3. Lichtmesz an Abramovych
Wien, 18. 10. 2023
Lieber Herr Abramovych,
ich danke für die ausführliche Antwort. Aufschlußreich ist nicht nur, was Sie sagen, sondern auch, was Sie nicht sagen. So habe ich Ihnen am Ende meines Briefes vier (meiner Ansicht nach wichtige) Fragen gestellt, die Sie komplett unter den Tisch fallen ließen. Ich werde Sie am Ende meiner Replik nochmal wiederholen.
Sie haben mir eine Menge zum Kauen gegeben, und ich kann aus Platzgründen nicht auf jeden Punkt ausführlich eingehen. Aber ich will versuchen, das Knäuel, das Sie mir hingeworfen haben, systematisch zu entwirren.
Sie stellen die These auf, daß es heute nur noch „zwei Typen Juden“ gäbe: „den antinationalen, globalistischen (ins Jüdische übersetzt: diasporistischen) linken Juden, oder den Nationaljuden“. Dabei sei letzterer „natürlich weit eher geneigt“ eine in meinem Sinne „‘ethnopluralistische’ Einrichtung der Welt zu akzeptieren“, eine Formulierung, mit der Sie mir offenbar diesen „Nationaljuden“ als quasi „natürlichen“ Verbündeten anempfehlen wollen. Das wäre ja schön und gut und theoretisch logisch, wenn die Wirklichkeit nicht etwas komplizierter wäre als Ihre etwas holzschnittartige Gegenüberstellung.
Der „diasporistische“ Jude ist heute überwiegend keineswegs mehr der Jude, der „nicht er selbst sein“ oder seine „eigene Art auflösen“ will. Sondern er ist jener Jude, der eine andere Konzeption der jüdischen Existenz verfolgt als der „Nationaljude“, die sich aber nicht minder als prononciert jüdisch begreift.
Diesbezüglich ist etwa die jüdisch-amerikanische Zeitschrift The Forward eine ergiebige Fundgrube (z. B. in diesem Artikel habe ich einiges daraus zitiert). Deren Autoren haben häufig den amerikanischen Rechtszionismus, der sich finanziell und medial hinter Trump gestellt hat, scharf kritisiert, und für eine jüdische Identität plädiert, die sich von der als „weiß“ markierten Noch-Mehrheitsgesellschaft der USA abgrenzt und die Rolle eines rechtmäßigen humanitären Anwalts (quasi eines „Lichts der Völker“) für Minderheiten und „Diversität“ spielen soll.
Forward erteilt aber auch immer wieder konservativen und zionistischen Autoren das Wort, und steht momentan firm auf israelischer Seite, ohne seine Kritik an der Regierung Netanjahu auszusetzen.
Exemplarisch für diese Art Jude, die momentan in den USA vorherrscht, wäre etwa der linksliberale Journalist Jonathan Weisman, der in seinem Buch (((Semitism))) – Being Jewish in the Age of Trump (2018) schrieb:
The Jew flourishes when borders come down, when boundaries blur, when walls are destroyed, not erected.
Der Jude blüht auf, wenn Grenzen fallen, wenn Trennlinien verschwimmen, wenn Mauern zerstört, nicht errichtet werden.
Weisman will den Juden nicht “auflösen”; er will ihn ausdrücklich “aufblühen” lassen. Er denkt, daß dies besser in einer multikulturellen, “offenen” Gesellschaft funktioniert als in Israel. Er ist dabei keineswegs ein prinzipieller Feind des jüdischen Staates, aber auch der Ansicht, daß die „rechtsextreme“ („far right“) Politik Netanjahus daran schuld sei, daß die Entfremdung zwischen amerikanischen und israelischen Juden („the world’s two largest Jewish communities“) im letzten Jahrzehnt drastisch angewachsen ist, was faktisch sicher zutrifft.
Und immerhin hat sogar die Anti-Defamation League (ADL), eine der mächtigsten jüdisch-zionistischen „pressure groups“, in ihrem Jahresbericht 2022 (alibihalber?) den „jüdischen Rassismus“ kritisiert, der sich im politischen Diskurs Israels bemerkbar mache. Hier gibt es offenbar starke innerjüdische Meinungsverschiedenheiten darüber, was politisch „gut für die Juden“ ist, und wie viel Liberalität sich Israel erlauben kann, ohne sich, frei nach Sarrazin, „abzuschaffen“.
Das ist nur ein Beispiel, um anzudeuten, daß die Konstellation doch etwas komplizierter ist, als Sie es darstellen. Der „globalistische“ Jude ist heute jedenfalls nur noch selten ein Assimilationist, der sein Judentum loswerden will. Warum auch, wenn es ihm eine Menge sozialer Privilegien verschafft? Von außen betrachtet hat man es also mit zwei Formen jüdischer Identität zu tun, die aber nicht immer trennscharf voneinander abgrenzbar sind. Gewiß trifft es zu, daß der “Nationaljude” eher noch für eine “ethnopluralistische” Weltordnung zu gewinnen wäre.
Nun nennen Sie Rechtsintellektuelle und rechte Parteipolitiker aus anderen europäischen Ländern, die angeblich gegenüber Israel „entspannter“ und „rationaler“ seien als ich und andere Neurechte, womit Sie mir so ganz nebenbei Verkrampfung und Irrationalität unterstellen.
Da fällt ausgerechnet der Name Alain de Benoist, weil er in seinem Buch Wir und die Anderen ein paar Dinge über das Judentum geschrieben hat, die Ihnen gefielen. Nun.
2018 äußerte Benoist in einem Interview, „Palästina“ sei „natürlich nie ein ‘Land ohne Volk’“ gewesen, was anzunehmen ein großer Fehler der Zionisten gewesen sei. Der Zionismus habe auch insofern seine Ziele nicht erreicht, als ausgerechnet Israel heute jener Ort auf der Welt ist, an dem Juden am meisten bedroht seien.
Beide Seiten, die israelische wie auch die palästinensische, hätten auf ihre Weise Recht, denn man habe es hier nicht nur mit einem „politischen, strategischen, territorialen oder demographischen“, sondern „in erster Linie” mit “einen religiösen und metaphysischen Konflikt“ zu tun, der wie alle metaphysischen Konflikte „nicht verhandelbar“ sei (da hat er sich in allzu abstrakte Sphären begeben, finde ich).
Den französischen Rechten, denen es gefällt, daß man in Israel auf Palästinenser schießt, weil sie gerne „Ähnliches in den Banlieues sehen würden“, riet er, „eine Weile in den besetzten Gebieten zu leben“:
Sie werden feststellen, daß die beiden Situationen nicht vergleichbar sind, daß die “Besatzer” nicht dieselben sind und daß es nicht sehr logisch ist, den “großen Austausch” in Frankreich zu beklagen, während man in den besetzten Gebieten den großen Austausch von Palästinensern (die dort auch ihre Heimat haben) durch israelische Siedler unterstützt.
Ich erspare Ihnen andere Zitate aus diesem Interview (eines noch: „Wenn eine reguläre Armee mit scharfer Munition auf Demonstranten schießt, die nur mit Steinen, Stöcken, Molotowcocktails und Drachen ausgerüstet sind, nennt man das ein Massaker“).
Sie nennen Renaud Camus, der meiner Ansicht nach einem stark idealisierten Bild von Israel verhaftet ist und dessen Meinung hierzu für mich nicht maßgeblich ist; Sie nennen Marine Le Pen, weil sie ganz unverkrampft und rational gemeint hätte, „Israel habe nun das Recht, die Hamas vollständig vom Erdboden zu tilgen“ (eine Ansicht, die gerade unter westlichen Politikern Mainstream ist); Sie nennen den auch von mir geschätzten Eric Zémmour, der als Jude verständlicherweise eine besondere persönliche Beziehung zu Israel hat, nicht anders als Alain Finkielkraut.
Und wenn Sie für die „europäischen Nachbarländer“ konstatieren, „je rechter, desto proisraelischer, je linker, desto antizionistischer“, dann ist das zunächst einmal weniger Beweis für Entkrampfung und Rationalität als für die Macht bestimmter politischer Einflußnahme, zumal die zionistische Ausrichtung in der Regel ein todsicherer Indikator für die transatlantische Leine ist, an der diese Parteien hängen (zumindest in Westeuropa).
Und da sind wir auch schon beim großen, unhaltbaren Schwachpunkt Ihrer Position, jenem Kernpunkt des „Ich-seh-etwas-was-du-nicht-siehst“.
Sie nehmen es Thor von Waldstein übel, daß er angesichts Israels von „Menschenrechten schwadroniert“, wie Sie verächtlich formulieren. Es scheint Sie aber auch zu empören, wenn gewisse „AfD-Vertreter“ den „Völkermord an den Uiguren“ verschweigen oder abstreiten oder als bloßen Vorwand für „Menschenrechtsimperalismus“ hinstellen.
Dann fällt der Vorwurf von „zweierlei Maß“ jedoch auf Sie selbst zurück! Denn Sie erwecken den Anschein, als ob das „Menschenrechte“-Argument völliger Nebbich sei, sobald Israel davon betroffen ist, nicht aber, wenn es um andere Länder wie China (oder Rußland, Syrien, den Iran?) geht.
Dabei muß man von Waldstein einfach faktisch recht geben: Die Völker- und Menschenrechtsverletzungen Israels, die sich in Jahrzehnten brutaler und rücksichtsloser Okkupation, Landnahme und asymmetrischer Kriegsführung angehäuft haben, sind in einer überwältigenden Fülle bezeugt und dokumentiert. Wenn Sie hierin schon einen unüberwindbaren Stein des Anstoßes erblicken, dann wird es schwierig, eine ernsthafte Diskussionsbasis zu finden. (Ich sehe den Einwand kommen: Nein, ich lehne das Konzept der “Menschenrechte” keineswegs pauschal ab. Siehe Ethnopluralismus S. 36/37.)
Wie Sie es fertig bringen, diese Tatsachen kaltschnäuzig zu leugnen oder herunterzuspielen, würde mich immer von Neuem verblüffen, würde ich darin nicht das untrügliche Merkmal eines Gläubigen, eines „true believer“, erkennen, der nicht sehen will, was nicht sein darf. Das ist Ihre Sache und das ist eine Sache; eine andere ist es, andere in diesen Konflikt hineinziehen zu wollen.
Auf die israelische Gewaltherrschaft in den besetzten Gebieten hinzuweisen, hat nichts mit „Moralinsäure“ zu tun, sondern mit analytischer Redlichkeit. “Sowas kommt von sowas”, und wenn man das nicht versteht oder verstehen will, kommt es immer wieder.
Ansonsten ist man auf ein Narrativ angewiesen, das seine Lücken mit Propagandamythen füllen muß: Demgemäß handeln die Palästinenser aus purem, irrationalem Judenhaß oder weil sie im Koran judenfeindliche Suren gelesen haben, nicht etwa, weil sie durch die israelische Besatzungspolitik radikalisiert wurden, über Generationen hinweg enteignet, vertrieben, schikaniert, eingesperrt, terrorisiert, verwundet, gefoltert, verkrüppelt und getötet wurden (das ist dann konkret, was “Völker- und Menschenrechtsverletzungen” in diesem Kontext bedeutet). Auf die Weise kommt man zu keinem Verständnis der Situation; man tappt im „Nebel des Krieges“.
Kommen wir zu dem Argument, daß die Palästinenser “kein Volk“ wären, das ich von Zionisten oft gehört habe. Das erscheint mir als eine Art von semantischer Magie, von der manche denken, sie könnte die konkrete Existenz und Identität von Millionen Menschen einfach „wegdefinieren“.
Dabei behaupten Sie, es sei „ein äußerst bezeichnendes Beispiel“ für mein „zweierlei Maß“, daß ich entgegen meiner „sonstigen Maßstäbe“ darauf bestehe, „die ‘Palästinenser’ seien ein Volk.“ Zu diesem Zwecke verweisen Sie auf mein Buch Ethnopluralismus, Seite 111, wo ich angeblich „Volk vornehmlich als fußend auf ‘Abstammung’ einerseits und ’staatlicher Gemeinschaft’ andererseits“ definiere.
Wir haben es hier jedoch vielmehr mit einem äußerst bezeichnenden Beispiel für Ihre sehr oberflächliche und selektive Lektüre zu tun. Ich liefere in diesem Kapitel, das Sie als Beleg anführen, nämlich keine eigene (schon gar keine „neurechte“) Definition von „Volk“, sondern ich analysiere die Herkunft und die mehrdeutige Semantik dieses Begriffes:
»Volk« im nationalen Sinne (also nicht als »Bevölkerung«) wird im Gegensatz zur »Ethnie« meistens mit einer staatlichen Ordnung in Verbindung gebracht. Das zeigt sich auch in seinem Doppelcharakter als ethnos und demos, die im Nationalstaat eine Synthese eingehen.
Als nächstes zitiere ich die Definition 12e aus dem Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm und kommentiere sie so:
Ethnische Zugehörigkeit allein genügt demnach nicht, um wahrhaft »Volk« zu sein, wobei es auch den Fall staatenloser (Juden) oder multiethnischer Völker (Schweizer) gibt – in dem einem Fall (Juden) wird die Abstammung betont, in dem anderen (Schweizer) die staatliche Gemeinschaft. Die Gebrüder Grimm erwähnen auch, daß man »neben dem deutschen volke von preuszischen, bayerischen, würtembergischen volke« spräche und fügen hinzu: »in diesem sinne kämpft das wort mit dem fremdwort nation, in dem die vorstellung des einigenden scharf ausgeprägt ist.« Dieses Fremdwort definieren sie so: »das (eingeborne) volk eines landes, einer groszen staatsgesamtheit.«
Wenn überhaupt, dann habe ich in diesem Kapitel dargestellt, daß dieser Begriff naturgemäß unscharfe Konturen hat und sich Völker auf verschiedene Weise konstituieren können. Innerhalb dieses Bedeutungsfeldes kann man sehr wohl von einem „palästinensischen“ Volk sprechen, in Sinne einer bestimmten ethnischen Gruppe mit gemeinsamer Abstammung, Herkunft, Sprache, (weitgehend) Religion, einem gemeinsamen Schicksal, einer konkreten Verortung, einem ausgeprägten „Wir-Gefühl“ und politischen Zielen.
Diese erfüllten Kriterien reichen völlig aus, um die Palästinenser als „Volk“ anzusprechen. Die weltweit verstreuten Juden, denen der Staat Israel ein „Rückkehrrecht“ einräumt, haben eine weitaus heterogenere Herkunft. Die Tatsache, daß sie dem arabischen Gesamtvolk angehören, widerlegt die spezifische Identität der Palästinenser keineswegs, da es ja auch verschiedene arabische Nationen und Staaten mit unterschiedlicher Geschichte und ethnokultureller Zusammensetzung sowie unterschiedlichen politischen Interessen gibt. Jedenfalls bedarf es offensichtlich eines Begriffs, diese spezifische Gruppe zu benennen und zu unterscheiden, und hinter diesem Begriff steht eine Realität, mit der man rechnen muß.
Palästinenser sind genausowenig „beliebige Araber“, die genauso gut woanders leben könnten, wie Israelis „beliebige Juden“ sind, sondern man bezeichnet damit eine spezifische, örtlich, staatlich, historisch, national eingrenzbare Gruppe von Juden, die innerhalb des jüdischen Gesamtvolkes unterscheidbar ist. Zugespitzt gesagt: Die politischen Ereignisse von 1948 haben aus Juden in Palästina „Israelis“ und aus Arabern in Palästina „Palästinenser“ gemacht (auch wenn dieser Begriff erst in den sechziger Jahren gebräuchlich wurde), also neue politische Entitäten mit eigenen politischen Interessen geschaffen.
Es trifft zu, daß etliche palästinensische Führer ihren Kampf unter panarabischen (oder manchmal auch großsyrischen) Gesichtspunkten führten. Aber das sind spezifische politische Bestrebungen, die heute nur mehr eine geringe Rolle spielen (abgelöst durch islamistische Zielsetzungen, die den im Kern ethnischen Konflikt mit einem verstärkten Gewaltpotential aufladen). Dies ändert nichts an der Tatsache, daß Millionen Araber, Flüchtlinge von 1948 und deren Nachkommen, im „großisraelischen“ Raum mit vollem international anerkanntem Recht ein Heimatrecht beanspruchen.
Es ist nachweisbar, daß viele bedeutende zionistische Führer der Gründerzeit davon ausgingen, daß sie es mit einem konkreten Volk zu tun hatten, das ebenfalls Rechte auf diesen von ihnen beanspruchten Raum geltend machen kann. Ben-Gurion betonte 1930 in Berlin, die Zionisten müßten respektieren,
… daß eine große Anzahl Araber jahrhundertlang in Palästina gelebt hat, daß ihre Väter und Vorväter dort geboren und gestorben sind und daß Palästina auch ihr Land ist, wo sie in Zukunft leben wollen.
Zeev Jabotinsky erklärte 1921:
Heutzutage bilden die Juden eine Minderheit, in weiteren zwanzig Jahren könnten sie durchaus in der Mehrheit sein. Wenn wir Araber wären, wurden wir dem auch nicht zustimmen. Und auch die Araber sind gute Zionisten, wie wir. Das Land ist voll von arabischen Erinnerungen.
Chaim Weizmann sprach 1930 von „zwei Nationen“, die sich legitimerweise Palästina teilen, die eine „bereits in voller Stärke vertreten“, die andere bislang nur durch einen „Vortrupp“ repräsentiert. Robert Weltsch nannte die Araber in Palästina 1925 „ein Volk, das seit Jahrhunderten im Lande lebt und mit vollem Recht dieses Land als sein Vaterland und seine Heimat betrachtet. (…) Palästina wird stets von zwei Völkern bewohnt sein, von Juden und Arabern.“
Das sind nur ein paar beispielhafte Zitate unter vielen (der Aufsatzsammlung Ein Land, zwei Völker von Martin Buber entnommen). Meine Position ist, entgegen Ihrer Unterstellung, völlig konsistent, und ich mache hier keineswegs eine Ausnahme, etwa um Israel aus reiner Boshaftigkeit eins auszuwischen. Ihre Behauptung „nach keinem neurechten Kriterium sind die Palästinenser ein Volk“ hat keine Grundlage.
Es liegt indes auf der Hand, welchem mundanen Zweck die Rede von der Nichtexistenz eines palästinensischen Volkes dient: Der politischen Delegitimation seiner Interessen, denen die Hyper-Legitimität einer jüdischen Hyper-Identität gegenübergestellt wird, die jedem x‑beliebigen Juden auf diesem Planeten ein volkhaft begründetes „Rückkehrrecht“ einräumt, das Abkömmlingen von Nicht-Juden, die das Land seit Generationen besiedelt haben, jedoch verwehrt wird. Das ist ein schlagendes Beispiel von „zweierlei Maß“, das seine einzige Begründung in der Annahme eines jüdischen Exzeptionalismus hat.
In diesen Delegitimierungsversuch scheinen mir auch mehr oder weniger “metaphysische” Motive hineinzuspielen, was mich nicht wundert, da der Anspruch der Zionisten auf Palästina im wesentlichen metaphysischer Natur ist (einen schlüssigen “metaphysischen” Anspruch auf Jerusalem haben meiner Ansicht nach alle drei “abrahamitischen” Weltreligionen).
Dieser ganzen Spielerei mit Worten steht die schlichte Tatsache gegenüber, daß die Palästinenser nun mal eine eigene Identität und einen eigenen politischen Willen haben, an dem sie beharrlich festhalten. Das kann man ihnen nicht mit rabulistischen Argumenten „ausreden“. Ich kann darin nichts anderes sehen als den Versuch, eine ethnische Gruppe auf der semantischen Ebene auszulöschen, um sie letzten Endes auch auf der physischen Ebene auszulöschen – oder zumindest sich ein gutes Gewissen zu verschaffen, sich auf ihre Kosten durchgesetzt zu haben.
Ich muß jetzt aus Platzgründen ihre Ausführungen zum Scheitern des Palästinenserstaates, die offenbar den Zweck der Abweisung jeglicher israelischer Verantwortung für die Lage in Gaza haben, sowie einige Aspekte Ihrer Ausführungen zum „Schuldkult“ übergehen.
Dies aber sei gesagt: Selbstverständlich zieht der Staat Israel aus der Annahme der „Singularität“ des Holocaust, aus der Annahme eines singulären jüdischen “Opferstatus”, sein hauptsächliches moralisches, historisches und politisches Kapital. Mit diesem Narrativ untrennbar verbunden ist die Annahme einer singulären Täterrolle der Deutschen.
Deshalb wirkt sich dieses Narrativ in Deutschland diametral zu Israel aus: Israelische Schulklassen werden (wie in dem Film „Defamation“ dargestellt) in die ehemaligen Konzentrationslager geführt, um ihren nationalen Wehrwillen zu wecken und zu steigern; deutsche Schulklassen jedoch, um ihren nationalen Wehrwillen zu brechen. Wir können also nicht beide zu (sozusagen) demselben Gott beten.
Dieses Argument enthält einen logischen Denkfehler:
Dieser überzeugte Diasporajude, der Auschwitz universalistisch interpretiert, wird sich, ebenso wie der “Philosemit”, immer gegen die aus seiner Sicht Starken, mithin gegen die Weißen, einsetzen, weil er überall ein neues Auschwitz an den jeweils austauschbaren “neuen Juden” wittert. Der Täter aber ist bei ihm nicht austauschbar.
Der Zionist (der jüdische wie der nichtjüdische) hingegen, der Auschwitz ansieht als Versuch, das jüdische Volk (und eben kein anderes) auszurotten, sieht den jeweiligen Feind an als die Rute, die Gott verwendet, um die vom jüdischen Volk Abgefallenen zu strafen, d.h. als austauschbar. Deshalb ist er auch weit eher geneigt, die Deutschen nicht als ewiges Feindbild zu betrachten.
Natürlich ist der Täter für denjenigen, der Auschwitz universalistisch interpretiert, austauschbar, da ja auch das Opfer austauschbar ist. Das zeigt sich schlagend bei jenen nicht selten anzutreffenden israelkritischen Juden, die in den Palästinensern die „neuen Juden“ und in den zionistischen Juden die „neuen Nazis“ erblicken.
Der jüdische Psychoanalytiker und ehemalige KZ-Häftling Viktor Frankl hat diese universalistische Auslegung 1988 quasi in Reinform formuliert, als er sagte: „Ich wage die Behauptung, daß grundsätzlich jede Nation holocaustfähig ist.“
Damit meinte er nicht “nur”, daß jede Nation imstande sei, einen Genozid an Juden zu begehen, sondern daß jede Nation prinzipiell genozidfähig sei, daß jedes Volk potenzielles Opfer wie potenzieller Täter sei. Da er auch die Vorstellung einer “Kollektivschuld” ablehnte, präzisierte er: “Es gibt eigentlich nur zwei Menschenrassen, die Rasse der anständigen Menschen und die Rasse der unanständigen Menschen, und die Rassentrennung geht quer hindurch durch alle Nationen.” Ich glaube nun zwar, daß es auch biologisch bestimmbare Rassen “gibt”, aber ich stimme Frankl zu, was das genozidale Potenzial jeder Nation und jedes Volkes angeht. Und natürlich denke ich auch, daß es in jedem Volk “anständige” und “unanständige” Menschen gibt.
Armin Mohler stellte dieses Zitat Frankls als Motto seinem Buch Der Nasenring (1990) voran, einer Generalkritik der “Vergangenheitsbewältigung”. Sein Anliegen war es, via Frankl die These vom singulären Tätertum der Deutschen zu entkräften, indem er die Fähigkeit zum Genozid als schreckliches anthropologisches, aber nicht genuin deutsches Potenzial hervorhob.
Mohler, vertieft in die deutsche Perspektive, sah allerdings nicht, daß die Frankl’sche Universalisierung des Holocaust auch ganz anders verwendet kann. Dazu muß sie freilich “inkonsequent” angewandt, also nur teil-universalisiert (um es paradox zu sagen) werden. Die Schuld des Deutschen wird nur durch diese (identitätspolitisch motivierte) Inkonsequenz zur Schuld „des weißen Mannes“ (und dieses allein) erweitert, dessen Opfer nicht nur Juden, sondern Minderheiten und Nichtweiße aller Art sind, bis hin zu Muslimen, die Juden im allgemeinen nicht allzu wohlgesonnen sind.
Die zionistische Auslegung von Auschwitz, die Sie zitieren, ist jedoch ein Stück jüdische Theologie, das mich als Nicht-Juden nichts angeht, und die meiner Ansicht auch sonst niemanden etwas angehen muß. Es handelt sich hier um eine moderne, säkulare Form der Idee, daß der Gott des auserwählten Volkes der Gott aller Völker sein soll. Das ist der Universalismus, der im jüdischen Partikularismus steckt. Hier drückt sich ein manipulativer, judäozentrischer, im Kern religiöser Herrschaftsanspruch aus, der als solcher erkannt und zurückgewiesen werden muß.
Ich kann verstehen, daß Israel nach Unterstützung jeglicher Art sucht, weil es sich nicht selbst erhalten kann und auf fremde Hilfe angewiesen ist, insbesondere der USA. Aber mir ist bislang entgangen, daß sich irgendein Politiker Israels um das Existenzrecht europäischer Nationen sorgen würde, die wie ihr eigenes Land von demographischen Entwicklungen bedroht sind (die wiederum eng mit Vorgängen im Nahen Osten verbunden sind).
Was ich nicht verstehe, ist, was denn nun genau das große, wunderherrliche „politische Angebot“ sein soll, das die „außerhalb Israels lebenden Nationaljuden“ Ihrer Meinung nach den deutschen Rechten machen können, also etwa Sie mir (da muß ich nun ein wenig schmunzeln)?
Ein gnadenvolles „erlösendes Wort“ sprechen? (Sie zitieren Mohler mit Sicherheit sinnentstellend!). Jene Deutschen, die sich der israelischen Sache bedingslos anschließen, wie sie von einer bestimmen Fraktion von rechten Juden vertreten wird (längst nicht von allen), zur Belohnung vom ewigen Amalekitertum freizusprechen? Das ist der Deal? Dann würden uns wie von Zauberhand „realpolitische Möglichkeiten“ und „eine potentielle Waffengleichheit gegenüber der politischen Linken“ offenstehen? Hab ich das richtig verstanden?
Mit Verlaub, das ist nicht nur fern jeglicher Realität – es ist schlichtweg anmaßend. (Hier habe ich vor drei Jahren näher ausgeführt, warum dies eine neokonservative Fata Morgana voller leerer Versprechen ist.)
Ein gedanklicher Kurzschluß ist auch dies:
Jene Juden, die nach wie vor den Nationscharakter des Judentums herunterspielen oder gar leugnen, eignen sich keineswegs für Allianzen mit der politischen Rechten anderer Völker. Daher ist es schlichtweg unredlich, sich als deutscher Rechter auf die israelische Linke zu berufen (denn einem israelischen Rechten fiele es im Traum nicht ein, sich auf Habermas oder ähnliche „Denker“ zu berufen).
Nun: Ich habe den Eindruck, daß in Ihren Augen jeder Jude den “Nationscharakter des Judentums herunterspielt oder gar leugnet“, der nicht Ihrer eigenen harten politischen Linie folgt oder der sich ein wenig mehr als Sie an die Tatsachen hält, was Wesen und Geschichte des jüdisch-arabischen Konflikts in Israel-Palästina angeht. Wenn hier irgendetwas „unredlich“ ist, dann, muß ich leider sagen, ist es Ihre manichäische Parteilichkeit, die nach politischer Ausrichtung entscheidet, wer eine legitime Meinung vertritt und wer nicht, unabhängig davon, wie sie begründet wird.
Oder wollen Sie mir ernsthaft sagen, daß ich als „deutscher Rechter“ nur für bare Münze nehmen darf, was israelische Rechte über den Konflikt in ihrem Land (und über ihre eigene Politik und deren Folgen) denken? Heißt das, ich müßte qua Rechtssein auch das Geschichtsbild polnischer Rechter oder ukrainischer Nationalisten übernehmen? Haben etwa israelische, polnische, ukrainische und deutsche Rechte die gleichen Geschichtsbilder und die gleichen Interessen?
Und welcher israelische Rechte teilt denn qua Rechtssein etwa Armin Mohlers Meinung zum Holocaust (und zum Holocaustrevisionismus), Hans-Dietrich Sanders und Ernst Noltes Meinung zum Judentum und zu Israel oder Günter Maschkes Meinung zum amerikanischen Hegemon? Mit bloßen Analogieschlüssen verheddern Sie sich heillos in einem selbstgesponnenen Netz.
Denn es ist doch ganz einfach: Ich kann mich “berufen” auf wen ich will, wenn er etwas Substantielles und Begründetes zu sagen hat. Das wichtigste Kriterium ist die Wahrheit. Norman Finkelstein, ein linker Antizionist, der den israelisch-palästinensischen Konflikt sehr gut und aus unmittelbarer Anschauung kennt, hat minutiös und überzeugend die Lügen von Alan Dershowitz, einem rechten Zionisten, widerlegt. Es sind die Argumente, die entscheiden, nicht die politische Ausrichtung.
Und wenn Sie sagen, „einem israelischen Rechten fiele es im Traum nicht ein, sich auf Habermas oder ähnliche ‘Denker’ zu berufen“, dann möchte ich gerne wissen, in welcher Hinsicht denn und zu welchem Zweck? Und geht es darum, was linke deutsche Denker über Deutschland – oder was sie über Israel gesagt haben? Und meinen Sie nicht, daß es einen mentalen Unterschied gibt zwischen den Denkern einer besiegten, „umerzogenen“, mit Schuldkomplexen beladenen Nation wie Deutschland, die sich selbst als ewiger Täter, und denen einer siegreichen, nationalbewußten Nation wie Israel, die sich selbst als ewiges (potentielles) Opfer betrachtet?
Israelische Rechte und die maßgeblichen Denker der BRD (nicht nur die dezidiert linken oder linksliberalen), haben etliche Schnittmengen, etwa was die singuläre Bedeutung des Holocaust und die weltgeschichtliche Sonderstellung der Juden als “Opfervolk” und der Deutschen als “Tätervolk” angeht. Dies hat in Deutschland neben dem “Schuldkult” jenen damit verknüpften “Philosemitismus“ hervorgebracht, den Sie verspotten, wenn er sich nicht vorbehaltslos zum Staat Israel und seiner Politik bekennt. Aber auch die aktuelle haltlose Zustimmung der medialen Klasse zu den israelischen Vergeltungsschlägen in Gaza ist Frucht dieser “philosemitischen” Mentalität, die vor allem auf die Re-Education zurückgeht.
Zum Schluß noch dies:
Und wer sich aus reiner Animosität zu schade dafür ist, sich für eine der beiden Optionen zu entscheiden, muss sich nicht wundern, wenn er von jüdischer Seite als politischer Feind betrachtet wird.
Falls ich damit angesprochen sein soll: Meine Position ist klar identitär begründet (ebenso die sehr ähnlichen Positionierungen von Martin Sellner und Götz Kubitschek); ich sehe keinerlei Vorteil für die deutsche Rechte, sich im israelisch-palästinensischen Konflikt einer der beiden Seiten anzuschließen oder die AfD auf eine „zionistische“ Linie zu bringen. Auch in diesem aktuellen Interview mit dem Heimatkurier habe ich klargemacht, warum ich so denke.
Von „Animosität“ (erst Recht „reiner“, ganz so, als hätte ich keine konkreten Gründe angegeben) kann also keine Rede sein. Auch nicht von übertriebener Pingeligkeit (von wegen „sich zu schade“ sein). Ich hätte nichts dagegen, jeden einzelnen Palästinenser in Deutschland in seine Heimat zurückzuschicken – was den Interessen Israels allerdings eher zuwiderliefe.
Als nächstes stellen Sie geradezu eine Drohung in den Raum, nach dem Motto „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“, der klassischen Formel monotheistischer Fanatiker. Ich für meinen Teil „wundere“ mich über gar nichts. Ich kenne schließlich die Methoden, mit denen manche „jüdische Seiten“ (im Plural) jene als „politische Feinde“ (im Plural) markieren und stigmatisieren, die sich ihren Agenden (im Plural) nicht anschließen wollen oder sie kritisch betrachten, egal, ob aus „Animosität“, aus rationalen Gründen des Eigeninteresses oder sonstiger Vorbehalte, in der Tat auch moralischer (und nicht bloß “moralinsaurer”).
Und nun nochmal meine vier Fragen an Sie aus dem ersten Brief:
Wie fühlt man sich, wenn man einem Volk angehört, das von allen Seiten das Recht auf Vergeltung zugesprochen bekommt? (Ich weiß, eine eher persönliche Frage. Aber ich würde es wirklich gern wissen!)
Haben Sie mit dem derzeitigen Vorgehen Israels gegen Gaza, das faktisch auf einen Massenmord an Zivilisten hinausläuft, tatsächlich keinerlei moralische Probleme?
Hat der Vergeltungsschlag Ihrer Meinung nach über die Vergeltung hinaus einen vertretbaren politischen Zweck?
Und wie können Sie es vereinbaren, sich via AfD in der nationalen Bewegung Deutschlands zu engagieren, während gleichzeitig Ihre primäre Loyalität einem anderen Staat, Israel, zu gelten scheint? Noch dazu als Jude, der die Assimilation in eine deutsche Identität dezidiert ablehnt?
Verzeihen Sie mir, wenn ich an dieser Stelle etwas lästig bin – aber irgendeiner muß es ja sein.
Beste Grüße aus Wien
Ihr Lichtmesz
Der_Juergen
Eine grossartige Replik von Martin Lichtmesz.
Dass Arthur Abramovych als Jude vorab israelische Interessen vertritt, darf man ihm gewiss nicht ankreiden, aber die Haltung Gaulands und vieler anderer AFD-Leute ist schlicht widerlich. Wie kann man sich so kriecherisch gegenüber einem Staat verhalten, für den die BRD wahlweise eine Milchkuh oder ein Fussabtreter ist, aber nie etwas anderes?
Den vielen des Russischen kundigen Sezession-Lesern empfehle ich dringend, sich diesen langen Kommentar von Valeri Pyakin zu Gemüte zu führen:
Валерий Викторович Пякин. Вопрос-Ответ от 16 октября 2023 г. - BadPolit.ru
Es gibt an Pyakin einiges auszusetzen, aber diesmal liefert er eine Analyse, die ebenso brillant wie brisant ist. Er legt dar, was jeder Denkfähige von Anfang an ahnte: Es ist eine radikale Unmöglichkeit, dass Israel mit seinem erstklassigen Geheimdienst nichts von dieser Operation, die monatelange Vorbereitung erfordert hat, erfuhr. Es wollte den Raketenbeschuss, es wollte das Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung, um den Vorwand für einen grossen Krieg zu erhalten, der die Karten im Nahen Osten neu mischen und den Israelis als Rechtfertigung für eine unfassbar brutale Massenvertreibung dienen soll. Dass die Terrorgruppe Hamas eine britisch-israelische Gründung ist, ist ebenfalls bekannt und wird von Pyakin ausführlich dokumentiert.