als »Identitätspolitik« begreift, schlechthin in der »Postmoderne« liegen:
In postmodern inspirierter Ideologie, die in westlichen Gesellschaften akademisch, politisch und kulturell dominant ist, werden zentrale Errungenschaften der Moderne als Ausdruck von Herrschaft, Techniken des Wissens, der Erzwingung von Hegemonie – also Macht an sich – abgetan. Weitgehend durchgesetzt haben sich die Annahmen, dass es keine Wahrheit gebe, dass Individualität bloß eine konstruierte sei, oder Sprache Realität erst erschaffe und deshalb kontrolliert, überwacht bzw. verändert werden müsse.
Stobbe fährt fort, die Auswirkung dieser abstrakten postmodernen Ideologiebildung auf die konkreten Verhältnisse zu beschreiben, indem er akzentuiert, dass diese Ideologie
ihren Wahrheitsgehalt nicht zuletzt dadurch (gewinnt), dass sie tatsächlich Realität schafft und so Wirklichkeit wird.
Die Kritik an diesem Prozeß und einigen seiner Träger (BLM-Aktivisten, »Migrantifa« u. dgl.) eint Bahamas und Sezession, wenn Stobbe beispielsweise die postmodernen Sprechmechanismen entlarvt:
Ganz ohne Zwang oder eine an den Stalinismus gemahnenden Parteidisziplin gibt es heute Legionen von Gutdenkern, die stakkatoartig Neusprech von sich geben. Am deutlichsten wird dies am Begriff der Diversität, der heute meint, dass Menschen die Spitzenpositionen der Gesellschaft (oder die Ämter im Kabinett Biden, dem laut allen Medien »diversesten aller Zeiten«) unter sich aufteilen, die sich zwar in Hautfarbe, Geschlecht, sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität unterscheiden mögen, in der Regel aber ein und dieselben Indokrinationsanstalten verkommenen Bildungseinrichtungen besucht und für dieselben Hedgefonds, Konzerne und Beratungsfirmen gearbeitet haben.
2020 erscheint dem Autor daher zunehmend wie 1984, was ebenso zutreffend scheint wie seine Kritik am liberalkonservativen »Narrativ« vom »Kulturmarxismus«, den Jordan Peterson (ihn charakterisiere »intellektuell unbegründete Prominenz«) und Co. mit dem herrschenden postmodernen Linksliberalismus verwechseln.
Die »zentrale Stellung«, die
linksliberale Ideologen in der Öffentlichkeit einnehmen,
sei gekennzeichnet durch den
moralischen Furor ihrer Sprachpolitik, ihre autoritären Züge und das weitgehende Absehen von einer Kritik der politischen Ökonomie.
Der letzte Punkt – er umfaßt zuallererst die Ausblendung materieller Aspekte, sozialer Fragen – stellt die liberallinken Akteure pikanterweise in eine Reihe mit ihren liberalkonservativen Kritikern.
Diese benötigen bekanntermaßen auch im 21. Jahrhundert noch den eher schlecht als recht aktualisierten Kalten-Krieg-Strohmann »Marxismus« (so wie all die Maintreamlinken ihren »Faschismus« brauchen), um sich nicht den grundlegenden Strukturen und Widersprüchen jener neuen hegemonialen Allianz widmen zu müssen, die im Spannungsfeld zwischen digitalem Kapitalismus, opportunistischer Mitte und antifaschistischen Doktrinären der »PoMo«-Sekten entstanden ist, anders gesagt: jener Querfront aus Kapital, Linksliberalismus und postmoderner Identitätspolitik, die heute die »Fließrichtung« (Pausch/Ulrich) der veröffentlichten Meinung vorzugeben in der Lage ist.
Stobbe jedenfalls trifft auch hier einen Punkt, wenn er Konservativen (freilich: zu pauschal) vorwirft, blind gegenüber den reellen gesellschaftlichen Verhältnissen zu bleiben, solange sie die Rolle von Big Tech und postmodernen Ideologien nicht durchblicken und analysieren.
Zu viele Konservative, so kann man ergänzen, bleiben bei der vertrauten und daher um so leichter von der Hand gehenden Strohmann-Kritik stehen; es interessiert sie schlicht nicht, welche Transformationen die kapitalistische Produktionsweise derzeit, verstärkt durch den anhaltenden Treiber »Coronakrise«, durchlebt – und weshalb es als systemimmanente Entwicklung zu betrachten ist, daß Amazon, Tesla, Microsoft, Apple und Konsorten beinahe leistungslos Milliardengewinne einfahren. (Eine positive Ausnahme ist der jüngste Artikel Björn Harms’ über Woke Capitalism, erschienen in der Jungen Freiheit v. 22.1.)
Doch die Bahamas, die kein Teil der Linken sein will und sie doch konstant adressiert, wäre nicht sie selbst, würde sie entsprechende Analysen darbringen, ohne einen Frontalangriff auf das vermeintlich eigene Milieu zu fahren. Kritisiert wird erwartungsgemäß die universitär verankerte postmoderne Linke, die Stobbe
wie ein müder Abklatsch der äußeren Partei Ozeaniens
erscheint, die in Orwells 1984 eine entscheidende Rolle spielte. (Ozeanien ist das totalitäre Gebilde, an dessen Spitze ein unfehlbarer »Großer Bruder« thront.)
Und so, wie Winston Smith in besagter Dystopie eines Tages in sein Tagebuch notiert, daß das Widerstandspotential »bei den Proles« liege, fährt auch Stobbe fort, daß es
am ehesten die verbliebenen Proleten (sind), die wie die Fans des FC Millwall laut buhen, wenn ihnen von den Spielern noch Monate nach dem Tod George Floyds und tausende von Kilometern entfernt, die penetrante, offenbar nie mehr aufhörende Unterwerfungsgeste vor dem wildgewordenen Antirassismus, das Niederknien also, dargeboten wird.
Das könnte so auch im hiesigen Netzjournal stehen, und spätestens bei dieser Passage ist Martin Sellner (der im übrigen langjähriger Bahamas-Stammleser ist und mir vor fünf, sechs Jahren so ausführlich wie erfolglos die Vorzüge dieses Magazins referierte) im Hinterkopf des Lesers präsent, wenn sich Stobbe über die Herrschaftsfunktionen von Konzernen wie Google, Facebook und Twitter im Internet ausläßt,
die zunehmend den Kontakt der Menschen zur Außenwelt und zur Gesellschaft sowie den Zugang zu Informationen bestimmen und reglementieren.
Sellner dürfte jedenfalls jener Akteur der Opposition zum herrschenden Block sein, auf den Stobbes aktuelle Bilanz schon Jahre vor Trumps Eliminierung auf der Plattform Twitter zutraf:
Wer sich gegen die herrschende Ideologie ausspricht, wird auf vollkommen intransparente Weise im Zugang eingeschränkt, in seiner Reichweite begrenzt, mit Faktenchecks und Warnhinweisen versehen und, falls das Subjekt sich weiter renitent und Erziehungsmaßregelungen unzulänglich zeigt, gesperrt und gelöscht.
Weil sich die Bahamas derweil in »innerlinken« Disputen selbst – aus bewährter Tradition seit 1995, als die drei Jahre alte Hamburger Ur-Bahamas zu der bis heute zirkulierenden Berliner Bahamas wurde – »renitent und Erziehungsmaßregelungen unzulänglich zeigt«, sollte es nicht verwundern, daß es linke Buchläden gibt, in denen man die Zeitschrift von Justus Wertmüller, Sören Pünjer, Thomas Maul und eben Martin Stobbe nur auf ausdrücklichen Wunsch und unter verschämten Blicken ausgehändigt bekommt.
Warum das so ist, verdeutlicht unter anderem auch Wertmüllers längst legendärer Ausbruch über »verwahrloste Elendsgestalten« der Linken gegenüber unseren Freunden des antifaschistischen Radiosenders »Corax« (Halle/Saale) aus dem Jahre 2007 (siehe unten!). Den Zumutungen des Antifa-Milieus begegnet Wertmüller dabei mit beißendem Spott und unverhohlener Verachtung, was den Moderator wiederum an der ein oder anderen Stelle gänzlich aus dem Konzept kommen läßt.
Auch wem Wertmüllers notorische Apotheose des »freien Westens« und der universalistischen Implikationen der Aufklärung nicht rational anmutet (mir erscheint sie ebenso als ein doktrinärer Fetisch wie die daraus abgeleitete »bedingungslose Solidarität« mit den USA und Israel) – seine 15minütige Totaldestruktion der zeitgenössischen Linken bietet gleichwohl einen unterhaltsamen Einblick in die Ideenwelt der Bahamas.
Einer Zeitschrift also, deren Lektüre oft zu schroffem Widerspruch verleitet und doch immer wieder zu einigem Erkenntnisgewinn führt.
Maiordomus
Das Verdienstvolle an diesem langfädigen Artikel, eigentlich wären es deren zwei, ist der Hinweis im zweiten Teil auf Verwerfungen im linken Lager, die sich in Zeitschriften manifestieren, welche hier im Lager etwa älterer rechter oder konservativer Akademiker, die sich da zum Wort melden, wohl weder gelesen noch überhaupt gekannt werden.