Der Veranstaltungsort paßte aufgrund seiner Obskurität recht gut zu dem abgefuckten, notorischen Ruf, der dem Werk mittlerweile vorangeht. Versteckt in einer Seitenstraße der Großstadt, im Keller eines leerstehenden Altbaus, der nur über eine Wendeltreppe erreichbar war, bis an die Decke vollgestopft mit antiquarischen, gut sortierten Büchern aller Art, fanden sich bei Kerzenlicht (Stromversorgung gab es nicht) etwa dreißig Besucher ein.
Das Publikum war wild, aber auf seltsame Weise stimmig zusammengewürfelt. Die anwesenden Frauen waren ausschließlich schön, etwa die Hälfte davon Typ Anarcho-Bohème (oder sowas) mit langen, dunklen Haaren, Stirnfransen, schwarzen Klamotten und Tätowierungen. Vereinzelt sah man junge, konservativ-katholische Damen mit aufgeräumtem Aussehen und eleganten, geschmackvoll gewählten Kleidern (eine war ganz in gelb gekleidet, passend zum Einband des Buches). Ich erspähte auch drei bekannte Gesichter aus dem “451”-Lesekreis.
Auffallend war auch ein junger Mann, der aussah wie Tim Roth in seiner Skinhead-Rolle in Made in England, mit Ohrringen und einem NON-Shirt. Dann der bekannte Kopf einer vor allem in der “schwarzen Szene” beliebten Kultband, die seit den späten achtziger Jahren aktiv ist. Anwesend war auch Castrum-Chef Ledio Albani, Verleger von Schwaerzels Roman, mit Stefan-George-Frisur, gelber, gepunkteter Krawatte und schwarzer Lederjacke.
Büchermenschen, obskure Romanautoren, Foucault-Anhänger und Spenglerianer, Literaten und Cineasten. Einer hatte wie seinerzeit ich selber das von Peter Kubelka initiierte Programm “Was ist Film?” im Filmmuseum in der Albertina beinahe komplett durchgesessen, also auch die extrem langweiligen oder extrem krassen Experimentalfilme, die den in der Regel ohnehin recht spärlich besuchten Saal rapide zu leeren pflegten. Mit anderen sprach ich über Veit Harlan und Kenneth Anger, QRT und Christian Böhm-Ermolli. Mit anderen Worten, ich fühlte mich ziemlich zuhause.
Zu trinken gab es für eine freie Spende Dosenbier und ein widerlich schmeckendes Kirschlikör, das sich selbst als “Wikingergetränk” ausgab und dessen Flaschen mit Runen geschmückt waren. Es stand kistenweise zur Verfügung, gratis entnommen aus den Resten einer Firma, die in Konkurs gegangen war.
Schwaerzels Outfit und Gesichtszüge erinnerten mich an den “Pickup-Artist”-Kaiser der 2000er Jahre, “Mystery” Erik von Markovik, inklusive Kajalstift unter den Augen und schwarz lackierten Fingernägeln. Ob ich das erfunden habe, oder ob er in Wirklichkeit eher so aussieht wie auf dem Autorenfoto des Castrum-Verlages, überlasse ich den Lesern. Das ärmellose Shirt offenbarte kräftige Oberarme, somit scheinen die “Gym”-Exzesse, die in seinem Buch eine gewichtige Rolle spielen, nicht aus zweiter Hand zu stammen.
Sein Vorlesestil war passiv-aggressiv, mit leiser, unbetonter Stimme, sodaß es mitunter rein akustisch schwierig war, ihm zu folgen. Das erinnerte mich an einen anderen “kontroversen” Autor, Peter Sotos (gugeln auf eigene Gefahr), den ich vor vielen Jahren einmal in Berlin lesen hörte, und der sich auf ähnliche Weise keinerlei Mühe gab, seinem Nischen-Publikum irgendetwas etwas zu “bieten”.
(Sotos “kontrovers” zu nennen ist einerseits geradezu euphemistisch, was den extremen, grausamen Inhalt seiner Bücher angeht, auf einer anderen Ebene allerdings auch schon wieder nicht ganz wahr, angesichts der Tatsache, daß er mit Gaspar Noé abhängt und im Centre Pompidou und im Palais de Tokyo in Paris auftreten durfte. Seine Texte sind schwarze Löcher, widerlich und deprimierend genug, um als “Kunst” durchzugehen und auch im subventionierten Mainstream als Spartenprogramm geduldet zu werden. Überhaupt ist das Konzept des “transgressiven” Künstlers mausetot und nur mehr eine Scharade für leichtgläubige Romantiker. Aber davon ein andermal.)
Schwaerzel jedenfalls eröffnete die Lesung mit dem “Disclaimer”, daß der Ich-Erzähler seines Buches selbstverständlich nicht er selber, sondern eine Kunstfigur sei, und daß er in keiner Weise zu Gewalt, Terrorismus, Homemade-Bombenbasteln, Transensex oder Selbstverstümmelung aufrufe.
Im Interview mit Volker Zierke äußerte er, sein “Schizoid Man” sei “ein Terrorist, das jedoch in seiner ureigensten Form, da ihm jede Ideologie oder Zielsetzung fehlt.”
Das paßt zu “Klassikern” wie Boris Sawinkow oder auch Luis Buñuel (ein Kommunist), der in seiner Autobiographie Mein letzter Seufzer schrieb:
Die Symbolik des Terrorismus, die unserem Jahrhundert zu eigen ist, hat mich immer angezogen. Ich meine den totalen Terrorismus, der auf die Zerstörung jeder Gesellschaft zielt, der ganzen menschlichen Rasse. Aber ich habe nur Verachtung für die, die aus dem Terrorismus eine politische Waffe im Kampf um irgendeiner Sache willen machen.
Es gab und gibt natürlich auch immer wieder den Fall, daß sich der geborene Terrorist eine politische Ideologie aussucht wie ein Vehikel, das seinen Willen zum Terror optimal zum Ausdruck bringt. Und dieser Wille zählt mehr als die Ideologie, in die er sich kleidet. Insofern ist es in der Tat irreführend, auf der Frage herumzureiten, ob Schwaerzel nun ein “Faschist” sei oder nicht, weil sich sein schwer pathologischer Protagonist so nennt. (Hier ist jemand der Meinung, es handle sich um einen “faschistischen” Roman.)
Schwaerzel wich dieser Frage aus dem Publikum spielerisch aus, distanzieren wollte er sich zwar nicht, weil das schwul sei (meine Worte), erklärte sie aber für letzten Endes irrelevant und “sooo 1930”. Das stimmt zweifellos.
Das Wort “Faschist” ist selbst bei den wenigen, die es heute aus diesem oder jenem Grund selbstaffirmativ benutzen, nur mehr eine Chiffre für einen Erhitzungsgrad meistens asozialer, latent gewalttätiger, dem gesellschaftlichen Konsens maximal feindselig gegenüberstehender Intensität, den man sich selbst zuschreibt, und mit dem man immer noch einigermaßen zuverlässig den Bourgeois schockieren kann. (Dann darf man auch nicht mehr im Centre Pompidou oder wo auch immer auftreten und mit kantigen Filmregisseuren abhängen.)
Einen roten Faden, der zu einem bestimmten Typus “Faschisten” führt und der auch in Schwaerzels Textgewebe deutlich eingeflochten ist, hat Günter Maschke apropos Drieu La Rochelle beschrieben:
Der faschistische Intellektuelle ist der radikale décadent. Er kann den ihn quälenden Wertnihilismus nur ertragen, weil er glaubt, daß sich das wirkliche Leben erst im Ausnahmezustand enthüllt; im Krieg oder im Augenblick der Gefahr. Diese Abhängigkeit vom Äußersten verrät die Schwäche für den Alltag, der auch seinen Heroismus hat. Die vitalistische Substanz wird gefeiert, weil sie fehlt. Nicht in ihr wurzelt die Gier nach starken Erregungen, sondern sie steigt aus dem Rausch und dem Traum, ist aus flüchtigem Stoff, nach der Anspannung, die ganz von der schönen Geste lebt, kommt die Erschöpfung, die Verzweiflung, der Zynismus.
Der Ästhetiker der Gewalt und der Politik mag dann seine wichtigste Überzeugung wiederfinden: daß die einzige Realität im Leben die Illusion ist. Diese Überzeugung kann zu narzißhaften Entblößungen führen, zum Spielen mit erschreckenden Wahrheiten. Die Eitelkeit dessen aber, der elegant formulierend und mit kokettierender Schamlosigkeit auf seine Geschwüre zeigt, auf seine Amoralität und seine erschreckende Niedrigkeit, vermag zu betören. Die Eitelkeit, die Erkenntnis und die große ästhetische Form durchdringen sich und steigern einander.
Schwaerzel begann mit dem Kapitel “Peroxid-Gnosis”:
Nein, Frau Lehramtstudentin, wir sind nicht alle Teil von Mutter Erde. Wir sind genmutierte Affen, die Gott vergessen hat, aus seinem Spam-Ordner zu löschen. Das ist nicht unsere Heimat. Wir sind auf einer Hausparty, in der wir nur den Gastgeber kennen. Und er hat vor zweitausend Jahren einmal gesagt, er kommt gleich zurück.
Das wiederum erinnert an eine berühmte Stelle aus dem artverwandten (Film/Roman) Fight Club:
You are not a beautiful and unique snowflake. You are the same decaying organic matter as everyone else, and we are all part of the same compost pile. / We are the all singing, all dancing crap of the world.
Nach diesem “gnostischen” Statement betritt der Protagonist das Studio einer Prostituierten mit zerritzten Unterarmen, um das “Königreich Gottes” dem Kerker seiner “zweibeinigen Masse aus Fleisch, Knochen und Magensäure” zu entreißen, durch eine den Körper zerstörende, den Geist befreiende “Apokalypse”, eine “Gnosis des atomaren Vernichtungskrieges” in Form einer Penetration durch einen Umschnalldildo.
Um Analsex geht es auch im nächsten Kapitel (die Kapitel sind generell sehr kurz, manche nur eine Seite lang):
In einer Rede vor der UN redet eine Menschenrechtsaktivistin davon, dass wir unsere “Mauern zerbrechen” müssen. Aber Mauern zerbrechen, heißt nicht mehr, als den Nachbarn beim Analsex zuhören zu müssen. Und das ist eigentlich alles, woraus das Ganze hier besteht. Analsex in verschiedenen Kombinationen.
Schwaerzel beendete die Lesung ziemlich rasch und abrupt, gewährte jedoch den Publikumswunsch nach einer Zugabe. In der anschließenden Fragerunde zu seiner Person, zeigte er wesentlich mehr Verve als während der Lesung seines Werkes.
Ein paar wohlfeil abschätzige Bemerkungen über Martin Sellner und die Pfuigittigkeit seines politischen Aktivismus reizten Yours Truly zum entschiedenen Widerspruch: Sellner, so sprach ich, sei vielmehr ein “happy warrior”, ein real existierender Übermensch, der Eier und Nerven aus Stahl hat und im Gegensatz zu manchem von Extremsituationen träumenden Literaten sich im realen Leben in unzählige gefährliche, waghalsige, adrenalinsteigernde Situationen begeben hat, der eine öffentliche Schmutzflut von Verfemung als Terroristenfreund und “Faschist” lächelnd wie ein Filmstar ertragen hat, wo andere schon wegen viel weniger heulend eingeknickt wären.
Ihm nach so vielen harten Dollars, die er auf den Tisch gelegt hat, vorzuwerfen, daß seine politischen Überzeugungen ernstgemeint und nicht bloß ästhetische Pose sind, erscheint mir ziemlich kleinkariert.
Auch Schwaerzels Lobpreisungen der “Lüge”, die allzu geistreich sein wollten, überzeugten mich nicht. Ein Autor, der Fiktionen schafft, “lügt” nicht im eigentlichen Sinne. Der Autor, dem man als Leser vertraut, ist jener, der durch Fiktionen nicht vernebeln und verdrehen, sondern eine Wahrheit zum Ausdruck bringen möchte.
Damit meine ich nicht notwendigerweise, daß er Allegorien schreiben oder “Botschaften” verpacken soll (das tut der Literatur meistens nicht gut), sondern daß er dem Leser etwas Wahres oder frei nach Werner Herzog etwas “ekstatisch” Wahres über sein Dasein im sterblichen Kerker des Fleisches erzählt.
Ich, Herzog Werner, geboren 1942, sage, dass sich Wahrheit, eine bestimmte, tiefere Schicht von Wahrheit, nur erreichen lässt durch Stilisierung und Inszenierung und Erfindung. Ich nenne es die ekstatische Wahrheit.
Mir fiel Yukio Mishima ein, ein Autor, den Schwaerzel in seinem Buch namentlich nennt und den er erklärtermaßen sehr schätzt. Mishima ist ein Paradebeispiel für einen ästhetischen Terroristen, bei dem niemand so recht weiß, inwiefern sein politisches Engagement nur Vehikel für seine Kunst war, die wiederum eine obsessive, leidenschaftliche Seele zum Ausdruck brachte.
Dem jungen Mishima wurde der Vorwurf gemacht, ein allzu “reiner”, allzu manierierter Künstler ohne Bezug zur Realität zu sein. In der Tat litt er zeitlebens unter dem Problem, daß die Wörter im Kopf “wie weiße Ameisen” am Leben des Leibes fraßen.
Seine Romane waren zu großen Teilen Fantasien, die seinen innersten Begierden und Sehnsüchte eine erzählerische Form gaben. Sein dramatisch inszenierter, öffentlicher Seppuku sollte Kunst und Leben, Schwert und Feder vereinen, und vor allem auch seine Aufrichtigkeit zum Ausdruck bringen und unter Beweis stellen: Das ist der symbolische Sinn der aus dem Leib hervorquellenden Eingeweide. Im Kontext seiner “Performance” sind sie nur eine Metapher oder ein Schriftzeichen; aber der Mann, der sich ihrer entledigt hat, ist tatsächlich tot.
Was bleibt Schwaerzel, der offenbar tatsächlich so jung ist, wie er behauptet (Jahrgang 2002), nach so einem säurezerfressenen Rundumschlag von Buch noch zu schreiben übrig? Ein Gast zitierte das berühmte Urteil eines Rezensenten über Huysmans Dekadenz-Bibel Gegen den Strich: “Nach einem solchen Buch bleibt dem Verfasser nur noch die Wahl zwischen der Mündung einer Pistole und den Füßen des Kreuzes.”
Von beidem scheint mir Schwaerzel weit entfernt zu sein. Er kann kalkuliert eine Melodie spielen und variieren (wie Lautréamont), aber spürt er sie auch wirklich, kommt sie aus seinem Inneren? Brennt’s dort wirklich oder ist es vielleicht nur entzündet? Oder nicht einmal das?
Ich bin trotzdem gespannt, was als nächstes kommt. Unzweifelhaft ist der Autor äußerst talentiert. Vielleicht wird ja nun eine Art Adalbert-Stifter-LARPer aus ihm, um alle bisherigen Fans von Blut, “Faschismus” und Analsex vor den Kopf zu stoßen.
Die Stille kann indes ebenso trügen wie der Lärm, und auch Stifter endete als Selbstmörder.
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Sebastian Schwaerzel: Schizoid Man, 280 S., hier bestellen
Frika Wies
Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrundauch in dich hinein.(Friedrich Nietzsche)