Die Jubiläumsausgabe der Netzfundstücke kam über die letzten Wochen bedrohlich näher, jetzt ist sie da. Hundert Mal habe ich seit dem 11. März 2019 im »Worldwide Web« gewühlt, um Sie auf Interessantes und im besten Fall für Sie Neues zum Wochenende aufmerksam zu machen.
Dabei lernt man so manches, vor allem über das eigene Surfverhalten und die Funktionsweise von Netzalgorithmen. Mal schnell bei Twitter was Ausgefallenes in der eigenen »Timeline« finden, damit war ich meistens schlecht beraten. Eher wurde ich auffällig oft mit Tweets gefüttert, die Sezession-Redakteur Benedikt Kaiser gefallen.
YouTube, fast noch schlechter. Sie werden es kennen: Ein Video über den Schwarzwald angeklickt und man bekommt, abgesehen von sofort aufploppender Werbung zu Ferienwohnungen im Schwarzwald, gehäuft Videos von SWR und Co zum Mittelgebirge in Süddeutschland serviert.
Und je länger ich als »neurechter« Publizist arbeite und schreibe, desto enger werden die Korridore. Wenn ich schlicht nach meinen unmittelbaren Netzergebnissen ginge, dann bekämen Sie jede Woche eine Auswahl, die sich in etwa wie folgt gliedern würde: Antaios-Kosmos, Jungeuropa-Kosmos, Ökologie.
Sie merken, abgesehen von ersterem, was, solange es Neues aus dem Antaios-Kosmos gibt, für die Fundstücke obligatorisch ist, schaffe ich es dann meistens, aus diesen engen,vorgezeichneten Bahnen auszubrechen. Manchmal gelingt es einfacher, manchmal etwas schwerer.
Das Resümee nach hundert Netzfundstücken: Das Netz ist wohl einer der deprimierendsten Orte der Welt. Es lockt mit Freiheit, derweil es es einen mit Hilfe von Cookies und Netzalgorithmen in den engstirnigsten Realitätsraum einsperrt, den man sich ausmalen kann.
Hundert Netzfundstücke haben vor allem eines vor Augen geführt: wie die eigenen Interessen technisch eingegliedert werden und daraus resultierend eine technisierte Aufmerksamkeitssteuerung erfolgt. Der Umwelthistoriker Rolf Peter Sieferle beschrieb diese Zwänge der Moderne in seinem Band Rückblick auf die Natur wie folgt:
Per Saldo hat in der Transformationsphase [Industrialisierung] der Zwang zur Konformität, zur Eingliederung in umfassendere technische und bürokratische Systeme enorm zugenommen, ohne daß man sich über die Dramatik dieser Entwicklung völlig im klaren wäre. Die Menschen haben einen großen Teil der Freiheit und Selbständigkeit verloren, die sie in der bäuerlichen Gesellschaft, aber auch im Frühstadium der Transformation noch besessen hatten.
Und Friedrich Georg Jünger in Die Perfektion der Technik:
[…] Es versteht sich, daß der Automatismus, der vom Menschen beherrscht und bedient wird, Rückwirkungen auf den Menschen ausübt. Die Macht, die er durch ihn gewinnt, gewinnt ihrerseits Macht über ihn. Er wird gezwungen, seine Bewegungen, seine Aufmerksamkeit, sein Denken ihm zuzuwenden. Seine Arbeit, die mit der Maschine verbunden ist, wird mechanisch und wiederholt sich mit mechanischer Gleichförmigkeit. Der Automatismus ergreift ihn nun selbst und gibt ihn nicht mehr frei.
Darauf ein Jubiläumsprost!
Ein Video, das in den oben beschriebenen Algorithmen nicht mehr aufgenommen wird und damit der Produktion von Realitätsräumen entzogen werden soll, ist eine Analyse des Informatikers Marcel Barz zu den Rohdaten der Corona-Pandemie.
Caroline Sommerfeld hat ihm bereits hier einen eigenen Artikel auf Sezession im Netz gewidmet. Aufgrund seiner Brisanz sei es in den Fundstücken noch einmal aufgegriffen und sein Inhalt kurz zusammengefaßt:
An seinem ursprünglichen Platz wurde das Video gelöscht. Dank etlicher Re-Uploads ist es jedoch weiterhin verfügbar. In rund 1 ½ Stunden legt Barz nachvollziehbar dar, warum er anhand der entscheidenden Daten des RKI (Sterbefälle, Inzidenz, Intensivbetten), keine pandemische Lage feststellen konnte und wie das Schreckgespenst »Corona«, das für ihn bis Ende des Jahres 2020 existierte, sich sukzessive in Luft auflöste.
Verkürzende und damit verfälschende Datenauswertung bei den Sterbefällen, ungenaue und damit unbrauchbare Datenerhebung bei der Intensivbettenbelegung; sie werden die Kritik an den Zahlen der Pandemie bereits kennen. Barz dröselt die Produktion fehlerhafter Information anhand unzureichender Daten jedoch so minutiös auf, daß auch der Nichtstatistiker durchweg versteht, mit welchen statistischen Fahrlässigkeiten ein pandemisches Bedrohungsszenario produziert wird.
Hier einer der Re-Uploads auf dem YouTube-Kanal »KaiserTV«:
Indes existieren aktuell zwei unterschiedliche deutsche Corona-Staaten, die alten Bundesländer mit relativ hohen Inzidenzzahlen auf der einen Seite und die neuen Bundesländer mit geringen Inzidenzzahlen auf der anderen Seite – erstere mit Impfquoten von bis zu 75 Prozent, letztere mit Impfquoten zwischen 55–63 Prozent (Berlin ausgenommen).
Am Rande der Gesellschaft registriert man diese neuerliche Zweiteilung nicht ohne eine gewissen Häme gegenüber den überkorrekten BRD-Bürgertum, das sich über den gespritzten Impfstoff definiert und zu Geimpften-Partys lädt.
Außerdem Thema sind die farblosen Wahlwerbespots in einem farblosen Bundestagswahlkampf mit lauter farblosen Kandidaten. Die von mir hier in den letzten Netzfundstücken angestoßene Diskussion über die Qualität des AfD-Wahlwerbevideos wird vor dem Mikro in Schnellroda fortgeführt.
Hier einschalten:
Zum Jubiläum darf König Fußball nicht fehlen. Meine Affinität zum Sport, wo das Runde in das Eckige muß, sollte nach meinen Artikeln »Fußball (1) – Volkssport und gesellschaftlicher Gradmesser« »Fußball (2) – Ultras, eine linke Vereinnahmung « und »Notizen zu Dietmar Hopp« bekannt sein.
Und natürlich produziert die breite Subkultur um den Sport Nummer 1 in Europa, wie sich das heute so gehört, Podcasts. Interessant sind dabei weniger die Formate der klassischen Fußball-Talkrunde und Kommentatorenformate, wie »Doppelpaß« oder »Reif ist live«, die sich an sportlichen Details oder Transfers abarbeiten, sondern die Sendungen, die sich zuvorderst mit der Subkultur auf den Rängen beschäftigen.
Einer dieser Podcasts ist »Football was my first love«. Nicht jede Folge ist hier Gold, aber in Episoden wie beispielsweise der Zusammenfassung zum Interview mit den Union ´99 Ultras von Austria Salzburg, bekommt man tiefe Einblicke darin, was »Traditionsverein« wirklich bedeutet, welche Anziehungskraft die Fußballkultur ausübt und wie Graswurzelarbeit gegen einen übermächtige milliardenschwere Heuschrecke aussieht.
Hier die hörenswerte Trailer-Folge zum Traditionsverein Austria Salzburg bei Apple:
Trailer: Interview mit Union ´99 Ultra Salzburg
Mitleser2
JS zitiert: "Industrialisierung --> Die Menschen haben einen großen Teil der Freiheit und Selbständigkeit verloren, die sie in der bäuerlichen Gesellschaft, aber auch im Frühstadium der Transformation noch besessen hatten." und "Seine Arbeit, die mit der Maschine verbunden ist, wird mechanisch und wiederholt sich mit mechanischer Gleichförmigkeit. Der Automatismus ergreift ihn nun selbst und gibt ihn nicht mehr frei."
Selbst wenn man der Interpretation von Industrialiserung in dieser Schärfe zustimmen würde, wird nicht aufgezeigt, was die Alternative für die westlichen und östlichen Industriegesellschaften sein kann. Damit bleibt es ein stumpfes Schwert, und hört sich eher nach resignativem Jammern an, dass die Welt nun mal so geworden ist wie sie ist.