8. Beheimatetsein und Verwurzelung im eigenen Volk sind die Grundlage von Selbstbewußtsein und Duldsamkeit. Individualität erwächst aus Verwurzelung.
Die Pädagogin und Theologin Magdalene von Tiling, die in meinem Erziehungsbuch bereits vorkommt, schrieb 1932:
Je länger dem jungen Menschen dagegen die Ruhe zur Einwurzelung seines Seins in feste Verhältnisse, die ihn in Autorität halten, gegeben wird, desto mehr seelische Kraft zur Verantwortlichkeit in der Bindung erwächst ihm aus solcher Verwurzelung für sein späteres Leben. (Grundlagen pädagogischen Denkens, S.168)
Jahrzehnte später wird die Bindungstheorie von der Notwendigkeit der “festen Verhältnisse”, dort “Objektkonstanz” bzw. “Objektpermanenz” genannt, sprechen. Ein Kleinkind braucht sowohl die Wiederholungen des Tagesablaufs als auch die darin vorkommenden immergleichen Menschen. Beides zusammen läßt eine Art “Hülle” um das Kind entstehen, in der es warm und geborgen ist. Bindungsgestörte Kinder haben diese Hülle nicht, für sie ist sofort Land unter, wenn beispielsweise die Mutter den Raum verläßt, oder sie sind längst daran gewöhnt, daß im Notfall keiner für sie da ist.
Die Hülle könnte man als Schutzraum für das junge Kind für notwendig, für Heranwachsende allerdings für überflüssig halten. In der normalen Entwicklung wird die Hülle auch zusehends durchlässiger, bis sie ganz abgestreift werden kann. Doch glaube ich, daß Tilings “feste Verhältnisse, die (den jungen Menschen) in Autorität halten” für Kinder, die sowohl zu früh zur Verantwortung gezogen werden als auch Erwachsenenmedien ausgeliefert sind, fast so etwas wie eine therapeutische, heilende Funktion haben.
Heißt für uns als Gegenwartseltern: Tagesrhythmen, Rituale, Sprüche, Eßgewohnheiten, Jahreszeitenfeiern usw. noch weit übers Kindergartenalter hinaus weiter zu pflegen. Eine Obstjause jeden Tag zwischen den Onlinestunden, an Abenden immer dasselbe Baderitual und noch beim Mittelschulkind zum Einschlafen ein leises “Schutzengel mein” sind fortgeführte Hüllenfunktionen. Die Verwurzelung im eigenen Volk ist über das Liedersingen in nicht gering zu achtender Weise möglich.
Beheimatung muß man gut von reiseverbotsinduzierter Heimatpropaganda im Dienste des “Coronaregimes” unterscheiden. Ein Aufkleber-Sammelheft vom Supermarkt für Kinder, in dem man heuer “unser Österreich” komplettieren konnte (von Trachten bis Mehlspeisküche und Alpenfauna) befindet sich in der ideologischen Grauzone. Die Wiederentdeckung des “Urlaubs in der Heimat” kann entweder dem alten Schwab so passen (siehe mein Kommentar dort) oder eine grundvernünftige Angelegenheit sein – man versuche, dem Sinn solcher Phrasen nachzuspüren.
9. Anderssein ist Pflicht, wo die Verdrehtheit überhandgenommen hat. Etiam si omnes, ego non.
Im Netz kursiert ein Witz: Handwerker entschuldigt sich in der Tür stehend, er habe die FFP2-Maske vergessen, ob er wohl mit “normaler” Maske reinkommen dürfte. Worauf ein (wohl schon älteres) Kind aus dem Wohnzimmer ruft: “Ja klar, kommse rein, wir sind Verschwörungstheoretiker!” und der Handwerker aufseufzt: “Endlich normale Leute!”.
Nun ist, wie ich in Wir erziehen auch begründet habe, nicht jede abweichende Meinung und Lebensführung gleichzusetzen mit gesundem Anderssein.
Mir schenkte auf einer der “Coronademos” vor vielen Monaten eine ehemalige Waldorflehrerin einen Button, auf dem steht: “Umarmbar”. Über Buttons und Maskenbeschriftungen wurde hier im Forum bereits ausreichend diskutiert – es geht nicht darum, seine Gesinnung zum Markte zu tragen, sondern womöglich angesichts eines solchen Ansteckers kurz aufzumerken, um zu erkennen, durch welch winzige Gesten man bereits “anders” ist. Anderssein kann nämlich in Zeiten eiskalter Gesundheitstechnokratie auch das Warmhalten von Residuen bedeuten: Umarmen, Handgeben, Einladen, einem Gestrauchelten aufhelfen oder einen Verletzten im Fall des Falles erstversorgen.
In der aktuellen Zeitschrift Info-DIREKT gibt ein Redakteur Ratschläge zum Händedruck: sich das Händegeben nicht nehmenzulassen (auch nicht durch Ersatzhandlungen wie Ellenbogen‑, Box- oder Fußgruß zu vermeiden), dabei aber höflich zu bleiben. Ein demonstrativ “systemkritisch” aufgezwungenes Handgeben löst bei Verängstigten oder Bütteln Abwehrreaktionen aus, mithin: Kälte statt der Wärme, die man doch eigentlich bewahren möchte.
Kinder weiterhin in den sozialen Gesten zu unterweisen ist von eminenter Bedeutung, da sie aber gebrochen sind durch den derzeit sich vollziehenden Kulturbruch, ergibt sich insbesondere für Mütter eine neue Aufgabe, die nicht einfach ist. Die oben erwähnte Magdalene von Tiling schreibt:
Für das innere Verhältnis zu den Menschen außerhalb der Familie ist aber für die Kinder das Verhalten der Mutter schlechthin entscheidend. Die Kinder lernen, daß die Mutter Menschen außerhalb der Familie liebt und ihnen dient, Menschen, die den Kindern anfangs Fremde sind. (…) Alle Wärme und Liebe, alles Hören des Anspruchs des andern, muß immer wieder durch die Mütter in der nächsten Generation lebendig werden. (Grundlagen pädagogischen Denkens, S.172)
Gegenwartsmütter müssen, so das Kind nicht mehr ganz klein ist, eine Reflexionsschleife extra drehen: den Kindern durch eigenes Verhalten spürbar vermitteln, daß die eigene Wärme beim fremden anderen nicht immer auf Gegenliebe stößt, daß viele soziale Formen jetzt bewußt abgeschafft werden und wir, die wir an ihnen festhalten wollen, uns dazu souverän verhalten müssen. Erklärungen werden nötig sein – ihre feste Grundlage sind aber miterlebte Begegnungen.
10. Anstrengungsbereitschaft setzt Ansprache durch die wirkliche Welt voraus. Anspruch: Dies hier will jetzt und genau von Dir getan werden, es gibt keinen bequemen Ausweg.
Der hier auf der Sezession im Netz schon diskutierte chinesische Philosoph Tingyang Zhao sieht in seinem Buch Alles unter dem Himmel eine Diktatur der freiwilligen Kontrolle durch den Wunsch nach Komfort und Service heraufziehen. Er schreibt:
Der Rundum-Service liefert scheinbar ein Höchstmaß an Wahlfreiheit und Gleichheit. (…) Der eine oder andere mag sich diesem Rundum-Service verweigern, aber von diesem Recht werden vermutlich nur wenige Gebrauch machen, da sie damit auch auf lebensnotwendige Dienstleistungen verzichten müssen. (…) Betrachtet man die heutige Situation, stellen Systeme wie Banken, soziale Netzwerke, Medien und Märkte bereits anfängliche bzw. partielle Zusammenflüsse von Serviceleistungen und Macht dar. Man kann sich vorstellen, dass künftige technologische Systeme Bestandteil von Diktaturen der Rundum-Versorgung mit Dienstleistungen werden. (S. 217f.)
Das strikte Gegenteil von Servicementalität ist Anstrengungsbereitschaft. Mir drängt sich der Verdacht auf, daß Onlineunterricht in Kombination mit der Zweitrealität der sozialen Medien und dem physischen Eingesperrtsein die Kinder als ideale Bewohner der Neuen Weltordnung zurichtet. Man wählt im Spiel zwischen tools und tasks und skins und kommt sich schon als Zehnjähriger mächtig individuell vor (“Mein Charakter hat …”). Man ist ständig auf “Anerkennungs-Likes” aus, die das Programm algorithmisch nahelegt. Bildschirmlernen kann “anstrengend” sein, im Sinne von: ermüdend, zäh und frustrierend, zur Abwechslung (damit man dranbleibt) auch mal befriedigend und effektiv, aber eines kann es nie: Anstrengungsbereitschaft fördern. Denn, siehe oben, Anstrengungsbereitschaft setzt Ansprache durch die wirkliche Welt voraus.
Die Gefahr ist übergroß, daß wir unsere Kinder an die “Diktatur der Rundum-Versorgung mit Dienstleistungen” (in der Adoleszenz werden dann Futterlieferung, Sport als systemrelevante “Selbstoptimierung” und die “körpernahen Dienstleister” attraktiv) verlieren. Durch die Verquickung von “Serviceleistungen und Macht” (Zhao) entsteht ein historisch präzendenzloses Szenario.
Exakt aus diesem Grunde ist Anstrengungsbereitschaft die notwendigste Tugend der Erziehung: ohne sie gleiten die Kinder auf ebenem Weg direkt in die “smarte” Konditionierung. Ein Leser kommentierte unter Teil (2):
Wir können nur ahnen, welche Anstrengungen es für die Kinder später mal bedeuten wird, die induzierte Angst wieder abzuschütteln, zu transzendieren, mit Hauruck-Stolz in was anderes zu verwandeln.
Zwei Gründe für Anstrengungsbereitschaft ergeben sich: der bisher stärksten Verführungsmacht in der Menschheitsentwicklung widerstehen zu können und, eng damit zusammenhängend, sich als Individuum eines Tages selbst entängstigen zu können.
Im Erziehungsbuch habe ich noch den unmittelbaren Weg starkgemacht: Kinder Erprobungssituationen aussetzen, ihnen Pflichten auferlegen, sie in Natur und Technik elementare Handgriffe lehren, ihnen den Sinn des sinnlichen Übens be-greifbar machen. Ich glaube, inzwischen ist der Weg noch schwerer geworden. Je größer die Notwendigkeit der Anstrengungsbereitschaft wird, desto geringer wird die Möglichkeit ihrer Anbahnung durch Erziehung.
Ich strenge mich selber an, um die letzten pädagogische Möglichkeiten zusammenzukratzen und stelle fest, daß Anstrengungsbereitschaft eine Notlage voraussetzt: es gibt keinen bequemen Ausweg. Dadurch erst ist man wirklich genötigt, sich anzustrengen, doch noch Lösungen zu finden. Vorher nicht. Die Wirkungen elterlicher Anstrengungsbereitschaft sind in mehrfacher Beziehung wirksam: entweder findet man plötzlich doch eine ungeahnte anstrengende Arbeit, oder die Mühen der Großen teilen sich den Kleinen atmosphärisch mit, oder es fährt dem Heranwachsenden ein “Hauruck-Stolz” in die Glieder, oder … Anstrengungsbereitschaft steckt an.
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Caroline Sommerfelds Wir erziehen. Zehn Grundsätze (2. Auflage) kann (und sollte) man hier bestellen.
zeitschnur
Kann man ja alles so nachvollziehen und unterschreiben, nur: Wieso sind es ausgerechnet so viele der Alten, die mit einer surrealen Inbrunst all den Unfug glauben, sich selbst durch Masken und Impfungen schädigen und einen irrlichternden Hass gegen die Jugend entwickelt haben, die ihnen angeblich so gefährlich werden kann?
Wie wurden sie erzogen?
Zu 8: Daran hats bei denen noch nicht gefehlt - oder doch?
Zu 9: Ich frage Sie wieder danach, in welcher "Autorität" Leute möglichst lang gehalten werden sollten, denn zum "Anderssein" gehört auch eine antiautoritäre Note. An dem Punkt finde ich Ihre Ausführung immer wieder verkürzt bzw sie packen die Dialektik, die hierin verborgen ist, nicht an.
Zu 10: Diese Älteren lebten ihr Leben lang in der "analogen" Welt, viele bis heute, sie haben keine digitalen Geräte. Und doch gerade sie ... War es bei ihnen die Glimmerwelt v.a. des Fernsehens?
Kommentar Sommerfeld: Es ist ja keineswegs so, daß bei der Eltern- und Großelterngeneration alles superprima gelaufen ist. Erziehungsgrundsätze sind anthropologische Richtschnüre. So nimmt der Grad der bewußten Abkehr bzw. unbewußten Desorientierung im Laufe des 20. Jahrhunderts zu. Zur Autorität: Friedrich Gogarten Wider die Ächtung der Autorität, 1930 ist hier einschlägig. Es geht um das aufblickende Verhältnis des Kindes zu Mutter, Vater und (gutem) Lehrer, das überhaupt erst ermöglicht, daß sich das ältere Kind daraus befreien kann und entwicklungspsychologisch auch muß (zeitlich folgen die Schwerpunkte Autorität und Freiheit einander, sind aber während ihrer Geltungsdauer bereits vom jeweils anderen Pol mitbestimmt). Dieses Verhältnis entspricht auf Erden dem Verhältnis des Menschen zu Gott: Aufblicken, Hinaufgezogenwerden, Empfangen. Es ist ein - dessen bin ich mir bewußt - aufgrund der Freiheit des Menschen ausgesprochen fragiles Verhältnis, denn nur allzuleicht kann es mißbraucht werden.