1990 Angela Krauß: Der Dienst – hier bestellen
Die Welt der DDR in der Landschaft des Erzgebirges am Anfang der fünfziger Jahre, als die Zeit stillzustehen schien, aber mit dem ersten sowjetischen Wasserstoffbombenversuch auch die Unschuld gegenüber dem radioaktiven Gestein in den Hängen des Gebirges verlorenging. Eine Tochter porträtiert ein Vaterleben: “In meiner ausgehenden Kindheit war er der vollkommene Entwurf der Welt, die mich erwartete.“ Mit unter 50 Seiten einer der weltweit kürzesten Romane, aber so nachdrücklich! (EK)
1991 Monika Maron: Stille Zeile sechs - hier bestellen
1992 Hans Joachim Schädlich: Die Sache mit B.
Was für ein krasses Stück, und dabei literarisch auch noch beeindruckend! Hans Joachim Schädlichs Bruder Karlheinz war von 1975 an unter dem Decknamen „IM Schäfer“ inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. In dieser Funktion berichtete er über seinen regimekritischen Bekanntenkreis und auch über seinen Bruder Hans Joachim, gegen den von Seiten des MfS seit 1976 ein Operativer Vorgang unter dem Namen „Schädling“ lief. Schädlich erzählt lakonisch, karg, emotionsfrei. (EK)
1993 Harry Thürk: Sommer der toten Träume – hier bestellen
Thürk war ein DDR-Autor, bekannt für Trivialliteratur, absolute Treue zum SED-Staat und Dokuromane über den Fernen Osten. Auch der Sommer der toten Träume erfüllt jedes Merkmal der Trivialliteratur, hat aber ein Thema, das in der Literatur nur selten und in der DDR gar nicht vorkam: die Behandlung der Deutschen durch Russen und Polen zwischen Kriegsende und endgültiger Vertreibung. Thürk hat das in Schlesien selbst erlebt, was das Buch über den Durchschnitt seines Schaffens erhebt. (EL)
1994 Brigitte Kronauer: Das Taschentuch – hier bestellen
Westdeutschland, 1990, die “DDR” ist gaanz weit weg. Voller brillanter Beobachtungen – wer braucht da einen Plot? Kronauer war eine der ganz großen, viel zu wenig beachteten Schriftstellerinnen. (EK)
1995 Christian Kracht: Faserland – hier bestellen
Natürlich war „Faserland“ DER Roman für die nichtlinke Generation X! Exklusiv für Westdeutsche. Ein junger Mann, bar aller Geldsorgen, reist von Sylt über Hamburg, Frankfurt/Main, Heidelberg und München nach Zürich. Er kokst und kotzt, er hat diversen Sex und fühlt sich nicht gut dabei, weil er weiß, daß es eigentlich Schrott ist… Es war einfach der kulturpessimistische Sound dieser Nachwendejahre. (EK)
1996 Peter Handke: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa, oder: Gerechtigkeit für Serbien – hier bestellen
Auf Serbien haben die Deutschen am Ende nur noch durch „vorgestanzte Gucklöcher“ geschaut, schreibt Handke. Sein Versuch, als einer der wenigen eine andere Perspektive in die klare Verteilung von Gut und Böse im Jugoslawienkrieg zu bringen, ist unbeschreiblich wichtig: Gerade wir Rechten werden unentwegt durch Gucklöcher angestarrt. Dabei sind wir viel mehr und ganz anders. (GK)
1997 Christoph Hein: Von allem Anfang an – hier bestellen
Jugenderinnerungen des Pfarrersohns Christoph Hein, der hier als „Daniel“ spricht. Plan einer Republikflucht, irrwitzige Pubertätsgedanken, auch Rückblicke in die verlorene schlesische Heimat. Ich kann kaum begreifen, warum der jüngere Hein so phantastisch gute Bücher schrieb (wie auch Drachenblut, Frau Paula Trousseau, Willenbrock) und der nun ältere so schlechte. (EK)
1998 Martin Walser: Ein springender Brunnen – hier bestellen
Ein autobiographisch gefärbter Roman, ein Meisterwerk darüber, wie es war, als es nationalsozialistisch wurde, auch am Bodensee, in Wasserburg, auf dem Lande. Dieses Buch ist so sehr viel reifer und ehrlicher als jede „gehäutete Zwiebel“ in den Händen des hypermoralischen, heimlichen SS-Manns Günter Grass – und es ist ein sehr schwäbisches Buch, also auch ein dickes Stück Heimat. (GK)
1999 Thomas Brussig: Am kürzeren Ende der Sonnenallee – hier bestellen
2000 Eginald Schlattner: Rote Handschuhe
2001 Sherko Fatah: Grenzland
2002 Jörg Bernig: Niemandszeit – hier bestellen
An diesen Roman über ein Dorf, das erst spät von tschechischen Einsatzgruppen entdeckt wird, denke ich unter anderem deswegen, weil ich ihn zunächst nicht zuende lesen konnte – so schlimm ist der Einbruch der Zeit in die Niemandszeit. Denn zuletzt wird doch hemmungslos vertrieben. (GK)
2003 Wolfgang Büscher: Berlin–Moskau. Eine Reise zu Fuß – hier bestellen
2004 Sophie Dannenberg: Das bleiche Herz der Revolution
Eine Auseinandersetzung mit den 68ern aus der Sicht ihrer Kinder: Der erste Roman über 68 aus diesem Blickwinkel. All die großen Projekte wie antiautoritäre Erziehung, Emanzipation, freie Sexualität werden von Grund auf in Zweifel gezogen. Mir war beim (begeisterten!) Lesen völlig klar, daß hinter diesem Pseudonym ein Mann stecken müsse. Die ganze Gemengelage und wie sie geschildert wird: Viel zu cool für eine Autorin. Aber nein. (EK)
2005 Michael Klonovsky: Land der Wunder – hier bestellen
Johannes, dem Hochgeistigen in jeder Form sowie weiblichen Reizen keineswegs abgeneigt, lebt in der “von Alkoholikern, Spaßvögeln und Bonzen bevölkerten Kloake namens DDR.” Er kennt die Mühen der Arbeit in der Produktion, ein Studium bleibt ihm verwehrt. Nach dem Novemberwunder 1989 wechselt unser Protagonist – zufällig ähnlichen Jahrgangs wie Autor Klonovsky – in das von “Gesinnungshuren und Endverbrauchern bevölkerte Casino namens Bundesrepublik”. Da bleibt kein Auge trocken.
2006 Hans Bergel: Die Wiederkehr der Wölfe - hier bestellen
Band zwei der als Trilogie geplanten Familien-Saga aus Siebenbürgen. Einer der wenigen Romane, die den Geist einer konservativ-revolutionären, nicht aber nationalsozialistischen Einstellung thematisieren. Zugleich ein Dokument verlorenen rumäniendeutschen Lebens. (GK)
2007 Richard Wagner: Das reiche Mädchen – hier bestellen
Da heiratet eine einen Ausländer, einen ganz Fremden, und es geht gründlich schief, also: es endet schlimm. Wagners Roman war eine Provokation, ein Ereignis, war das Schreiben über ein Tabu. Ich durfte mit ihm einen ausführlichen Briefwechsel führen, das war damals noch möglich. (GK)
2008 Uwe Tellkamp: Der Turm – hier bestellen
Seit seiner Veröffentlichung steht er da, Der Turm Tellkamps, der große Roman aus den DDR-Jahren vor der Wende, preisgekrönt, verfilmt, gültig. Er ist eingefärbt, mittlerweile, denn der Autor äußerte sich zum Tagesgeschehen nicht so, wie man das von einem vermeintlich ins Feuilleton Eingemeindeten erwartet. Aber dem Turm kann das nichts anhaben. Er überragt, und man kommt an ihm nicht vorbei. (GK)
2009 Iris Hanika: Das Eigentliche – hier bestellen
2010 Theodor Buhl: Winnetou August – hier bestellen
Die Familie Buhl floh Anfang 1945 aus Niederschlesien nach Dresden, überstand dort im Februar die Zerstörung der Stadt, zog zurück und lebte ein Jahr unter polnischer Militärherrschaft, bis sie endgültig vertrieben wurde. Buhl hat im wesentlichen nur diesen einen Roman vorgelegt – ein Meisterwerk. Alles ist so lakonisch beschrieben, wie das wohl nur ein Kind kann: noch ohne historische Dimension und mit naivem Interesse selbst dort, wo es grauenvoll ist. (GK)
2011 Eugen Ruge: In Zeiten abnehmenden Lichts – hier bestellen
Einer der wirklich großen Romane, die den Kippunkt aus der Endphase der DDR in die erste Nachwendezeit beschreiben. Zweierlei an Ruges Zugriff ist bestechend: Er schilderte die eingeübte Ordnung einer Welt, die von ihrem Zusammenbruch nichts ahnte – und das nachgereichte Besserwissen einer »Freiheit«, die wiederum bloß aus anders gelagerten Unfreiheiten bestand. (EK)
2012 Matthias Wegehaupt: Schwarzes Schilf – hier bestellen
2013 Michael Köhlmeier: Die Abenteuer des Joel Spazierer – hier bestellen
Joel Spazierer ist ein ausgedachter Name. Als Kind hieß er András Fülöp, später Andres Philip, kurzzeitig Robert Rosenberger, dann Ernst-Thälmann Koch, kein Tippfehler: Thälmann ist der zweite Teil des Vornamens. »Spazierer« wurde zur Identitätsverschleierung von einem vertrauten linken Pfarrer für gut befunden: »Es ist nicht schlecht, wenn die Leute meinen, es sei ein jüdischer Name. Dann fragen sie nicht. …Vielleicht wäre es nicht schlecht, wenn du das Jüdische mit einem jüdischen Vornamen betonst.« Was für ein hochgelehrtes Lesevergnügen! Hier ist die Rezension, die ich über den Roman für die Sezession schrieb. (EK)
2014 Lutz Seiler: Kruso – hier bestellen
2015 Leif Randt: Planet Magnon – hier bestellen
Es gab in Berlin junge Autoren, die sich in einem „Jungen Salon“ sammelten und zuletzt über Konzepte wie „Ultraromantik“ nachdachten – alles ziemlich läppisch. Das, was sie wollten, ist in Planet Magnon formuliert: Die Leute dort sind Post-Pragmatiker und verfolgen Strategien einer »ambivalenten Persönlichkeitsentwicklung«: Die Grundhaltung ist empathisch und unterkühlt zugleich, also: einfühlend in den Zusammenhang, den es permanent zu analysieren und zu optimieren gilt. Das Ziel: ein psychischer Zwischenzustand, »der gemäß dem postpragmatischen Schwebeideal nie abschließend zu definieren ist«. Mit diesem Besteck läßt sich unsere Zeit lesen. Man macht sich nach der Lektüre weniger vor. (GK)
2016 Martin Mosebach: Mogador – hier bestellen
Dieser Mosebach – oder ein anderer? Zunächst standen drei seiner Romane auf unserer Liste, ich habe diesen durchgesetzt. Er beschreibt eine Sippe in Marokko, die matriarchal geführt wird, in einem Durcheinander aus Fleiß, Geschick, Zuhälterei, Hamam, Stolz, Befreiung und Weitergabe. Ein lebenssattes, plastisches Buch, hellsichtige Unklarheit, verbaut wie die Stadt selbst. (GK)
2017 Jonas Lüscher: Kraft – hier bestellen
Richard Kraft ist Rhetorikprofessor in Tübingen. Ein glänzender Denker, dabei ein viriler Typ. Und keinesfalls ein stromlinienförmiger Karrierist! Beispielsweise stand er als Student den tonangebenden Ideen der Linken immer kritisch, gar spöttisch gegenüber, und zwar aus einer Mischung aus Klugheit, Überzeugung, Trotz, Widerspruchsgeist und Disktinktionswillen. Jetzt will er sich ausgerechnet in Kalifornien behaupten… Hier ist die Rezension, die ich über den Roman für die Sezession schrieb. (EK)
2018 Norbert Gstrein: Die kommenden Jahre – hier bestellen
Richard und seine schöne Frau Natascha sind „in den Medien“, weil sie in ihrem hübschen Haus in Nordwestmecklenburg (mutmaßlich) syrische Flüchtlinge untergebracht haben. Natascha steigert sich in eine private Humanitätsaktion… Ein schönes Beispiel, wie man als Autor „hinter den Linien“ bleiben kann. Und hier ist die Rezension, die ich über den Roman für die Sezession schrieb. (EK)
2019 Steffen Kopetzky: Propaganda – hier bestellen
Von Ernst Jünger stammt der Satz, manche Bücher explodierten wie lautlose Minen. Propaganda ist so ein Buch. Das geschichtspolitische Potential ist gewaltig. Es faßt die Allerseelenschlacht 1944, den Agent-Orange-Einsatz in Vietnam, Kriegsverbrechen der Amerikaner im 2. Weltkrieg und den humanitären Einsatz des deutschen Arztes Stüttgen im Hürtgenwald unter dem Aspekt der Propaganda, also der Berichterstattung und eingefärbten Erzählung ins Auge: keine Moral, berichtet, vertuscht, verdreht wird, wie es nützt. Ein großes Leseerlebnis! (GK)
2020 Matthias Politycki: Das kann uns keiner nehmen – hier bestellen
Das ist einfach ein herzerfrischender, inkorrekter, menschlicher Roman: Ein bayrischer Lebenskünstler rüpelt sich den Kilimandscharo hinauf und weder hinunter und bleibt im Schlepptau eines deutschen Gutmenschen, der nicht begreift, daß man auf diese Art Afrika nicht nur bereisen, sondern sehr ehrlich viel tun kann, wenn man einander nicht aseptisch begegnet. Man möchte nach der Lektüre nach Tansania und auf Sansibar… (GK)
2021 John Hoewer: EuropaPowerbrutal – hier bestellen
Wer bitte hätte gedacht, daß ein rechter Szene-Roman nach 1945 je zu einem Verkaufsschlager werden würde? Wir folgen hier einem namenlosen Erzähler auf der Suche nach dem Geist eines anderen Europas. Eines Europas, das nur dem offen steht, der bereit ist, mit den Leuten um die Häuser zu ziehen, vor denen die »Tagesschau« immer gewarnt hat. EuropaPowerbrutal ist eine zeitgenössische Flaneurs- und Szenegeschichte, ein Reiseroman, rauh, betrunken, schonungslos, aberwitzig und mit großen Talent für Selbstironie! (EK)
2022 Reinhard Kaiser-Mühlecker: Wilderer – hier bestellen
In den Romanen des Schriftstellers Reinhard Kaiser-Mühlecker (*1982) geht es um echte, geerdete Existenzen, es geht um Existentielles. Kein Wunder, daß der Autor weiterhin seinen Erbhof in Oberösterreich bewirtschaftet. Hier geht um den jungen Jakob, einen mißtrauischen Typen, grobschlächtig, aber kernhaft gut, wenngleich mit autistischer Akzentuierung. Er würde seinen Erbhof gern in „altmodischer Weise“ weiteführen. Aber so sind die Zeiten nicht. Es gibt Tinder, und es gibt dieses ererbte Gewaltpotential. Ganz grandios. Hier ist die Rezension, die ich über den Roman für die Sezession schrieb. (EK)
2023 Clemens J. Setz: Monde vor der Landung – hier bestellen
Büchnerpreisträger (2021) Clemens J. Setz zeichnet die Geschichte des Hohlweltpropheten Peter Bender auf. Er unterfüttert diese schier unglaubliche, wahre und traurige Biographie hier und da mit echten Dokumenten, Abbildungen von Briefen und Fotos. Was wirklich los war in Peters Benders Kopf, ist freilich ausgedacht – allerdings in ungeheurer Kunstfertigkeit. Ein Geniestreich! Hier ist die Rezension, die ich über den Roman für die Sezession schrieb. (EK)
2024 Sebastian Schwärzel: Schizoid Man – hier bestellen
Dieser Ich-Erzähler nennt sich »Faschist«, obwohl oder weil er weiß, daß er eine Null ist. Der Welt- und Lebensekel unseres Protagonisten drückt sich vielfältig aus. Das ist „Faserland 2.0“, obwohl dieser Vergleich offenkundig nicht beabsichtigt ist. »In einem fitten Körper wohnt ein fitter Geist, lese ich in einem Instagram-Post«, sekundiert unser Erzähler. Es ist blanker Hohn. Hier ist die Rezension, die ich über den Roman für die Sezession schrieb. (EK)
RMH
Wieder eine interessante Auswahl, wieder wird vermutlich das eine oder andere Werk, welches ich noch nicht gelesen habe (bspw. v. Bergel & Schlattner), den Weg in meinen Bücherschrank finden. Bemerkenswert ist, wie viele von den aufgelisteten Büchern sich noch mit Themen aus der Vergangenheit zuvor bis hin zum WK II beschäftigten. Meine Favoriten aus der Liste: "Faserland", L. Randts "Planet Magnon" (würde ich klar noch über "Faserland" ansetzen) &, für mich eigentlich komplett außer jeder Wertung, "Der Turm" von Tellkamp (der auch `22 Platz 1 verdient hätte). Was für ein Autor, was für ein Erzähler! Auch wenn ich persönlich das Buch gekürzt hätte (die Militärerzählung ist zu ausufernd, wobei es für mich, Wehrdienstleistender der BRD, doch interessant war, wie viele Parallelen es zum Wehrdienst in Mitteldeutschland gab). Auf dem klar letzten Platz (hätte es bei mir nie auf eine Liste geschafft): "Das bleiche Herz d. Rev.". Selten so ein schlechtes Buch gelesen, welches ich nur aufgrund der posit. Rez. der Sezession gekauft habe. Da gibt es aber bedeutend bessere Abrechnungen mit 68, bspw, wenn auch nicht deutsch, Houllebecqs "Elementarteilchen" - und eigentlich ist das 2024er "Schizoid Man" auch eine Abrechnung mit dem, was 68 erzeugte, wenn ich auch den Eindruck habe, die "rechte Szene" missversteht den Autor sehr gründlich.