Allgemeiner Konsens ist, daß es sich um keinen Unfall, sondern um einen Sabotageakt handelt. “Experten und Regierungskreise”, so der Tagesspiegel, “glauben wegen der Komplexität des Anschlags, dass er nur durch einen staatlichen Akteur durchgeführt werden konnte.” Die Sprechpuppen der EU geben sich empört und drohen mal wieder mit “Sanktionen”, ohne einen konkreten Verdächtigen zu nennen.
Die Medien kamen insgesamt vergleichsweise langsam in Gang. Kaum ein Artikel versäumt, Rußland als Täter zu insiniuieren, was niemanden überraschen sollte. Nutznießer von einem Anstieg der Erdgaspreise, sei, wer sonst, Wladimir Putin. Habeck kommentierte diesen Anschlag auf die “kritische Infrastruktur” Deutschlands so:
Die Sicherheitsbehörden, die Dienste, dieses Haus und auch die Betreiber tun das ihrige, um die kritische Infrastruktur zu schützen und die Energieversorgung in Deutschland sicherzustellen. (…) Deutschland ist ein Land, das sich zu verteidigen weiß und Europa ist ein Kontinent, der seine Energieinfrastruktur schützen kann.
Der Elefant im Raum wird vom politisch-medialen Komplex natürlich geflissentlich verschwiegen. Inzwischen hat wohl jeder den Tweet von Radek Sikorski gesehen, der ein Bild von den aufblubbernden Gasblasen im Meer postete, mit der Überschrift “Thank you, USA.”
Sikorski ist ehemaliger Außenminister Polens, Mitglied des EU-Parlaments und Vorsitzender der USA-Delegation der EU. Er ist außerdem mit der US-Neokonservativen Anne Applebaum verheiratet, die im letzten Jahrzehnt viel dazu beigetragen hat, die Geschichtsschreibung über den Holodomor und die Stalin-Zeit geopolitisch aufzumunitionieren.
Wollte er zündeln? Hat er ein offenes Geheimnis ausgeplaudert? Offiziell spricht die polnische Regierung natürlich von einer mutmaßlichen “russischen Aggression”, aber womöglich gibt es hinter den Kulissen klammheimliche Freude. Mit der Sprengung der Pipelines ist jegliche potentielle Verhandlungsbasis zwischen Rußland und Deutschland in Sachen Energielieferung fast völlig vom Tisch gewischt (eine Röhre könnte noch in Betrieb genommen werden).
In Washington hat man die Nord Stream-Pipeline, die Rußland Gasexporte Richtung Westen unter Umgehung der Ukraine ermöglicht, nie besonders gerne gesehen. Schon 2020 mutmaßten etliche Beobachter, die Affäre Nawalny wäre inszeniert worden, um das Projekt zu sabotieren. “Menschenrechte” eignen sich für derlei Manöver immer gut.
Spätestens seit der Krim-Annexion 2014 galt Putin als “anrüchiger” Verhandlungspartner, und es wurde erheblicher Druck auf Deutschland ausgeübt, seine Interessen nicht über einen Deal mit dem Teufel zu verfolgen. Der moralische Vorwand war damals Nawalny, heute ist es der Ukraine-Krieg.
Hier ist ein beispielhafter Kommentar aus der Zeit vom Februar 2021, in dem die Bundesregierung wegen mangelnder Vasallentreue gegenüber den USA gescholten wird:
Das Nord-Stream-2-Projekt wurde 2015 angeschoben, ein gutes Jahr nach der Krim-Annexion, als Wladimir Putin mit vielen Mitteln versuchte, die Ukraine zu teilen und zu schwächen. Eines davon war, die Hauptexportrouten für russisches Gas durch die Ukraine weniger wichtig oder gar überflüssig zu machen. (…) Den politischen Schaden davon haben allein die Deutschen. Die Pipeline ist ihr derzeit größtes außenpolitisches Problem. Sie isoliert Berlin zunehmend in der EU. Wirft Schatten auf alle wohlgemeinten Initiativen Berlins in Ostmitteleuropa. Vergiftet den Neuanfang in den deutsch-amerikanischen Beziehungen. Alle schütteln den Kopf, wenn deutsche Politiker auf der Pipeline beharren.
Der Zankapfel ist das geopolitische Ziel der Amerikaner, die Ukraine:
Viele fürchten, dass Russland mittels der neuen Pipelines die Ukraine umgehen und danach erpressen könnte. Schon heute blockieren US-Sanktionen die Fertigstellung.
Aufhorchen läßt dieser Satz:
Die selbst gebaute Falle der Deutschen ist so dramatisch, dass einige in der neuen US-Administration schon fast Mitleid bekommen. Derzeit diskutieren Deutsche und Amerikaner Wege, um Nord Stream 2 nicht einfach einmal laut und unwiederbringlich zu zerstören, sondern womöglich als länger nutzbares Druckmittel im Umgang mit Russland zu gebrauchen.
Etliche andere Indizien, die auf das “cui bono” dieser Tat verweisen, machen gerade im Netz die Runde. Am 7. Februar erklärte Joe Biden in einer Pressekonferenz, daß ein Einfall Putins in die Ukraine das Ende von Nord Stream bedeuten werde.
Biden: Es wird kein Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden es beenden. (There will be no longer a Nord Stream 2. We will bring an end to it.)
Reporterin: Und wie wollen Sie das vollbringen? Da Deutschland die Kontrolle über das Projekt hat. (How will you do that exactly? Since the control of the project is within Germany’s control.)
Biden: Ich verspreche Ihnen, wir werden dazu imstande sein. (I promise you, we will be able to do it.)
Olaf Scholz war auf dieser Pressekonferenz anwesend. Dem Regierungschef von Deutschland wurde hier also vom amerikanischen Präsidenten unverblümt mitgeteilt, daß die Entscheidung über Nord Stream nicht in Berlin getroffen werden würde.
Schon am 27. Januar des Jahres hatte Victoria Nuland, eine wichtige Zündlerin der ersten Stunde im Ukraine-Konflikt, mehr oder weniger dasselbe gesagt:
Was Nord Stream 2 angeht, so führen wir gerade sehr intensive und klare Gespräche mit unseren deutschen Verbündeten, und ich möchte auch Ihnen gegenüber Klartext sprechen: Wenn Rußland auf die eine oder andere Weise in die Ukraine einmarschiert, wird Nord Stream 2 nicht vorankommen.
Am 22. Februar, kurz vor Ausbruch des Krieges, publizierte das traditionsreiche neokonservative Organ National Review einen Artikel mit dem Titel “Eine hübsche neue Pipeline habt ihr da. Jammerschade, wenn ihr etwas zustoßen würde”, also eine sarkastische Drohung wie aus einem Mafia-Film.
Es sei zwar positiv, daß Olaf Scholz nun das Zertifizierungsverfahren für die Pipeline gestoppt habe, als Antwort auf die Anerkennung der ostukrainischen Separatistenrepubliken durch die russische Regierung. Aber das größere Problem sei, daß das blöde Ding überhaupt existiert, und eine permanente Versuchung für Deutschland darstellt.
Der Stopp des Zertifizierungsverfahrens ist jedoch nur eine vorübergehende Maßnahme; die Pipeline ist immer noch da, und wartet darauf, genutzt zu werden. Es ist nicht schwer, sich ein Szenario vorzustellen, in dem die deutsche Regierung einen Vorwand findet, um das Zertifizierungsverfahren wieder zu eröffnen und die Pipeline in Betrieb zu nehmen, nachdem sie die entsprechenden Pro-forma-Einwände gegen Putins Vorgehen erhoben hat. (…) Viele Deutsche sind – politisch und wirtschaftlich – an engeren Beziehungen zu Russland interessiert und könnten darauf erpicht sein, den vorherigen Status quo wiederherzustellen, sobald dies politisch vertretbar ist.
Letzteres Szenario wäre etwa denkbar, wenn die Regierung durch Massenproteste und soziale Unruhen unter Druck geriete. Wie Sahra Wagenknecht in ihrer “Wirtschaftskrieg”-Rede Anfang September sagte:
In Deutschland bahnt sich eine soziale und wirtschaftliche Katastrophe an. Millionen Menschen haben Angst vor der Zukunft, vor explodierenden Lebenserhaltungskosten, vor Horrorabrechnungen, und immer mehr auch um ihren Arbeitsplatz. Und auch, wenn es sich noch nicht ins Wirtschaftsministerium herumgesprochen hat: In Schlüsselindustrien werden Betriebe reihenweise schließen, schreibt das Handelsblatt. (…)
Wenn wir die Energiepreisexplosion nicht stoppen, dann wird die deutsche Industrie mit ihrem starken Mittelstand bald nur noch eine Erinnerung an die guten alten Zeiten sein. Die hohen Energiepreise, viel höher als in anderen europäischen Ländern, sind doch nicht vom Himmel gefallen, die sind doch das Ergebnis von Politik. (…)
Wir haben wirklich die dümmste Regierung in Europa. (…) Das größte Problem ist Ihre grandiose Idee, einen beispiellosen Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Energielieferanten vom Zaun zu brechen.
Das heißt, eine Situation, in der die deutsche Regierung nachgibt, und aus Not die Verhandlungen mit Putin wieder aufnimmt, wäre durchaus denkbar. Und nun Rückblende zum National-Review-Artikel vom Vorabend des Krieges. Der Autor Jim Geraghty zog ein Wanken der Deutschen in Erwägung, und stellte einen bescheidenen Vorschlag in den Raum:
Wenn nun etwas passieren würde, das die Nord Stream 2‑Pipeline unbrauchbar macht, das wäre eine andere Geschichte. Hey, was treibt eigentlich Andreas Malm so zur Zeit? Wo sind diese Öko-Radikalen, wenn wir sie wirklich brauchen?
Of course, if something happened to make the Nord Stream 2 pipeline unusable, it is a different story. Hey, what is Andreas Malm doing these days? Where are those eco-radicals when we really need them?
Andreas Malm? Oh ja, wir erinnern uns an die Kontroverse um Luisa Neubauer, den schwedischen Klimarettungsradikalen und Ökoterroristen in spe Andreas Malm, sein Pamphlet Wie man eine Pipeline in die Luft jagt, und über die Frage, wie eine post-industrielle Welt aussehen soll, in der mit dem Verzicht auf fossile Brennstoffe ernstgemacht wird.
Nun, da sein Wunsch in Erfüllung gegangen ist, jubelt Geraghty von der National Review voller Schadenfreude:
Wer wird mich von dieser lästigen Pipeline erlösen? Da hat mir wohl jemand zugehört! Drei Lecks in zwei Tagen? Wow, was für ein Jammer! Klingt ganz danach, als würde diese Pipeline in Stücke fallen und kein zuverlässiger Weg mehr sein, um Erdgas aus Rußland nach Deutschland zu transportieren. Die Hoffnung, daß Deutschland und Russland ihre Differenzen wegen des Einmarsches in der Ukraine beilegen und die langfristige Abhängigkeit Deutschlands von russischer Energie wiederherstellen, wird sich wohl in absehbarer Zeit nicht erfüllen. Pech für Wladimir Putin und den Kreml, die offensichtlich dachten, ein kalter Winter mit begrenzten Energielieferungen würde Deutschland und andere europäische Länder dazu bringen, wieder an den Verhandlungstisch zu kriechen.
Klar, das ist nur die Meinung eines Kolumnisten einer einflußreichen Zeitschrift. Aber sie steht in vollkommenem Einklang mit den Aussagen Nulands, Bidens und der bisherigen amerikanischen Politik gegenüber Nord Stream.
Ein weiterer Bonus des Ausfalles von Nord Stream ist, daß sich Deutschland nun nach Alternativen für Gaslieferungen umsehen muß, etwa teures Fracking-Gas aus den USA. Und wie es der Zufall so will, wurde praktisch am selben Tag, an dem die Nord Stream-Sabotage stattfand, die von Polen, Norwegen und Dänemark betriebene “Baltic Pipe” eröffnet.
Auf amerikanischer Seite gäbe es also sowohl ein klares Motiv, als auch die technischen Möglichkeiten, einen solchen Anschlag durchzuführen. Angeblich hat der CIA Berlin schon vor Wochen vor einer solchen Tat gewarnt, und wer zum Zynismus neigt, mag sich hier vorstellen, wie Scholz und Co geradezu aufgeatmet haben, als sie diese Ankündigung erfuhren. Eine Mitwisserschaft, wenn nicht Komplizenschaft der deutschen Regierung ist durchaus vorstellbar.
Nicht unerheblich ist wohl auch die Tatsache, daß kurz vor dem Anschlag ein Flottenverband der US-Navy den Fehmarnbelt durchkreuzt hat und sich genau in dem Gebiet befand, in dem die Lecks aufgetaucht sind.
Freilich ist auch vorstellbar, daß ein russisches U‑Boot mitsamt Kampftauchern es geschafft hat, unerkannt zu operieren und die Pipeline zu sprengen. (Update 30. 9.: Einschätzung eines Tauchexperten). Die Motivlage ist allerdings weniger klar. Putin hat seit Juli den Gashahn Richtung Westen sukzessive gedimmt und Anfang September komplett zugedreht, als Antwort auf die Sanktionen des Westens und seine militärische Unterstützung der Ukraine, woran sich auch Deutschland beteiligt hat. Um dem Westen durch Entzug von Gaslieferung zu schaden, hätte es für ihn also keiner Zerstörung bedurft.
Anders, als der oben zitierte Zeit-Autor 2021 schrieb, war es nun Putin, der die Pipeline als Druckmittel gegen europäische Regierungen, insbesondere Deutschland, benutzt hat. Dieses Mittel ist ihm nun aus der Hand genommen. Der Bau der Pipeline hat Jahre gedauert und rund 7,4 Milliarden Euro gekostet. Warum sollte Putin dieses so teure und nützliche Werkzeug zerstören?
Der Anschlag geschah zur selben Zeit, als die Referenden in der Ostukraine stattfanden, in denen der Anschluß an die Russische Föderation beschlossen wurde. Beide Ereignisse sind eng miteinander verbunden und kennzeichen eine Eskalationsstufe, die nun tatsächlich die Möglichkeit eines Dritten Weltkriegs in nähere Sichtweite gerückt hat.
Mehr im zweiten Teil.
– – –
Bleiben Sie auf dem neuesten Stand:
Abonnieren Sie hier unseren Telegramm-Kanal.
Abonnieren Sie uns hier bei twitter.
Tragen Sie sich hier in unseren Rundbrief ein.
Mitleser2
Ich hatte noch am Ende des geschlossenen Fadens "Vorbereitetsein" geschrieben:
Die Pipeline Sprengung hat natürlich einen interessanten Nebenaspekt: Jetzt kann nicht mehr für die Northstream-Öffnung demonstriert werden. Wie passend.
Die Forderung von Chrupalla nach schnellstmöglicher Reparatur für den Herbst ist leider weltfremd. Er sollte so was nicht twittern. Macht nur angreifbar als unwissend.