Noch immer bangen die Mediziner vor der Möglichkeit, daß sich in der dichtbevölkerten, verkehrsschnellen zivilisierten Welt unvermutet eine neue, bis dahin unbekannte Virusart zeigen könnte, die verheerende Seuchen mit sich brächte, vergleichbar den völkermordenden Pestzügen des Mittelalters.
So der Spiegel 1967 nach dem Ausbruch des „Marburgvirus“, einem Filovirus, der vor seiner Entdeckung durch Dietrich Peters und Günther Müller als gefährliche Unbekannte der Republik kurz den Angstschweiß auf die Stirn trieb.
Indessen hatte es in den 40 Jahren vor dem Erscheinen des Spiegel-Artikels »mit der „Spanischen Grippe“ (1918–1920) und der „Asiatischen Grippe“ (1957/58) zwei weltweite Influenza-Pandemien gegeben, denen bis zu 52 Millionen Menschen zum Opfer gefallen waren und denen sich nach den Ereignissen in Marburg noch die „Hongkong-Grippe“ (1968–1970) zugesellen sollte, an der – heute vergessen – allein in der Bundesrepublik rund 30.000 Menschen starben«, wie man in Nils Wegners faktenreichem und lesenswerten Sezession-Artikel „Eine Welt, eine Risikogruppe“ lesen kann.
Der »Schwarze Tod« hängt als düstere Pandemie-Erzählung Europas über unseren Köpfen und ruft uns in Erinnerung, wie dünn der Firnis der Zivilisation ist, wie schnell geordnete Verhältnisse ins kopflos Chaotische kippen können. Rund 1/3 (25 Millionen) der damaligen europäischen Bevölkerung raffte die Pest dahin.
Auch sie kam über „globalisierte“ Handelswege, genauer über die Handelsnetze der Genueser, 1347 aus Zentralasien nach Europa. Gleichwohl war die Vernetzung der Welt noch nicht im selben Maß fortgeschritten wie in unserer industrialisierten Epoche und eine Verbreitung in rasantem Tempo – erst 1353 erreichte die Pest ihren maximalen Ausbreitungsgrad in Europa – kaum bis gar nicht möglich.
Die jüngste Heimsuchung durch eine tödliche Krankheit, die uns noch in Erinnerung ist – wenn auch hauptsächlich als mediales Ereignis –, ist die Ebola-Epidemie in Westafrika, die von 2014 bis 2016 wütete. Ebola, wie das »Marburgvirus« zur Familie der Filoviridae gehörend, kostete in diesem Zeitrahmen laut WHO 11.316 von 28.639 Infizierten das Leben. Auch anläßlich des Ebolavirus notierte Nils Wegner seine Gedanken zur Epidemiologie unter dem Titel „Annotationen zur Seuchenlage“ hier bei Sezession im Netz und wies auf das Kernproblem der Bedrohungslage durch Viren hin:
Das Kernproblem liegt aber woanders, nämlich – oh Wunder – in der Globalisierung und ihren Begleiterscheinungen. Wie oben angemerkt, ist Ebola samt Verwandtschaft nicht darauf ausgerichtet, den Menschen zu befallen. Das Aufkommen innerhalb der menschlichen Population erklärt sich insbesondere durch das massive Bevölkerungswachstum in Afrika, die damit verbundene Durchsiedelung des Urwaldes und die daraus erfolgende Verschleppung der Zoonose in Ballungsräume. Viel eher als die Rückverlegung erkrankter Einzelpersonen in ihre Heimatländer könnte sich denn auch die Möglichkeit einer globalen Ausbreitung innerhalb weniger Tage zur Bedrohung entwickeln, und dem ließe sich nur durch komplette Abschottung eines ganzen befallenen Landes entgegensteuern, was in der heutigen Welt recht utopisch erscheint.
Währenddessen hat ARTE pünktlich zur Ausbreitung des Coronavirus eine sehenswerte französische Dokumentation aus dem Jahr 2014, am Anfang der Ebola-Epidemie, wieder auf YouTube ins Netz gestellt, die Wegners Problemanalyse unterstreicht – eine ständige Bedrohungslage qua einer globalisierten Welt:
Derweil ist die Frage nach dem Ausbruchsort und dem Erstträger des Coronavirus keineswegs so eindeutig geklärt, wie es manche Medienberichte kolportieren. Im Artikel „Wuhan seafood market may not be source of novel virus spreading globally” auf der Netzseite der Zeitschrift Science bezweifelt Jon Cohen auf der Basis der Untersuchung chinesischer Forscher, daß der besagte Markt für Meerestiere die Quelle des Virus sei.
Wo auch immer der Virus letztendlich seinen Ursprung hatte und ungeachtet der tatsächlichen Gefahr, die von ihm ausgeht, führt uns das aktuelle Geschehen die Fragilität zivilsatorischer Selbstverständlichkeiten nachdrücklich vor Augen.
Zwischen allen Seuchenlagen noch einmal zurück zur Akademie; mittlerweile kann mit »Volk, Nation und Staat« von Dr. Thor von Waldstein ein weiterer Vortrag der letzten Winterakademie auf dem »kanal schnellroda« angeschaut werden:
An dieser Stelle ein Zitat aus meinem Akademiebericht:
Von Waldstein begann und machte seine Lektürebesichtigung an ihrer Behandlung des »Volkes« fest. Drei deutsche Soziologen unterzog er dabei einer Tiefenbetrachtung: Max Weber, Werner Sombart und Hans Freyer (Sombart und Freyers Denken und Leben werden in Rolf Peter Sieferles »Die konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen« eingehend beschrieben). Weber, diesem Ausnahmetheoretiker, widmete Waldstein eine ausgiebige Schilderung seines Lebenslaufs, die in einer Darlegung Webers Konzeption von Volk und Nation mündete.
Ein, wie bei Waldstein gewohnt, sehr sehens- bzw. hörenswerter Vortrag über drei deutsche Soziologen, der verdeutlicht, daß die wissenschaftliche Disziplin keinesfalls als linkes Hegemonieprojekt ihr Dasein fristen muß und sollte.
Im akademischen Diskurs verbleibend zu einem Phänomen, das in den Fundstücken bereits mehrere Male, nämlich in den »Netzfundstücken (13) – Problemschüler, Dysgenik, Klima« und den »Netzfundstücken (15) – Masse, Gene, Sachsen« bei den Erörterungen zur Dysgenik und der Gen-Kultur-Koevolution implizit mitschwang: der Krieg als anthropologische Konstante.
In diesem Zusammenhang stellte Rolf Peter Sieferle in seinem Werk Krieg und Zivilisation (hier verfügbar) die Frage, »ob es in der Vergangenheit einen „Ursprung“ des Krieges gegeben hat oder ob sich (sic) beim Krieg um eine Universalie der menschlichen (bzw. hominiden) Existenz handelt.« Dazu weiter Sieferle:
Das aktuelle Wissen über die Anthropologie des Krieges stammt aus drei unterschiedlichen Quellen:
- Primatenforschung
- prinzipielle evolutiontheoretische Überlegungen
- empirische Daten über rezente Jäger und Sammler, ergänzt durch archäologische Funde
Unsere nächsten phylogenetischen Verwandten sind andere Primatenspezies, besonders die Schimpansen. Kann man aus dem Umgang dieser Tiere mit intraspezifischer Gewalt Schlüsse auf die entsprechende Disposition unserer Vorfahren ziehen?
Jemand, der diese Frage mit »Ja« beantworten würde, ist der Anthropologe David Watts, der sich auf die Studie der Verhaltensweisen von Menschenaffen spezialisiert hat und mit dem Ngogo-Schimpansenprojekt erstaunliche Beobachtungen machen konnte.
Nämlich, daß die von ihm und seinen Kollegen beobachtete Schimpansengruppe systematische Angriffe auf benachbarte Gruppen initiierte und somit ihre Größe und Territorium im Vergleich zu dem, was für Schimpansen sonst üblich ist, exorbitant ausdehnte. Die Ngogo-Schimpansen führten einen regelrechten »Krieg«.
Watts Forschung floß außerdem in die vielbeachtete, in der Fachzeitschrift Nature erschienene Analyse »Lethal aggression in Pan is better explained by adaptive strategies than human impacts« des Anthropolgen Michael L. Wilson, der mit seinen Kollegen Daten über das Verhalten und die Lebensweise von 18 Schimpansen- und 4 Bonobo-Gruppen auswertete.
Im Gegensatz zu der oft vorgebrachten Hypothese, daß die tödliche Aggression in Schimpansen durch den Kontakt mit Menschen hervorgerufen werde, fanden sie heraus, daß der Einfluß des Menschen kaum Auswirkungen auf die Anzahl der tödlich endenden Kämpfe unter den Affen hatte – die natürlichen Einflüsse (Anzahl der Männchen, Nahrungsangebot, Dichte konkurrierender Grupen etc.) seien ausschlaggebend
Also hat man es mit einem evolutionär bedingten Verhalten zu tun, das bei den nahverwandten Bonobos so nicht vorkommt: Es ist Teil der Anpassungsstrategie von Schimpansen, Artgenossen fremder Gruppen zu töten, insofern als diese Verhaltensweise für sie ein größeres Territorium und somit auch mehr Nahrung verspricht.
Wilsons Auswertung profitiert maßgeblich von den Studien an der Ngogo-Gruppe: Während im ungestörten Ngogo-Gebiet Schimpansen ihre Artgenossen am häufigsten töteten, starben beispielsweis in Bossou, wo Menschen signifikant in die Lebensweise der Tiere eingreifen, gar keine Schimpansen in Kämpfen.
Die berühmten Ngogo-Schimpansen und ihr außergewöhnliches Verhalten hat der eindrucksvolle Dokumentarfilm »Kampf der Kriegeraffen« festgehalten, der noch bis zum 23 Februar in der Mediathek von ARTE zu sehen ist:
Max
"1953 erreichte die Pest ihren maximalen Ausbreitungsgrad"
scheint mir doch etwas spät. Bitte korrigieren.
Schick: Schon geschehen; da ist wohl eine 9 anstatt einer 3 hineingepurzelt.