Die französische Erstausgabe des Heerlagers der Heiligen mit handschriftlichen Anmerkungen des Autors, die diesem zu wertvoll erschien, um sie dem Risiko einer Postsendung auszusetzen. Schließlich gelangte sie in meine Hände, persönlich im Schloß Pikkendorff von Schnellroda abgeholt, um mir bei meiner Neuübersetzung seines berühmtesten Romans zu Diensten zu sein.
Ich plante, Raspail dieses Exemplar nach Abschluß der Arbeit persönlich zurückzubringen. Einen Termin im November 2015 sagte Raspail brieflich ab, da er sich nicht gut fühlte. Just an dem Wochenende, an dem ich ihn besuchen sollte, am Freitag, dem 13. November 2015, ermordeten Islamisten in Paris 130 Menschen und verletzten hundert weitere.
Raspail war sich im Ungewissen, wann er wieder Besucher empfangen könne, und vielleicht hat er bereits damals über seinen Tod nachgedacht, was angesichts seines hohen Alters nicht verwunderlich gewesen wäre. Er schrieb mir, ich solle das Buch behalten, er mache es mir zum Geschenk. So bin ich heute stolzer Erbe dieses einzigartigen Exemplars. Diese erste, kaum auffindbare Ausgabe seines Romans aus dem Jahr 1973 enthält Raspails handschriftliche Streichungen und Veränderungen, die (meines Wissens) ab der dritten Auflage (1985) übernommen wurden.
Meine Neuübersetzung entstand im Schicksalsjahr 2015 unter fiebrigem Zeitdruck. Sie erschien Ende Juli, drei Wochen nach Raspails 90. Geburtstag, und zwei Monate vor Öffnung der deutschen Grenzen durch Angela Merkel. Es war das richtige Buch zur richtigen Zeit, und wurde zu einem der größten Erfolge unseres Verlages.
Es war nicht unser erster Raspail: 2013 war der Roman Sieben Reiter verließen die Stadt erschienen, 2014 hatte ich die (vergriffene) Kompilation Der letzte Franzose zusammengestellt, übersetzt von Benedikt Kaiser und mir. Sie enthielt mehrere Interviews mit dem Autor aus den Jahren 1993 bis 2016 sowie zwei Essays: “Die Tyrannei des Duzens” und “Big Other” über die Wirkungsgeschichte des Heerlagers der Heiligen und seine Bedeutung für die heutige Zeit, eine Beigabe zur französischen Neuauflage im Jahr 2011, die in Frankreich großen Erfolg hatte.
Ursprünglich war nur vorgesehen, die alte deutsche Übersetzung aus dem Jahr 1985 zu “frisieren”. Dieses Buch hatte mir um 2005 einen schweren Schock versetzt, und meine Weltsicht wohl für immer verändert. Als ich es wieder aufschlug, und mit der Originalfassung verglich, entdeckte ich etliche Kürzungen, Streichungen und Übersetzungsfehler, die mitunter ziemlich skurril waren: so wurde aus einem Rotwein namens “Juliénas”, mit dem sich Machefer, der Herausgeber einer konservativen Zeitung, tröstet, ein nicht weiter beschriebener Mensch, der allabendlich zu Besuch kommt. Darum beschlossen wir, das Buch komplett neu zu übersetzen.
Zusätzlich verwirrend war, daß die Hohenrain-Ausgabe aus irgendeinem Grund etliche Passagen aus der ersten Fassung, die von Raspail entfernt worden waren, beibehalten hatte; andere Teile des Buches entsprachen wiederum seinen Korrekturen. Dabei hatte er etwas geschlampert, denn er ließ einige Sätze wie lose Fäden übrig, die ohne die gestrichenen Stellen keinen Sinn ergeben. Diese habe ich dann stillschweigend ausgelassen. Unsere Ausgabe entspricht der französischen von 2011 und ist etwa 30–40 Seiten länger als die alte deutsche Übersetzung.
Angesichts der etlichen Abschnitte und Seiten, die Raspail gestrichen hat, bedaure ich es, daß wir nicht die erste Fassung von 1973 herausgebracht haben, die stellenweise die spätere an politisch unkorrekter Schärfe übertrifft. Am liebsten hätte ich das Beste beider Versionen kombiniert, aber das wäre nicht im Sinne des Autors gewesen. Stark gekürzt wurde von ihm etwa die Geschichte des Abtes Dom Melchior, der mit seinen altersschwachen Mönchen an den Strand aufbricht, an dem die “Armada der letzten Chance” landen wird, um gemäß der alten biblischen Prophezeiung den Antichristen zu konfrontieren, die Monstranz mit der heiligen Hostie in den zitternden Händen.
Dabei trifft die humpelnde, teilweise senile Greisenprozession auf den abgefallenen progressiven Priester Chassal, der ebenfalls an den Strand eilt, um die “eine Million Christusse” willkommen zu heißen. Nun entspinnt sich ein Dialog zwischen Dom Melchior und Chassal, in dem deutlich wird, daß der Abt gar nicht an Gott glaubt, daß seine Treue allein der Tradition gilt, die es bis zum letzten Atemzug aufrechtzuerhalten gilt:
Man muß das Stück, so wie es geschrieben wurde, bis zu Ende spielen. Wir sind die Kirche der letzten Tage. Nicht zahlreicher als am Anfang.
Diese Szene ist nun in der Hohenrain-Version fast vollständig erhalten, während sie in der Antaios-Version nach den Vorgaben Raspails stark gekürzt ist. Ich denke, er wollte hier den Eindruck abschwächen, daß er die Religion generell für eine reine Maskerade hält. Dieser Eindruck wird sicherlich relativiert durch den Roman Der Ring des Fischers. Für Raspail war im religiösen Bereich vor allem der Sinn für das Heilige und Schöne und die Treue zur Tradition entscheidend. Das Heilige aber ist im Heerlager abwesend, umso präsenter sind unerklärliche, dämonische Mächte, die eine satanische Parodie der christlichen Heilsgeschichte in Gang setzen.
Allerdings könnte man bei der Lektüre den Eindruck bekommen, daß das Christentum selbst der Teufel ist, vor allem im Stadium seiner Dekadenz und Altersschwäche. Es erscheint einerseits als Quelle eines messianischen Massenwahns und einer pathologischen Mitleids- und Sklavenmoral, wie sie ein Nietzsche kaum gnadenloser anprangern hätte können, andererseits als edler Budenzauber, dessen Inhalt man nicht allzu ernst nehmen sollte.
Dieser “Budenzauber” hatte jedoch für Raspail eine tiefere Bedeutung, denn es war ihm eine Frage der Ehre, Treue und Pflicht, wenn nicht des Glücks, für dieses Theater mit unerschütterlicher Haltung zu leben und zu sterben, entsprechend einer markanten Stelle des Romans, die man als sein persönliches Credo ansehen könnte:
Die ihre Traditionen wirklich lieben, nehmen sie nicht allzu ernst. Sie reißen Witze, während sie ins offene Feuer marschieren, weil sie wissen, daß sie für etwas kaum Greifbares sterben werden, etwas, das ihren Fantastereien entsprungen ist, das halb Spaß, halb Humbug ist. Oder vielleicht subtiler ausgedrückt: Die Fantastereien verbergen eine aristokratische Scheu, die sich nicht dabei erwischen lassen will, für so etwas Lächerliches wie eine Idee zu kämpfen. Darum drapiert sie sich mit herzzerreißendem Trompetengebläse, hohlen Phrasen und nutzlosem Goldflitter und gestattet sich damit die höchste Freude, das Leben für eine Maskerade zu opfern.
Das hat die Linke nie verstanden, und darum ist sie so sehr von Haß und Verachtung erfüllt. Wenn sie auf eine Fahne spuckt, auf eine Gedenkflamme pißt oder ein paar alte Säcke in Baskenmützen verhöhnt (um nur ein paar Beispiele zu bringen), dann nimmt sie sich selbst furchtbar ernst, und wenn sie sich dabei sehen könnte, würde sie merken, daß sie schlimmer ist als jene, die sie als »reaktionäre Arschlöcher« beschimpft.
Die wahre Rechte ist niemals so verbissen. Darum wird sie von der Linken so gehaßt, etwa so wie der Henker einen Verurteilten haßt, der auf dem Weg zum Galgen lacht und sich über ihn lustig macht. Die Linke ist ein düsterer Brand, der verzehrt und zerstört. Sogar ihre Feiern sind, dem äußeren Anschein zum Trotz, eine grausige Sache, wie etwa die Marionettenparaden von Nürnberg und Peking. Die Rechte ist eine fröhlich tanzende Flamme, ein flackerndes Irrlicht in einem dunklen, ausgebrannten Wald.
Als ich Raspail im März 2016 endlich begegnete, und ihn im Zuge eines Interviews, das gefilmt wurde, auf die gestrichenen Bekenntnisse des traditionstreuen, aber ungläubigen Dom Melchior in der ersten Fassung des Heerlagers ansprach, reagierte er etwas gereizt und abwehrend, wie er auch überhaupt keine Fragen mochte, die ihm als Geschichtenerzähler zu theoretisch, zu philosophisch, zu “intellektuell” erschienen. Dies war seine Antwort:
Hören Sie, ich werde auf all das nicht eingehen, ich finde das sehr ermüdend und außerdem bin ich weder ein Philosoph noch ein Experte noch ein Denker und so weiter; das ist nicht meine Aufgabe. Aber in allen meinen Büchern gibt es in der Tat eine Sache, auf die man mich immer wieder hingewiesen hat, und von der ich weiß, daß sie eine große Rolle spielt, und das ist die Haltung. H‑a-l-t-u-n‑g. Die Haltung. Nicht die Pose, das ist nicht dasselbe. Die Haltung. Alle meine Figuren haben eine Haltung. Es ist nicht erforderlich, Überzeugungen zu haben, um Haltung zu besitzen; die Haltung erzeugt oft die Überzeugung. Warum glauben Sie, daß man die Soldaten in schöne Uniformen einkleidet und ihnen Musik vorspielt, und warum glauben Sie, daß man recht schöne Hochzeiten veranstaltet, warum? Die Haltung ist fundamental. Das ist es, was für mich den Menschen ausmacht, ich habe das immer und immer wiederholt in meinen Büchern.
Das Interview ist in der Sezession 73 vom August 2016 nachzulesen. Ein paar Monate zuvor, am 6. April 2016, war in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein ausführlicher Bericht meines Begleiters Konrad Weiß über unseren Besuch bei Raspails erschienen. Weiß sollte später für Antaios Die blaue Insel und für seinen eigenen Verlag Karolinger Die Axt aus der Steppe übersetzen.
Was die FAZ angeht, so hat sie dank der Initiative von Lorenz Jäger immer wieder das Werk Raspails kontinuierlich ins Gedächtnis gerufen. Es war Jäger, der 2005 das Heerlager aus der Versenkung holte, während Jürg Altwegg den Autor 2011, anläßlich der Neuauflage des Buches in Frankreich, vom Vorwurf des Rassismus freisprach. Ein Jahrzehnt später, gerade eben also, läßt die FAZ Simon Strauß Raspail ins Grab nachspucken, mit einem Nachruf, der nur allzu deutlich verrät, daß der Autor seine Kenntnisse lediglich aus zweiter Hand bezogen hat (alles, was man über das Heerlager wissen müsse, sei, daß Marine Le Pen und Steve Bannon es genannt haben).
Was nun meinen Besuch bei Jean Raspail angeht, so habe ich ihn in der 73. Druckausgabe der Sezession geschildert. Da mein mündliches Französisch miserabel ist, bat ich Konrad Weiß, seines Zeichens Abgesandter des frankophilen Karolinger-Verlags, mich als Dolmetscher zu begleiten.
Im März 2016, wenige Monate vor seinem 91. Geburtstag, standen also die beiden cavaliers aus Wien, durchnäßt von einem spätwinterlichen Hagelsturm, endlich vor Raspails Wohnung im noblen 17. Bezirk, unweit des Triumphbogens. Zuvor hatten wir noch mit etwas Lampenfieber in einem Café beraten, welche Fragen wir ihm stellen wollten. Unvergeßlich wird mir der Moment bleiben, als sich die Tür öffnete und der Konsul von Patagonien persönlich vor mir stand und mich mit seinen leuchtenden blauen Augen freundlich anstrahlte, mit aufrechter Haltung, bekleidet mit einem alpinen Trachtenjanker.
Im Laufe des Abends, den wir mit ihm und seiner nicht minder rüstigen Gattin Aliette verbrachten, mit der er seit 65 Jahren verheiratet war, und die er nach alter französischer Art siezte, zeigte sich Raspail gut gelaunt, rüstig und heiter. Kurz zuvor hatte er Besuch von seinem japanischen Übersetzer erhalten, weshalb er immer wieder die japanische Nationalhymne vor sich hintrötete. Sein Wohnzimmer glich dem eines Kapitäns im Ruhestand: überall hingen Gemälde und Zeichnungen mit maritimen Motiven, und eine Wand war für eine imposante Sammlung von Buddelschiffen reserviert.
Raspails Arbeitszimmer war randvoll mit unzähligen Erinnerungsstücken, Reisesouvenirs und Raritäten aus zehn Jahrzehnten, inklusive Spielzeugeisenbahnen, Schiffsmodellen und Zinnsoldaten. Eine farbige Zeichnung von Jacques Terpant zeigte den jungen Raspail, schon damals mit seinem charakteristischen gallischen Schnauzbart, in Pfadfindermontur, in jenem Kanu, mit dem er die „Wasserwege des Königs“ bereiste, die ehemaligen französischen Besitzungen in Nordamerika von Quebec bis New Orleans. Es hing zwischen dem Originaltitelbild von Heerlager der Heiligen, dessen Auflagen, Übersetzungen und Raubdrucke einen Regalmeter füllten, und einem Porträt Ludwigs XVI.
Seine Bibliothek wurde bewacht von einer kleinen Spielzeugarmee von Chouans, den königstreuen Rebellen, die sich in der Vendée gegen die Jakobinerherrschaft erhoben, während über der Tür die Fahne des von Antoine de Tounens erträumten Königreichs Patagonien prangte. Er zeigte uns auch das Modell eines kleinen schwarzen Citroen etwa aus dem Jahre 1930, der Dienstwagen seines Vaters, der im Saarland Generaldirektor für Bergbau war.
Um seinen deutschsprachigen Besuchern eine Freude zu machen, verwies er auf zwei seiner Lieblingsbücher, die mit Deutschland und Österreich zu tun haben, und wie nicht anders zu erwarten, vom Untergang einer Welt handeln: Marion Gräfin Dönhoffs Abgesang auf Ostpreußen, Namen, die keiner mehr nennt, und Joseph Roths Roman Radetzkymarsch, den er nach eigener Auskunft zehnmal gelesen hatte.
Wir beschlossen den Abend mit Champagner, Wein aus dem Sancerre, Foie gras (Gänsestopfleber) und Bouillabaisse, einem aus Marseille stammenden Fischgericht. Zuletzt baten wir Raspail noch, uns einen Turm mitgebrachter Bücher zu signieren. Auch dieser Bitte kam er geduldig nach, „denn das gehört zum Beruf“. Als mein frankophoner Begleiter und ich wieder in das Paris des Jahres 2016 zurückkehrten, allmählich aus unserer Audienz beim Markgrafen wie aus einem Traum erwachten und in die überfüllte Métro stiegen, fühlten wir uns ein wenig wie Silvius von Pickendorff und Maximilian Bazin du Bourg in der letzten Szene der Sieben Reiter.
Zum Abschied sagte Raspail zu uns: „In fünf Jahren werde ich tot sein. O doch! Ich hoffe.“ Vier hatte er noch vor sich.
Zu Raspails Status als Fabeltier gehörte nicht nur sein “Prophetentum”, sondern auch sein hohes Alter. Sein bloßes Dasein hatte etwas von einem Wunder. Er lebte lange genug, um mitzuerleben, wie seine makabren Visionen und satirischen Zuspitzungen Wirklichkeit wurden. Als Royalist und romantischer Abenteurer, geboren in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, erschien er wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten, die schon in seiner Jugend lange vorbei waren. Dennoch war er eine lebendige Verbindung in das Frankreich von gestern, nicht nur des Kolonialreiches, sondern des Ancien Régime, der Helden und Heiligen. Es tat gut zu wissen, daß er immer noch am Leben war und rege die Entwicklungen der Weltgeschichte verfolgte.
Die erste Hommage schrieb ich 2010, anläßlich seines 85. Geburtstages. Hartnäckig blieb er noch ein Jahrzehnt lang unter uns, und bekam gerade in seinen letzten Lebensjahren vermehrte Aufmerksamkeit als “prophetischer” Autor. Von der Jungen Freiheit bis zum Spiegel stattete man ihm Hausbesuche ab, und selbst letzterer brachte einen vergleichsweise fairen Artikel. Es war schwer, sich seinem persönlichen Charme zu entziehen oder ihm den Respekt zu versagen. Er selbst verkörperte in hohem Maße die “Haltung” und aristokratische Tugend, die in seinen Büchern eine so große Rolle spielt.
Der_Juergen
Dieser wunderbare Artikel erweckt in mir den Wunsch, nach dem "Heerlager" und den eben bestellten "Sieben Reitern" alle anderen Werke dieses grossen Mannes zu lesen - gemächlich, ohne Hast, so wie man eine gute Flasche Wein nicht in ein paar hastigen Schlucken leert.
Was Lichtmesz über die Raspail-Rezension in der FAZ schreibt, spricht Bände über den Niedergang einer Zeitung, die man nicht unbedingt lieben musste, aber doch achten konnte. War einmal. Mit demselben Recht könnte man sagen, alles, was man über Brecht wissen müsse, sei, dass Ulbricht und Honecker ihn irgendeinmal lobend erwähnt hätten. Kann ein Rezensent noch viel tiefer sinken?
Kositza: Beide Einlassungen von S. Strauß in der FAZ (2019 und 2020) zum "Heerlager" zeugen zwar davon, daß er kein begeisterter Raspail-Leser ist. Das muß man aber nicht sein. Ich bins auch nicht. Die FAZ ist irgendwann vor vielen Jahren gewiß abgesunken, aber grad an diesem Rezensenten liegt das sicher nicht.
ML: Diese beiden platten, zum Teil verleumderischen und konformistischen Einlassungen im Vergleich zu Jäger, Altwegg und Weiß sind Absinker genug, wenn man mich fragt.