Am Sternenhimmel kann man dieser Tage den Jupiter sehr gut sehen, einen unendlich weit entfernten Planeten, der um diese Jahreszeit verblüffend hell strahlt. Nicht weit davon kann man mit bloßem Auge den Andromedanebel erspähen, eine 2, 5 Millionen Lichtjahre entfernte Galaxie.
Vor langer Zeit habe ich mich in manchen Sommernächten im “Nordeck” des Gartens, in dem ich mich gerade aufhalte, in die Wiese gelegt und lange in den Sternenhimmel geblickt. Dort, wo der Große Wagen um den Polarstern rotiert, versuchte ich mich an einer Meditation, die ich einem Buch entnommen hatte, das den Untertitel “Einführung in die Esoterik” trug. Sie beinhaltete den alten Mystikerspruch “Abyssus invocat abyssum”, den der Autor verdeutscht wiedergab als: “Die Tiefe des eigenen Grundes ruft der Tiefe des göttlichen Grundes und Abgrundes.”
Diese “Wortfolge” sei “selten wie eine andere geeignet, von dem, der die Fähigkeit wahrer Meditation erwerben will, belebt zu werden”. Er empfahl diese Belebung zu vollziehen, “wenn der Abend- oder Nachthimmel wolkenlos ist, vor dessen Sternenfülle”.
Auch wenn ich nicht sehr weit kam in der Entwicklung meiner meditativen Fähigkeiten, ist dieser faszinierende Spruch (er spielt eine zentrale Rolle in dem Roman Amour noir der 2022 verstorbenen Hofburg-Spiritistin Lotte Ingrisch) seither für mich für immer mit dem Anblick des Sternenhimmels verknüpft.
Der Autor, von dem die Rede ist, ist Herbert Fritsche (1911–1960), das Buch heißt Der große Holunderbaum (Sezession-Beiträger Jörg Seidel erinnerte an ihn bereits 2020). Fritsche schreibt darin: “Die großartigste Offenbarung von Licht- und Liebesmotiven aber ist der Kosmos selbst, wenn wir ihn von höchster Warte her betrachten”, und “sobald wir unseren Blick auf den Sternenhimmel richten”, erleben wir “wie die Gewalten des Bösen und des Hasses verschwinden angesichts des lichterfüllten Abgrunds der Weltwerdung.”
Immanuel Kant fühlte eine Verbindung zwischen dem “gestirnten Himmel” über sich und dem “moralischen Gesetz” in sich. Blaise Pascal hingegen erschauerte angesichts des “ewigen Schweigens dieser unendlichen Räume”.
Man kann alles immer auch anders sehen. Vor Jahren ging ich einmal an der Seite von Michael Klonovsky und zwei, drei anderen Gesellen nachts zu einer Herberge in einem Dorf irgendwo in der dunkeldeutschen Pampa. Über uns wölbte sich ein spektakulärer Sternenhimmel, viel deutlicher sichtbar als in der von künstlichem Licht umstrahlten Großstadt. Ich tat einen verzückten Ausruf: “Seht mal, wie schön man die Sterne heute sieht.” Darauf Klonovsky in seiner üblichen staubtrockenen Art: “Und sie bedeuten nichts.” Ich bin für diese Art von makabrem Humor empfänglich und mußte laut auflachen.
Bedeuten sie wirklich nichts? Bedeutet irgendetwas etwas? Oder sind nur wir selbst es, die Bedeutung in die Dinge hineinlesen, wie in die Sternbilder am Himmel, in denen man mythologische Tiere und Gestalten erkennen wollte, und deren Umrisse man auch durchaus völlig anders zeichnen könnte?
Herbert Fritsche, geboren im späten Kaiserreich in Rixdorf/Neukölln, gestorben im Alter von nur 49 Jahren in der frühen Bundesrepublik in München, war Dichter, Wissenschaftler und Esoteriker zugleich.
Als solcher glaubte er, in einem zwar geheimnisvollen, tragischen, aber sinnerfüllten, deutbaren, “erschaffenen” Kosmos zu leben, in dem sich Leben und Tod, Tag und Nacht im ewigen Zyklus die Hand reichen, die Dinge über “Signaturen” zu uns sprechen, in dem “alles Vergängliche nur ein Gleichnis” ist und das individuelle, personale Menschenleben ein Schicksal hat, dessen fernes Endziel eine wahre, “höhere” Menschwerdung ist, für, durch, mit und manchmal (scheinbar) auch gegen Gott.
Ein Buch von ihm hat den Titel Sinn und Geheimnis des Jahreslaufs, erschienen 1949, mit einem sehr schönen Einband und Zeichnungen von Paul Kurt Bartzsch. Es dreht sich um die “esoterische” Bedeutung der Monate und Jahreszeiten. Im Kapitel “Oktober” kann man Sätze wie diese lesen:
Das Feuer der Schöpfung durchblitzt unsere Nächte, wärmt unser Blut, kriecht in die Samen der Kräuter, hat den Wein des Oktobers reif gemacht und lodert nun sogar durch das Sterben des Laubes: bunter als die Felder im Februar, wenn Tauwind den Schnee vertrieb, brennen die Farben über den Laubwald dahin, ehe der Sturm sie zu Boden weht. Auch diese Todes-Feuer sind Feuer des Lebens…
Manche Bücher und Autoren sind wie Sternschnuppen oder Kometen, andere wie Fixsterne. Fritsche ist ein Autor, den ich seit 1992 lese. Nicht am laufenden Band, aber alle paar Jahre kehrt er wieder, vielleicht, damit ich anhand der wiederholten Lektüre prüfen kann, wie sehr ich mich verändert habe.
Ab und zu scheint er mir einen Gruß aus dem Jenseits zu schicken. 2015 fiel mir in einem Wiener Antiquariat ein aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts stammender Faksimilie-Band über Freimaurertum aus dem 18. Jahrhundert in die Hände, in dem sich ein handschriftlicher Besitzervermerk fand: “Dr. Herbert Fritsche, Bad Pyrmont”. Ich kaufte das nicht gerade billige Buch, um in den Besitz dieses Autogramms zu kommen.
Im August dieses Jahres hielt ich mich für ein paar Tage in Berlin auf. In der Nähe der Museumsinsel traf ich mich mit Marc Pommerening, der mir stolz einen Flohmarktfund zeigte, den ihm eben der Bücherengel “für’n Appel und ’n Ei” zugespielt hatte: Der 1970 als Privatdruck in einer Auflage von 1000 numerierten Exemplaren erschienene Band Briefe an Freunde, zusammengestellt von Fritsches treuem, gleichaltrigen Freund, dem Verleger Ernst Klett, der auch Adressat der meisten darin enthaltenen Briefe ist.
Zu den in diesem Band versammelten illustren Briefpartnern Fritsches zählen unter anderem Gustav Meyrink, Gottfried Benn, Ernst Jünger, Martin Buber, Hans Blüher, Gerhard Nebel, Ludwig Meidner und der sagenumwitterte Graf Hans-Hasso Martin von Veltheim-Ostrau.
Diese unvollständige Liste kann die erstaunliche geistige Spannweite und Vielfalt von Fritsches Freunden und Korrespondenten nur andeuten.
Mit Benn hatte er bereits als Gymnasiast Bekanntschaft gemacht. Fritsche schickte dem literarisch damals noch keineswegs kanonischen Hautarzt eine Kopie eines Schulaufsatzes zu, den er zum Leidwesen seiner um bürgerlichen Anstand besorgten Lehrer über seinen Lieblingsdichter verfaßt hatte. Benn war davon derart eingenommen, daß er den jungen Mann zu sich auf einen Kaffee einlud. Die Freundschaft der beiden hielt bis zum Tod Benns im Jahr 1956.
Aus einer ganz anderen Richtung als Benn kam Gustav Meyrink (1868–1932). Dieser war nicht nur Satiriker und Verfasser erfolgreicher okkult inspirierter Romane wie Der Golem (1915), Walpurgisnacht (1917) oder Der weiße Dominikaner (1921), sondern auch praktizierender Yogi, der dem nach Klett “genialischen Jüngling” Fritsche briefliche Anleitungen für erste Schritte auf dem “metaphysischen” Weg des “Erwachens” schickte.
Meyrink war es auch, der mich selbst auf die “esoterische” Spur führte (die ich allerdings abgesehen von etwas Astrologie, Tarot und Geomantie nie ernsthaft “praktisch” verfolgt habe). Mit vierzehn verschlang ich den Golem, im selben Jahr, 1990, besuchte ich das Grab des Rabbi Löw auf dem alten jüdischen Friedhof im frisch aus der kommunistischen Herrschaft entlassenen Prag, einer Stadt, von der Fritsche zeitlebens geträumt, die er aber nie persönlich betreten hat.
Als Andenken nahm ich mir einen kleinen Stein mit, der neben (nicht auf!) dem Grabstein lag: Erst zuhause entdeckte ich, daß auf ihm auf einer Seite die Züge eines finster blickenden bärtigen Mannes zu erkennen waren, auf der anderen ein “mongolisches” Gesicht, das dem Golem der berühmten, kongenialen Illustrationen von Hugo Steiner-Prag ähnelte. Ich schwöre, daß das wahr ist.
1992 las ich Thorwald Dethlefsens Schicksal als Chance, eine leicht verständliche, packend geschriebene Darstellung des esoterischen-hermetischen Weltbildes. Diese für mich schockartige Lektüre mündete in Literaturempfehlungen, an deren oberster Stelle die Werke Fritsches und Meyrinks genannt wurden. Kurz darauf schaffte ich mir den Großen Holunderbaum an. Auch auf den Namen Hans Blüher stieß ich zum ersten Mal bei Dethlefsen.
Im selben Jahr besuchte ich auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris das monumentale Grabmal Samuel Hahnemanns, inspiriert von Dethlefsen und Fritsche, die beide im Simile-Prinzip der Homöopathie “das allein objektiv giltige Gesetz der Heilkunde” (Hans Blüher) gefunden zu haben glaubten. Fritsche, der sein Leben lang mit schweren Krankheiten zu kämpfen hatte, war auch ein Theoretiker (und wenn man so will: Theologe) der Heilung und des Heils, und damit auch des Sündenfalls und der Erlösung, allerdings auf dezidiert ketzerischen, unorthodoxen, man könnte sagen: gnostischen Pfaden.
Anfang 1993 schickten mich meine Eltern aufgrund von hartnäckigen Depressionen zu einem Homöopathen namens Dr. Sellner, einem entfernten Verwandten, der damals noch in Wien ordinierte. Als ich den Namen Fritsches fallen ließ, winkte der gute Doktor ab: dieser Herr Fritsche habe “der Homoöpathie großen Schaden zugefügt.” Damit war ich augenblicklich verstimmt und gegen den Doktor eingenommen, was meiner Heilung durch Globuli wahrscheinlich nicht zuträglich war (was genau in seinen Augen Fritsches Vergehen war, weiß ich bis heute nicht).
Ein angemessenes Autorenportrait Herbert Fritsches würde den Rahmen dieses Tagebuchs sprengen, weshalb ich es mir für einen späteren Eintrag aufhebe. Ich habe ihn und sein Werk letzte Woche, am 19. Oktober, in das Zentrum des zweiten Abends “Martin Lichtmesz präsentiert” mit anschließender Musikbeschallung von “DJ Nachtmesz” gestellt.
Den Bericht über die erste Veranstaltung dieser Art am 24. Februar dieses Jahres gibt es weiter unten in diesem Tagebuch zu lesen. Das “Haus zur letzten Latern’ ” wanderte diesmal von Thüringen in eine alte Mühle in der Lüneburger Heide, auch diesmal an einem dunkel rauschenden Waldrand gelegen. Kürbiskopfgeister und Kerzen leuchteten den “weitverwanderten Geschöpfen der Mitternächte”, die in dieser “späten Heimatschenke” (um aus einem Gedicht Fritsches zu zitieren) eingekehrt waren, in der warme Kürbissuppe und reichlich Trank aller Art serviert wurde.
Das letzte Mal hatte ich einen magischen Künstler vorgestellt, den Filmemacher Kenneth Anger (1927–2023), diesmal war ein magischer Schriftsteller an der Reihe, mit besonderem Augenmerk auf den Dichter Herbert Fritsche.
Für das Erinnerungs-Plakat, das alle Besucher geschenkt bekamen, die es haben wollten, habe ich als Motiv eine Zeichnung von John Uhl gewählt, eines ebenfalls in Rixdorf/Neukölln geborenen Schulfreundes und Weggefährten Fritsches, das letzteren zeigt, wie er um 1930 in der Berliner Bohème, bei den “kessen Literaten, hintergründigen Morphinisten, Dunkel- und Hellmännern, Interpreten eines heißen Nihilismus” berühmt-berüchtigt war: Mit einem langen schwarzen Mantel, einem breitkrempigen Hut und einem Gehstock, beinahe ein “Grufti” avant la lettre.
Über seine frühen Gedichte schrieb John Uhl (in dem Band Die Vaganten, 1967):
Die Mehrzahl der Gedichte ist in der Dämmerung, im Zwielicht und in der Nacht entstanden, wo die Alltagskonturen schwinden und die Heerschar dämonischer Gewalten und Gestalten erwacht. Die hier vereinzelt auftauchenden beängstigenden Gespenster, Nachtgesichte und seltsamen Wesen sind nicht Rudimente abgelebter Menschheitsepochen oder phantastische Hirngespinste eines verstiegenen Weltfremdlings, sondern Wesen von greifbarer Realität und brennender Aktualität, Geziefer eines gefährlichen Weltalters, dessen vordergründiges, optisch sichtbares Hauptkennzeichen weltweite Herrschaft politischer und technischer Dämonen ist.
Für den lyrischen Teil des Vortragsabends kam mir Gerhard Hallstatt von Allerseelen zu Hilfe. Ich gab ihm zwei Gedichte zu lesen, die, wie ich finde, gut zu ihm paßten: Die Hymne “Alfred Kubin” aus dem Gedichtband Durch heimliche Türen (1932) und das Gedicht “Introitus”, abgedruckt im Anhang zum Holunderbaum. Das Gedicht “Adventsbekenntnis”, in dem Stimmen verschiedener, nach Erlösung suchender Religionen zum Erklingen kommen, lasen wir gemeinsam, mit abwechselnden Strophen.
Es war ein Glücksfall, daß Gerhard dabei war. Insbesondere dem “Introitus” wußte er geradezu unheimliches Leben einzuhauchen. Darin spricht ein dem Scheiterhaufen entkommener Katharer (man lese nach bei Otto Rahn) einen Fluch auf die “kluge Klerisei”:
Die Brüder, deren Aschenrest
Noch heut den Hang des Montségur
Verfärbt, sind mir ins Herz gepresst
Als Eid auf Gott: Wer kann dafür,Wenn ihn der Geist der Freiheit weiht,
Der Ketzergeist, der Geist des GRAL?
Am Schluß der Lesung ließ ich Fritsche selber sprechen, gleichsam “nekromantisch” über eine Tonaufnahme, eingesprochen 1959, in seinem letzten Lebensjahr. Das Gedicht, publiziert in dem Band Zeit der Lilie (1947), ist eine “Grabinschrift”, die Verfasser für sich selbst geschrieben hat. Darin vergleicht er sich mit einer Fledermaus, die dazu verdammt ist, für immer im Zwielicht zu flattern, an der Grenze zwischen Tag und Nacht, Diesseits und Jenseits, sich sehnend nach den Sternen, die aber unerreichbar in weiter Ferne bleiben:
Er wollte leben aus dem Vollen.
Das hätte er nicht wollen sollen:
Zum Dienst am Geist war er verflucht.
Und dennoch hat er es – versucht.
Dem Vernehmen nach ist es gelungen, daß sich auch diesmal eine “magische” Stimmung eingestellt hat, und wenn einige Zuhörer nun zu Fritsche und Meyrink greifen sollten, wäre meine Mission erfüllt. Danach begann wie gehabt der “dionysische” Teil des Abends.
Zum Schluß noch ein paar Zeilen aus dem Gedicht “Oktobertrost”:
Wenn das Leben sich zur Neige wendet,
Wenn vorbei ist, was der Mai verhieß,
Wenn wir wissen, daß es bald nun endet,
Fragen wir ins Nichts: War’s alles, dies?Sich auf solche Fragen vorbereiten
Lehrt uns der Oktober Jahr um Jahr:
Während Wärme, Licht und Laub entgleiten,
Fragt das Herz, ob wirklich Sommer war?Längst schon sind die Vögel auf der Reise,
Längst schon weht der Nebel nachts durchs Tal,
Längst schon flüstert durch die Stunden leise
Herbstlich herb das Wort: Es war einmal…Aber während wir uns heimbegeben,
In den großen Tod, dem nichts entrinnt,
Sehn wir Sterne durch den Abend schweben,
Funkelnder denn je.….…
Sterne steigen aus der Finsternis,Sterne überschimmern, südlich große,
Alles Eis der winterweißen Nacht,
Bis aus ihrem leichenkalten Schoße
Keimt, was neu den Frühling macht.
Sämtliche Werke von Herbert Fritsche (in 17 Bänden!) kann man auf Amazon oder hier bestellen.
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Mittwoch, 26. Juni
Während manche meiner Zeitgenossen unter „Gender-Dysphorie“ leiden, so habe ich mir selbst die Diagnose „Kultur-Dysphorie“ gestellt – also eine Unvereinbarkeit zwischen meiner innerseelischen Vorstellung von Kultur und Zivilisation und dem dystopischen Clownweltalptraum um mich herum, in dem ich leider und mit wachsender Entfremdung leben muß (nicht, daß ich mich jemals besonders “kongruent” oder “integriert” gefühlt hätte).Ich bin also eine Art Trans-Kultureller. Insofern mag es ein Leichtes sein, die folgenden Beobachtungen meinem freiwillig-unfreiwillig selbst-abgehängten und krankhaft überempfindlichen Charakter zuzuschreiben.
Ein wesentlicher Teil meines kulturdysphorischen Leidens (der Begriff kommt aus dem Griechischen δύσφορος = schwer zu tragendes Leid) nährt sich vom täglichen Anblick der Smartphonisierung der menschlichen Spezies, ein erschreckender Prozeß anthropologischer Verkrüppelung und Degeneration, der Tag für Tag unerbittlich und ohne jeglichen Gegenwind voranschreitet.
Darüber wollte ich schon seit über einem Jahr (genauer gesagt, seit dem Tod Ted Kaczynskis) einen längeren Artikel schreiben, aber ich schiebe ihn ständig hinaus, aus purer, feiger Schmerzvermeidung.
Besonders beunruhigend finde ich den Gleichschaltungseffekt dieser neuen universellen Grundausstattung, die so unentbehrlich und selbstverständlich geworden ist wie Schuhe, Hemden oder Hosen.
Buchstäblich jeder Mensch, dem man auf der Straße begegnet, führt sichtbar ein Smartphone (oder iphone, ist ja g’hupft wie g’sprungen) mit sich, meistens in die Handfläche geklebt, entweder in Bereitschaftshaltung oder in Aktion, indem er telefoniert, mit einem tranceartigen Blick auf den Bildschirm starrt oder über dessen Oberfläche mit den Fingern tippelt oder wischt, ohne Pause, beim Stehen, Gehen und Sitzen, beim Kinderwagenführen und Gassigehen mit dem Hund, beim Joggen, Radfahren, Einkaufen, Essen oder Kuscheln mit der besseren Hälfte.
Erspäht man endlich einmal jemanden “ohne”, kann man sich in der Regel das Aufatmen sparen, denn man muß nur ein paar Sekunden warten, bis seine oder ihre Finger wie von selbst, beinahe unbewußt, in die Hosen- oder Handtasche wandern und das kleine teuflische Ding hervorgriffeln oder mit ihm unentschlossen Raus-Rein spielen. Bei anderen wiederum verrät ein weißer Stöpsel im Ohr, daß das Gehirn gerade elektronisch geflutet wird.
Das sind für mich noch die erträglichsten Exemplare. Schlimmer empfinde ich diejenigen, die mich in der vollgestopften U‑Bahn umzingeln und dabei ständig wischen, tippen, scrollen, glotzen, labern oder zischende und krächzende Soundbytes abspielen. Soweit es mich betrifft, könnten sie genau so gut ungeniert vor sich hinonanieren, so peinlich ist es mir. Um die Wahrheit zu sagen, wäre es mir fast schon lieber, wenn sie stattdessen onanieren würden.
Der Eindruck, der sich mir aufdrängt, ist derjenige einer pawlow’schen Konditionierung und sozialen Dressur, zu der auch ein ziemlich manifestes Suchtverhalten gehört. Man kann es deutlich sehen in den dopamintrunkenen, tranquilisierten Gesichtern (“wie Hindukühe”, heißt es in Fight Club) und den nervösen herumhuschenden, herumtastenden Händen und Fingern, die fast schon eigenständig agieren und das Gerät wie von selbst zücken, wegstecken, wieder zücken, drauf gucken, wieder wegstecken, oder sonstwie befingern, befummeln und bewischen.
Das sind gar klar gehackte oder zumindest hackbare Gehirne, Menschen, die süchtig und damit schwach und abhängig, steuer- und kontrollierbar geworden sind.
Des weiteren frappiert die allumfassende “Massendemokratie” des Smartphone-Besitzes, da an diesem Verhalten lückenlos alle, wirklich alle teilhaben und mitmachen, egal welchen Geschlechts, welcher Rasse, welcher Altersklasse, welcher sozialer Schicht, welcher Religion und welchem Volk sie angehören. Diese totale Teilnahme und Einfügung erinnert mich ein wenig an die Maskengesichter während der “Pandemie”, deren Anblick gewiß ungleich bedrückender war, die aber, so empfinde ich es, eine ähnliche Schwäche, Gleichschaltung und Konformität signalisierten.
Besonders beklemmend finde ich es, wenn schon kleine Kinder auf diesen Dingern kleben wie Rosenkäfer auf Fliederblüten. Manchmal sieht man auch Erwachsene, die Säuglingen und Kleinkindern im Kinderwagen ein Smartphone in die Hand drücken, um sie ruhig zu stellen und zu beschäftigen. Andere wiederum gehen mit “gutem” Beispiel voran, indem sie sich durch ihre Social Media wischen, statt den Kindern Aufmerksamkeit zu schenken.
Für mich ist das alles noch eine dystopische, surreale “Neue Normalität”, nun aber wachsen vor meinen Augen Generationen heran, für die es selbstverständlich ist, daß man an jedem Ort und zu jeder Zeit und Gelegenheit mit dem Internet verbunden ist, daß man den Minicomputer immer mit sich trägt, als wäre er ein Körperteil, daß man kein Gespräch führen kann, ohne etwas zu gugeln oder dem anderen etwas vorzuspielen oder auf dem Display zu “zeigen”.
Frei nach Eric Blair: Wenn Sie ein Bild von der Zukunft haben wollen, so stellen Sie sich ein Smartphone vor, das einem unaufhörlich vor’s Gesicht gehalten wird. Ich versuche mich innerlich durch eine Art mortificatio mentis mit dem Gedanken abzufinden, daß das nun für den Rest meines Lebens so bleiben (oder sogar schlimmer kommen) wird.
Nicht selten (soll man mich halt geißeln für meine Misanthropie und Menschenverachtung) sieht man golemartige, vom Demiurgen verpfuschte Gestalten, an denen das Smarteste die kleine, komplexe und doch so einfach zu bedienende Wundermaschine ist.
Vor ein paar Tagen sah ich eine Gruppe von Menschen mit Down-Syndrom auf einem Bahnsteig, allesamt den Blick mit offenem Mund auf den schwarzen Spiegel in ihrer Handfläche gerichtet (nicht anders als jeder andere, der dort stand oder saß). Ich sage ehrlich, daß ich bei diesem Anblick erschrak. Es wirkte wie eine Szene aus einem Film von David Lynch oder Werner Herzog (oder Tod Browning, falls den noch jemand kennt).
Wie gesagt: Man muß nicht auf mich hören oder mich ernstnehmen, da ich ja bloß ein neurotischer Sonderling und Abseitssteher bin, dem es schwerfällt, sich ins Unvermeidliche und Unaufhebbare zu fügen und “mit der Zeit zu gehen”.
In der Wiener Innenstadt sah ich zwei Smartphonezombies (wie ich sie liebevoll nenne; sie sind in der Regel das erste, was ich auf der Straße vor meinem Hauseingang vorbeischlürfen sehe, wenn ich meine Wohnung verlasse) aus entgegengesetzten Richtungen aufeinander zuschreiten: Ein tätowierter, stoppelbärtiger Kurzhaariger mit einem Plattencover von Mayhem (die berüchtigte Debüt-EP „Death Crush“ von 1987) als T‑Shirt-Motiv, ein anderer, Typ Bobo-Hipster mit halblangen blonden Haaren, mit einem Ed-Sheeran-Shirt (Sheeran ist soetwas wie der Elvis der algorithmen-optimierten NPC-Musik für Fitnessstudios, Fahrstühle und Bürodrohnen).
Beide, etwa gleichalt (um die dreißig), hatten, wie heute üblich, den rechten Arm rechtwinkelig abgebogen, und hielten den Kopf gesenkt, den Blick auf den Bildschirm im Handteller fixiert. Beide hatten Stöpsel im Ohr, der eine hörte vielleicht „Chainsaw Gutsfuck“ (Zugriffe auf Youtube: 3,2 Milllionen) der andere vielleicht „Shape of You“ (Zugriffe auf Youtube: 6 Milliarden, 282 Millionen, 389,597). Ihre Körperhaltung und ihr Gesichtsausdruck waren identisch, gleichsam synchronisiert. Sie waren habituelle Zwillinge, trotz ihres extrem konträren Musikgeschmacks. Ohne aufzublicken und den anderen zu beachten, gingen sie aneinander vorbei.
Die beiden spukten in meinem Kopf herum, als mich die Redaktion des Magazins freilich bat, für die nächste Ausgabe einen Text über den aktuellen Stand der Popkultur zu schreiben.
Ich sagte zu, obwohl ich zu diesem Bereich seit der Jahrtausendwende nicht mehr viel Fühlung habe. Ich kenne zwar Namen wie Britney Spears, Justin Timberbieber, Miley Cyrus, Beyoncé, Eminem, Lana del Rey, Rihanna, Lady Gaga, Taylor Swift (letztere hauptsächlich durch trollige Altright-Memes aus der Trump-Blütezeit, die ihr Zitate von A. Hitler in den Mund legten, des weiteren über die Verschwörungstheorie, sie sei ein Klon von Zeena Schreck-LaVey von Radio Werewolf).
Gleichzeitig habe ich, mit Ausnahme von Eminem, der noch aus den neunziger Jahren stammt, kein einziges Lied der Genannten im Ohr. Kein einziges.
Na gut, das war jetzt ein bißchen Angeberei. Ich kenne zumindest “Wrecking Ball”, aber auch nur deswegen, weil Death in Rome es “ironisch” gecovert haben.
Ich habe mir auch ein paar Nicki-Minaj‑, Miley-Cyrus‑, Taylor-Swift- und Céline-Dion-Videos angesehen, aus Studienzwecken, ob die tatsächlich voller okkulter MK-Ultra-Gedankenkontrolle-Symbole sind, wie manche Verschwörungstheoretiker behaupten. Die Videos fand ich allesamt gräßlich, die Lieder ebenfalls, und kein einziges hat sich in mich eingewurmt.
Abgesehen von meinem subjektiven, persönlichen, minoritären Geschmack (trotz des bizarren, gigantesken Hyper-Hypes finde ich, daß Taylor Swift Bonnie Tyler oder der ungleich seelenvolleren Kim Wilde nicht das Wasser reichen kann, sogar Jennifer Rush war viel besser, erst recht natürlich Madonna in ihren besten Jahren), ist es unbestreitbar, daß die Popkultur etwa seit Beginn dieses Jahrhunderts ihre frühere Kraft als Zeitsignatur und die Massen verbindendes Kollektiverlebnis verloren hat. Wahrscheinlich waren die neunziger Jahre das letzte Jahrzehnt, das einen spezifischen audiovisuellen Zeitstil (oder Cluster von Stilen) hervorgebracht hat.
Heute herrscht eine Art „postmodernes“, zeit- und ortloses Hyper- und Meta-Epigonentum vor, in dem alles und jedes aus dem großen Pool der Vergangenheit immer wieder neu kombiniert, variiert, re-mixed, mashed-up, gesampelt und recycelt wird (was auch im Kinoangebot zu beobachten ist, in dem Sequels, Franchises und Remakes einen breiten, wenn nicht dominanten Raum einnehmen). Anything goes, und was dabei herauskommt, kann gewiß auch gut, gelegentlich hervorragend sein.
In den achtziger und neunziger Jahren, die ich als Kind und Jugendlicher miterlebt habe, war es praktisch unmöglich, den angesagten Platten, Kinofilmen und Fernsehserien zu entkommen, wie sie im Rundfunk und den Medien gespielt und beworben wurden. Mir ist es nicht gelungen, obwohl ich schon früh in die subkulturellen Keller und Seitenstraßen abgetaucht bin. Jeder kannte die Hitparaden-Hits, jeder erinnerte sich daran, ob freiwillig oder unfreiwillig, ob Fan oder Hasser. Alle schauten dieselben Serien, und wer das nicht konnte, war im Kindergarten und der Schule sozial stark benachteiligt.
Daß man heute (immerhin, und glücklicherweise) Jahre verbringen kann, ohne sich ein einziges Lied von Ed Sheeran oder Taylor Swift anhören zu müssen, hat mit der durch das Internet veränderten Art des Medienkonsums zu tun.
Man betrachte etwa die offziellen Zahlen der Recording Industry Association of America (RIAA) für das Jahr 2023: Der Großteil der Einkünfte im Musikgeschäft (Jahresumsatz 17,1 Milliarden Dollar) läuft über Streaming (84%), gefolgt von physischen Medien (11%), Downloads (2%) und Sync-Lizenzen (Verwendung in visuellen Medien, 2%).
“Physische Medien” sind CDs und Vinyl-LPs (zum Teil auch wieder Musikkassetten), wobei letztere die ersteren im Verkauf überholt haben und eine Art Liebhaber-Renaissance erfahren (das führt dazu, daß man, wie neulich mir passiert ist, heutzutage beim Libro unversehens auf eine funkelnagelneue Liebhaberpressung des Debütalbums von Velvet Underground inklusive abschälbarer Warhol-Bananenschale stoßen kann).
Da Unterhaltungsmedien heute vor allem via Internet konsumiert werden, kann sich jedermann seine eigene, individuelle Bespaßungsblase einrichten, in der ihm die Algorithmen gleich unsichtbaren Dschinnen die passende Kost aus einem inzwischen unüberschaubar riesigen Ozean aus digitalen Angeboten und Über-Angeboten fischen und auftischen, und das oft in rascher Reihenfolge und „quer durch den Gemüsegarten“, der freilich das Ausmaß und die Artenvielfalt eines südamerikanischen Regenwaldes hat.
Mit ein paar Klicks kann man in jedes nur erdenkliche Genre und Gesamtwerk, in jede beliebige Epoche abtauchen und die Zeitgenossen ignorieren, so lange man möchte (etiam omnes, ego non). Ich mache das auch so, nur eben per Laptop und mit selbsterstellen Windows-Media-Player-Playlisten und ähnlichen Old-School-Techniken (ich habe auch einen Platten- und einen Kassettenspieler, die ich recht häufig benutze).
Das sind meine “kulturangleichenden Maßnahmen”, um mein Leiden daran, in der falschen Kultur geboren zu sein, per Einigelung und Flucht aus der (dieser) Zeit in die schönen Dinge vergangener Zeiten etwas zu mildern.
Auch diese künstlichen Paradiese sind schon klick‑, bildschirm- und dopaminstoß-intensiv genug. Ich stelle mich jetzt also nicht hin wie ein Pharisäer, weil ich berufstechnisch das Glück habe, an meinem Dumbphone festhalten zu können. Auch ohne Smartphone-Upgrade schwimme ich in derselben Suppe wie wir alle, und versuche dabei zumindest, nicht ganz gargekocht zu werden.
Bei meiner Recherche stieß ich auf einen 2019 erschienenen Artikel des Musikjournalisten Simon Reynolds (Jahrgang 1963), der vor der Aufgabe kapitulieren mußte, einen Dekadenrückblick auf die Popkultur der 2010er Jahre zu schreiben. Er bringt es perfekt auf den Punkt, was geschehen ist:
Der Grund, warum es sich so anfühlt, als sei in den 2010er Jahren nichts passiert, ist, daß zu viel passiert ist. Jeder kulturelle Meilenstein wurde sofort durch den Ansturm des nächsten und des übernächsten weggefegt. Dieser Effekt der Erinnerungserosion ist einer der Gründe, warum wir den Eindruck haben, daß uns das Zeitgefühl abhanden gekommen ist.
Dieser Prozeß hatte bereits im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts begonnen, als Filesharing und YouTube ein riesiges, ungeordnetes, frei zugängliches Archiv vergangener Popkultur schufen, das sich mit aktuellen Veröffentlichungen vermischte, was einen Effekt der Zeitlosigkeit erzeugte.
Diese schwindelerregende Macht des totalen und sofortigen Abrufs hat sich in den 2010er Jahren dank Streaming-Diensten wie Spotify, Netflix und Amazon noch verstärkt. Diese gigantischen Plattformen haben nicht einfach den Platz der alten Monokultur der Massenmedien eingenommen, sondern haben den merkwürdigen Effekt, daß sie gleichzeitig vereinheitlichen und zersplittern. (Hervorhebung von mir. – ML).
Anstatt die Verbraucher dazu einzuladen, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt auf ein gemeinsames kulturelles Erlebnis einzustimmen, fördern sie individuelle Wege durch eine Fülle von Kunst- und Unterhaltungsangeboten.
Streaming ist wie Radio ohne oder nur geringe öffentliche Dimension. Gelegentlich fällt unsere Streaming-Auswahl mit jener einer großen Anzahl anderer Menschen zusammen – das schwindende Flackern der Monokultur zieht uns alle vorübergehend an denselben Ort. Aber meistens sind unsere Reisen durch die Klangbibliotheken einsam und asozial.
Das ist die Antwort: Was man heute als „Popkultur“ identifizieren könnte, ist ausufernd und fragmentiert zugleich, mäandernd, verschwommen und zu einem großen Teil losgelöst von Raum und Zeit. Der „Mainstream“ ist in zahllose Nischen zerfallen, ist selber nur mehr eine Nische unter Nischen, auch wenn sich darin ein Millionenpublikum tummelt, unbemerkt von Millionen anderen Menschen, die in anderen Nischen versunken sind.
Bliebe noch zu klären, ob sich das „Monokulturelle“, dessen Auflösung Reynolds konstatiert, nicht auf andere Ebenen verschoben hat. Die habituelle Ähnlichkeit zwischen dem Mayhem- und dem Ed-Sheeran-Fan, die ich beschrieben habe, mag dafür als Symbol dienen. Was ich da sah, war wohl die “Einheit in der Zersplitterung” oder die gegenstrebige Fügung der Heraklit.
In Wahrheit ist Pluralität in unserer Gesellschaft nur in unverfänglichen, privaten Bereichen “erlaubt”. Ted Kaczynski beschrieb es bereits in den neunziger Jahren: “Dem System ist es egal, welche Art von Musik jemand hört, wie er sich kleidet oder welche Religion er hat”, solange er sich widerstandslos ins Getriebe einfügt.
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Mittwoch, 10. April
Im Tagesspiegel vom 5. 4. erschien ein Schmierstück (“hit piece”, wie man auf Englisch sagt) wider die “Juden in der AfD”, insbesondere den Genossen Artur Abramovych, der auch Lesern dieser Netzseite bekannt sein dürfte.
Im Oktober letzten Jahres haben wir Teile eines Briefwechsels (Teil eins, zwei, drei) zwischen ihm und mir zum Thema Israel/Zionismus veröffentlicht (einen vierten Teil habe ich einstweilen in der Schublade liegen lassen).
Daraus destiliert der Autor des Stücks (Bezahlschranke, aber Sie müssen es nicht lesen, mein Kommentar genügt), ein gewisser Ruben Gerczikow (Jahrgang 1997), folgendes:
Er [Abramovych] hat für die Zeitschrift „Sezession“ geschrieben, die zum vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ eingestuften „Institut für Staatspolitik“ des neurechten Vordenkers Götz Kubitschek gehört.
Was genau er da eigentlich geschrieben hat und in welchem Rahmen es geschah, verschweigt Gerzcikow (ach, wie bequem doch der nun offiziell zur Verfügung gestellte Stempel des Verfassungsschutzes ist! Man könnte fast meinen, daß er extra zu diesem Zweck erfunden wurde.)
Wir erfahren nicht, daß es sich lediglich um einen Gastbeitrag auf der Netzseite (nicht im Druckmagazin) handelte, daß dieser die Form eines Streitgesprächs mit Yours Truly hatte, und daß Abramovych und ich einander dabei ziemlich scharf in die Mangel genommen haben. Wir erfahren nicht einmal, um welches Thema es überhaupt ging.
Dieses systematische Ausweichen vor konkreten Inhalten und Argumenten hat (altbekannte, altbewährte) Methode. Gerzcikow spult zwar ab, wer wann mit wem, aber “was” und “warum” scheint ihn nicht zu interessieren. Obwohl er genau das irreführenderweise im Untertitel ankündigt: “Warum ein jüdischer Netzwerker sein Heil in der AfD sucht”. Was für eine subtile, hintergründige Formulierung: Sein “Heil”! Hm, hm.
Inhaltliches Interesse sollte man eigentlich, wenn man immer noch so naiv ist wie ich, von einem Schreiberling erwarten, der laut Wikipippi zu spannenden Themen wie ” Rechtsextremismus, Islamismus, Antisemitismus und Verschwörungsideologien” publiziert.
Oder auch nicht, denn offenbar haben wir es hier mit einem der üblichen Denunzianten und Aktivisten auf Antifa-Niveau zu tun, die 200% auf der “richtigen” Seite surfen und bewährte, karrierefördernde Maschen stricken.
Abramovych ist zwar der Hauptschurke des Stücks, er taucht aber lediglich in Gestalt eines gesichtslosen, phantomhaften Doubles auf. Was wir über ihn erfahren, ist Klatsch etwa auf diesem Level:
Ein Jugendfreund von ihm erzählt davon, dass er Abramovych zu seinen Universitätszeiten in Freiburg studienbedingt sich sehr stark für Philosophie interessiert haben soll, aber auch „einen starken Bezug zum Nationalismus“ gehabt haben soll. Vor allem das Kaiserreich habe es ihm angetan. Ferner soll er fasziniert gewesen sein von den Gräbern für die jüdischen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg auf dem Soldatenfriedhof in Emmerndingen.
Huch!
Zusätzlich erfahren wir, daß Abramovych “Sympathiebekundungen für den ehemaligen SPD-Politiker Thilo Sarrazin geäußert haben” soll, “der wegen seinen Aussagen zur Einwanderungspolitik in die Kritik geraten ist”. (Kraß! Kantig! Rechtsextrem!)
Was wir, wie gesagt, nicht erfahren, ist, was er nun eigentlich wirklich selber denkt und wofür er konkret steht und eintritt und warum. Das einzige “Verbrechen”, das er nach diesem Bericht begangen hat, ist Netzwerkerei innerhalb der AfD und gleichgesinnter Juden, also im Grunde eine ganz normale Aktivität von Menschen, die sich politisch engagieren. Nach Ansicht von Faeser, Haldenwang & Co (siehe hier und hier) freilich soll nun auch das schon kriminalisiert werden, wenn es “von rechts” geschieht, weil es angeblich “die öffentliche Ordnung” gefährdet.
Warum AfD-Netzwerkerei so böse ist, glaubt Gerzcikow nicht weiter begründen zu müssen, weil die AfD aus seiner Sicht per se selbsterklärend böse ist und er das auch seinem Publikum nicht weiter erklären muß. In der AfD seien eben die (wie auch immer definierten) “Naziverharmloser” unterwegs, wofür als Beleg etwa Gaulands “Vogelschiß”-Zitat dient (das ich selber für einen Fehlgriff halte; denn ein Zeitraum von zwölf oder zwölfhundert Jahren sollte auch und vor allem qualitativ bemessen werden.)
Kein Wort etwa über Abramovychs lesenswertes Buch Entartete Espritjuden und heroische Zionisten, eine literaturwissenschaftliche Studie über Thomas Mann, Theodor Lessing und den Komplex des “jüdischen Selbsthasses” (den ich persönlich ausgesprochen unterhaltsam finde). Kein Wort über seine Übersetzung des Romans Itamar K. von Iddo Netanyahu, kaum ein Zitat aus einem Artikel oder einer Rede von ihm, mit einer Ausnahme zu Beginn:
Die Teilnehmer der aktuell überall im Land stattfindenden Demonstrationen gegen Rechts, behauptet er, wollten die „einzige Oppositionspartei“ verbieten lassen und damit „de facto die Demokratie abschaffen“ – genau so, wie es auch die „Nationalsozialisten taten”.
Dies rubriziert Gerzcikow unter “Relativierung des Nationalsozialismus” (was offenbar nicht der Fall ist, wenn mal wieder irgendjemand aus der Regierung oder aus den Mainstreammedien die AfD mit der NSPDAP “vergleicht”).
Eine weitere vage inhaltliche Information, die er anzubieten hat, ist, daß der anvisierte Schurke bei der AfD Bochum zum Thema „Aufstieg des Islamismus und importierter Antisemitismus in Deutschland“ gesprochen hat.
Nun: Man sollte annehmen, daß es doch für einen Juden in Deutschland hochinteressant wäre, zu hören, was ein anderer Jude in Deutschland zu diesem Thema zu sagen hat, und möglicherweise, ich gestatte mir den abseitigen Gedanken, findet sich gerade hier ein Schlüssel, warum manche Juden in Deutschland mit dem Mainstream jüdischer institutioneller Repräsentation unzufrieden sind und für die AfD optieren.
Für eine inhaltliche Auseinandersetzung ist sich Gerzcikow jedoch offenbar zu fein, nicht aber dafür, Verleumdungen vom Hörensagen aus der untersten Schublade hervorzukramen, wenn er etwa behauptet, Mitglieder der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG), bei der auch Abramovych Mitglied ist, haben behauptet, letzterer habe als Reaktion auf Kritik an “extrem rechten Positionen” “mit Gewalt gedroht”.
Was die Behauptung angeht, “eine Anfrage zu den Vorwürfen blieb vom JAfD-Vorsitzenden unbeantwortet”, so ist dies, nach persönlicher Auskunft von Abramovych, eine schlichte Lüge. Demnach fand kein direkter Kontaktaufnahmeversuch seitens Gerzcikows statt (übrigens “Political Activist of the Year” der Jahre 2020 und 2021 der World Union of Jewish Students). Abramovych hätte gute Gründe, rechtliche Schritte einzuleiten.
Was mich interessieren würde, ist, ob wirklich stimmt, was die in dem Artikel zitierte Psychologin Marina Chernivsky, Leiterin eines “Kompetenzzentrums” für “antisemitismuskritische Bildung und Forschung”, behauptet, nämlich, daß die “Mehrheit der jüdischen Community” die AfD als “absolute Bedrohung” einstuft, und aus welchen Gründen. Rationale Gründe kann ich dafür jedenfalls nicht erkennen.
Wie den Lesern dieses Blogs bekannt, habe ich etliche Kritikpunkte an dem Unternehmen JAfD (eine aktuelle eigene Netzseite gibt es momentan offenbar nicht).
Man kann gewiß keinem Juden zum Vorwurf machen, daß er sich dem Staat oder zumindest dem Projekt Israel verbunden fühlt, und es überrascht auch nicht, daß rechtsgerichtete oder konservative Juden, die Sympathien für die AfD haben, häufig Likud-affin sind. Aber weil die AfD nun einmal eine Partei für Deutschland und nicht für Israel sein soll, halte ich es verfehlt, ihr zionistische Parteinahmen unterjubeln zu wollen, ein Versuch, der innerhalb der Partei und ihres Umfelds zu unproduktiven Spannungen und Spaltungen führt.
Immerhin entnehme ich dem Artikel Gerzcikows, was Jahr und Tag meine Rede war und ist: Daß rechtsparteiische Vorstöße aller Art, sich an Israel ranzuhängen, auf keine oder nur marginale Gegenliebe stoßen und dazu verdammt sind, illusorisches Spartenprogramm zu bleiben (in anderen Ländern, wie Ungarn, wo die dominante Rechspartei die Regierung und nicht die Opposition stellt, mag das anders sein.) Ich würde nicht empfehlen, diesem Irrlicht zu folgen.
Ebenso halte ich das Heischen nach “Koscherstempeln” (wie Gerzcikow formuliert) aller Art für unwürdig, weil man sich damit nur zum Spielball von politischen Manipulationen machen läßt. Diese Neigung gibt es praktisch überall, nicht nur in der AfD, da Koscherstempel gewisse Vorteile bringen (aber eben auch ihren Preis haben). Es gibt aber keine verbindliche Zentrale, die entscheidet, welcher denn nun der “legitime” Koscherstempel ist, und wer das Recht hat, ihn zu vergeben. Man kann ihn sich also bei verschiedenen, konkurrierenden jüdischen Fraktionen holen. Ob er dann auch wirklich weiterhilft, steht auf einem anderen Blatt.
Ich habe freilich aber nichts dagegen, wenn sich Juden (und auch “Migrationshintergründler”) aus ehrlicher Überzeugung für die AfD engagieren.
Jedenfalls mag die Nummer aus dem Tagesspiegel als Beleg dafür dienen, daß man auch als Jude unter Juden nicht sicher vor persönlicher Diffamierung und Brandmarkung ist, wenn man “häretische” Positionen vertritt.
Wie ich bereits sagte, kommt Abramovych selbst in dem Artikel im Grunde gar nicht vor, sondern nur ein abstrakter, passend zurechtgeschnittener Buhmann, der zufällig denselben Namen trägt. So läuft es immer, und ebenso kursieren im Netz entsprechende Doppelgänger von Sellner, Kubitschek, Höcke oder auch meiner Wenigkeit. Weil sie zu feige sind, sich uns auf argumentativer Ebene zu stellen, müssen sie uns persönlich angreifen und unsere Argumente entstellen.
Trotz unserer Differenzen verstehe ich mich mit Abramovych persönlich recht gut. Er ist ein klassisch merkurialer Charakter (mit dionysischem Einschlag), der alles und jeden kennt, und auf alles und jeden neugierig ist. Er ist außerdem ein amüsanter und ausdauernder Trinkpartner (weitaus ausdauernder und hartgesottener als ich), und wenn sich mal wieder eine entsprechende Gelegenheit ergibt, meiden wir halt die “Reizthemen” und reden stattdessen über Kubrick- und Woody-Allen-Filme. Daß er irgendjemandem “Gewalt androhen” würde oder könnte, ist eine völlig lächerliche Vorstellung.
Vielleicht sollte Gerzcikow, der etwa gleich alt ist wie Abramovych, mal ein Bier mit ihm trinken gehen, aber das würde wohl seiner künftigen Karriere als ZdJ-Apparatschik schaden. Entsprechende Ambitionen läßt er jedenfalls deutlich heraushängen.
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Mittwoch, 28. Februar
Nach einer langen Zugfahrt mit mehrmaligem Umsteigen war ich dem kleinen Ort am Rande des Thüringer Waldes angekommen, an dem die Veranstaltung stattfinden sollte. Rotmilane kreisten langsam und lautlos über die noch blätterlosen Baumwipfel. Schneeglöckchen und Krokusse kündigten den Frühling an.
Was sich mir darbot, hätte genauso gut ein Dorf im tiefsten Rumänien, etwa in Siebenbürgen, sein können. Das verfallene Bahnhofsgebäude war geschlossen und erinnerte mich an das Spukhaus in Murnaus Nosferatu (in Wahrheit die alten Salzspeicher von Lübeck).
Nun fehlte nur noch die Kutsche mit den verhüllten Pferden und dem koboldartigen Lenker, um mich mit übersinnlicher Geschwindigkeit an mein Ziel zu bringen. Stattdessen kam ein Auto, um mich abzuholen. Der Fahrer war ein junger Mann mit langen, lockigen Haaren und einem zierlichen Bärtchen. Optisch hätte er gut in eine Prog- oder Psychedelic-Rock-Band der siebziger Jahre passen können.
Er war Mitglied eines Künstlerkollektivs aus Musikern, Malern, Graphikern, Dichtern und Cineasten, das mich eingeladen hatte, einen Vortrag zu einem Thema meiner Wahl zu halten.
Ich schlug vor, einen Filmregisseur vorzustellen, der seit nun fast 30 Jahren eine andauernde Faszination auf mich ausübt und mein Leben maßgeblich beeinflußt hat: Kenneth Anger, der im Mai letzten Jahres im hohen Alter von 96 Jahren gestorben ist, gefolgt von einer Vorführung eines oder mehrerer seiner Filme.
Der Veranstaltungsort war etwa zehn Minuten Autofahrt vom Bahnhof entfernt. Was sich mir darbot, war ein Stück unwahrscheinliches Geheimes Deutschland am Waldesrand, das beinahe surreale Qualitäten hatte.
Von außen war es ein mehrstöckiges, ungefähr fünfzehn Meter hohes Eisenbetongebäude aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, das früher zu landwirtschaftlichen Zwecken, etwa als Kornkammer, genutzt worden war. In DDR-Zeiten diente es eine zeitlang als eine Art “Jugendtreff”. Optisch besonders schön und auffällig war ein ehemaliger Wasserturm, der mit dem Hauptgebäude verbunden war.
Wenn man es von außen sah, war man kaum vorbereitet auf den Anblick, der sich im Inneren bot. Die Stockwerke erreichte man zu Fuß durch eine Wendeltreppe. Dort befanden sich Lagerräume, Gästezimmer, Badezimmer, Ateliers für die Künstler, ein kleines Tonstudio, eine Bibliothek, eine Küche, eine reichlich bestückte Bar, sowie ein großer Raum, der für Vorträge, Konzerte und Partys eingerichtet war.
Die Mitglieder des Kollektivs hatten sich hier mit stupendem Aufwand einen Traum von einem Refugium ins Anderswo und Anderswie erfüllt. Da es sich bei ihnen um eine Art Geheimbund handelt, in den nicht jeder hineinkommt, werde ich nicht mehr über sie erzählen. Jedenfalls habe ich selten eine solche Ansammlung an eigenwilligen Charakteren gesehen.
Mit ihrer Erlaubnis erwähne ich nur eine feline, russische Sängerin und Ballettänzerin, die sich “Grischkin” nannte. In ihrem Zimmer im obersten Stockwerk beherbergte sie eine Garderobe aus extravaganten Kostümen, die sie zum Teil von ihrer Großmutter aus St. Petersburg geerbt hatte.
Ich erblickte eine Leopardenfelljacke, die mich an Rainer Werner Fassbinders Outfit in dem Film Kamikaze 1989 erinnerte. Aus Spaß probierte ich sie an, und mußte feststellen, daß sie mir wie angegossen paßte. Grischkin beschloß spontan, sie mir zum Geschenk zu machen; sie selbst ziehe sie kaum an, da sie darin wie eine “prostitutka” aussehe.
Der Leopard ist ein traditioneller Begleiter des Dionysos, und so ergriffen in dieser Vollmondnacht mit dem mystischen Datum 24. 2. 2024 entsprechende Energien von mir Besitz.
Auch über die Gäste gelobte ich zu schweigen. Sie waren handverlesen und kamen aus ganz Deutschland angereist, unter ihnen so mancher Stargast “unseres” Spektrums. Die Frauenquote war für eine Veranstaltung dieser Art erstaunlich hoch. Etliche hatten, ebenso wie ich, Wurzeln in der “schwarzen Szene” und im Neofolk.
Besonders bewegend war für mich das Wiedertreffen mit einem musikalisch aktiven Paar, das ich zuletzt im Winter 2005 in einer verschneiten Berghütte, ebenfalls im Thüringer Wald, getroffen hatte. Sie zeigten mir auf einem Smartphone Fotos, die ich noch nie zuvor gesehen hatte.
Damals hatte ich in einer kleinen Runde von Neofolk-Enthusiasten bei Kerzenlicht ein paar Texte vorgetragen, die ich zusammengestellt hatte: unter anderem von Hölderlin, Heidegger, Reinhold Schneider, Stefan George, Thomas Traherne und Gottfried Benn.
Per Fotokopierer hatte ich daraus ein kleines Heft hergestellt, von dem jeder Anwesende ein Exemplar bekam. Dieses Heft war die Keimzelle (oder Ur-Ur-Version) meines Buches Kann nur ein Gott uns retten?, das neun Jahre später erscheinen sollte.
Über Kenneth Anger und sein schillerndes, extravagantes Leben werde ich eines Tages noch einen eigenen Artikel schreiben müssen. Er war ein sogenannter “Avantgarde”-, “Experimental”- oder “Underground”-Filmer, Etiketten, die er selbst abgelehnt hat (ebenso wie die Kategorie “gay”, in die er heute wegen seiner Homosexualität einsortiert wird). Er arbeitete als Außenseiter komplett abseits der großen Filmindustrie, der er mit einer Art Haßliebe gegenüber stand.
Seine Filme, deren längster nur etwa vierzig Minuten dauert, sind komplexe visuelle Poeme ohne Dialoge und mit nur rudimentärer Handlung, Neo-Stummfilme mit Musik, die von Rhythmus und Farbe leben, die in erster Linie sinnliche, nicht intellektuelle Erlebnisse sind. Sie sind hochartifizielle, dekadente “Blumen des Bösen”, die Anger zu einem Helden all jener gemacht haben, die einen eher düsteren und abseitigen Geschmack pflegen.
Ich habe seinen “Magick Lantern Cycle”, einen Zyklus aus neun Filmen, enstanden zwischen 1947 und 1980, zum ersten Mal auf VHS-Kassetten im Alter von achtzehn Jahren gesehen und war vollkommen weggeblasen: Nicht nur ihre Ästhetik und Thematik zogen mich in ihren Bann, sondern auch ihre imaginative, phantasievolle Machart.
Bis auf eine Ausnahme sind sie allesamt auf 16mm-Film gedreht, mit sehr geringen bis gar nicht vorhandenen Budgets. Die Darsteller sind stets Laien, Freunde Angers oder Menschen, die er aufgrund ihrer seelischen Ausstrahlung, körperlichen Erscheinung und Physiognomie besetzte. Das wirkte trügerisch einfach und weckte in mir den Wunsch, selbst Filme zu machen. Ich begann, mit Freunden aus der “schwarzen Szene” heute eher peinliche Kurzfilmchen auf Hi-8-Video zu drehen, die Angers Stil zu imitieren versuchten (so habe ich eine Art Grufti-Remake von Puce Moment gedreht).
Ich hatte zu dieser Zeit einen großen Hunger nach spirituellen, metaphysischen Dingen, ein schwärmerisches Interesse an Religion, Okkultismus und Esoterik, las Jung und Eliade, Gustav Meyrink und seinen heute vergessenen Schüler Herbert Fritsche, Hesses Demian, Walter Schubarts Religion und Eros, Rudolf Ottos Das Heilige, die herrlich obskuren Aorta-Traktate von “Kadmon” Gerhard Hallstatt, William Blake und den Nietzsche der “Dionysos-Dithryamben”. So war es kein Wunder, daß ich zum fanatischen Fan von einschlägig orientierten Bands wie Current 93, Death in June oder Coil wurde.
Ich möchte betonen, daß ich dabei zu keinem Zeitpunkt “antichristlich” oder gar “satanistisch” eingestellt war, ganz im Gegenteil. Es war eine Art persönlicher, eigenwilliger Synkretismus, der sich in mir zusammengebraut hatte. Ich fühlte mich als das, was Colin Wilson einen “Fährtensucher Gottes” nannte, und es waren vor allem die Spuren der Schönheit und des Geheimnisses, “ekstatische Wahrheiten”, nach denen ich suchte.
Angers Werk paßte perfekt zu diesen Neigungen und Passionen. Seine spirituelle Leitfigur war der skandalumwitterte Magier und Libertin Aleister Crowley, er selbst bekennender “Thelemit”. Vor allem seine Filme Inauguration of the Pleasure Dome, Invocation of my Demon Brother und Lucifer Rising sind stark von der “Crowleyanity” beeinflußt, die mich selbst nie besonders angezogen (eher abgestossen) hat, und die ich (größtenteils) für Humbug halte. Im Falle Angers hat sie immerhin bemerkenswerte Kunstwerke inspiriert.
Am 30. und 31. Mai 1995 sah ich sämtliche Filme von Anger im Wiener Stadtkino als Filmprojektionen auf der Leinwand – also so, wie sie optimalerweise gesehen werden sollten. Der optische Eindruck war überwältigend, berauschend.
Anger selbst war an beiden Abenden anwesend und stellte sich Fragen aus dem Publikum. Ich hatte einen wüsten, schwulen, sadomasochistischen Satanisten in schwarzer Lederjacke erwartet, und war etwas schockiert, stattdessen einen freundlichen Opa im Schlabberwollpulli mit Planeten-Motiven zu erleben (der Wolf im Schafspelz?).
Nach einer der beiden Vorstellungen wagte ich mich an ihn heran, und bat ihn, den Katalog einer Ausstellung zu signieren, die parallel zu den Filmvorführungen in Wien zu sehen war. Naiv, wie ich war, wollte ich ihn fragen, ob er sich als “religiöser” Filmemacher sehe, was ich für eine sehr schlaue und bedeutungsvolle Frage hielt, brachte es aber aus Schüchternheit nicht über mich.
Der Film, den ich im Refugium im Thüringer Wald einem Publikum von etwa dreißig Leuten vorführte, war Angers Opus magnum Lucifer Rising, dessen Verwirklichung eineinhalb Jahrzehnte in Anspruch nahm (von 1966 bis 1980) und das den Filmemacher mehr oder weniger ausgelaugt zurückließ. In den folgenden viereinhalb Jahrzehnten seines Lebens sollte er kein bedeutendes Werk mehr schaffen. Ab und zu brachte er belanglose Kurz- und Kürzestfilme (auf Video) heraus, die nichts mehr von seinem früheren Genie erahnen ließen.
Der “Lucifer” des Films, der sich als neo-heidnische Vision versteht, ist im Sinne der Crowley-Lehre nicht der Teufel der Christentums, sondern eine Art Licht- und Sonnengott eines kommenden “Äons”, das das “judäochristliche” Zeitalter ablösen soll (ähnlich dem “Age of Aquarius” der Hippies). Er wird im Film gleichgesetzt mit Horus, dem Sohn von Isis und Osiris, die als Personifikationen von Leben und Tod auftauchen.
Der Großteil des Films wurde in Ägypten, in Gizeh, Luxor und Karnak gedreht, andere, unvergeßliche Szenen in Stonehenge und bei den Externsteinen im Teutoburger Wald. Marianne Faithfull, die zeitweilige Geliebte Mick Jaggers, taucht in einer Doppelrolle als Lilith, die “erste Frau Adams”, und als teilweise etwas verstörte wirkende Initiatin eines magischen Kults auf.
Vulkane, Lavamassen, Waldbrände, Stürme, Meereswellen, wilde Tiere wie Krokodile, Elefanten, Schlangen und Tiger evozieren die Urkräfte des Lebens. Magier in bunten Kleidern beschwören kosmische Energien.
Luzifer erscheint mit braunen Locken im Habitus eines jugendlichen Rockstars, am Ende des Films tauchen sogar orangene UFOs als Boten des “neuen Zeitalters” auf (Seraphim Rose und der Traditionalist Charles Upton deuteten UFOs als “Dämonen” bzw. Dschinnen).
Dies alles unterlegt mit der phantastischen, hypnotisch-psychedelischen Musik von Bobby Beausoleil.
Wie es der Zufall will, starb kurz zuvor, am 19. Februar, der Ägyptologe Jan Assmann im Alter von 85 Jahren. Seine Gegenüberstellung von jüdisch-christlich-islamischem Monotheismus und heidnischem “Kosmotheismus” bietet meiner Ansicht nach einen hervorragenden Schlüssel zu Angers Film, den ich als in diesem Sinne “kosmotheistisch” (und nicht als “satanistisch”) klassifizieren würde (er hat jedenfalls gewiß mehr mit Ludwig Klages als mit Anton LaVey zu tun).
Im Tanach, der hebräischen Bibel, sind die Ägypter die “Bösen”, die Zauberer und Götzenanbeter par excellence. In Lucifer Rising sind sie die “Guten”, wie auch überhaupt in der in der Renaissance wiederentdeckten hermetischen Tradition, die, vermittelt über die Freimaurerei, auch in der Zauberflöte mit ihrem ägyptischen “Setting” auftaucht.
Auch in der “Thelema”-Bewegung, einem wilden Mischmasch aus okkulten Traditionen und Fabrikationen, spielen ägyptische Motive als vorchristlich-heidnisches Paradigma eine entscheidende Rolle: Crowley behauptete, sein “Buch des Gesetzes”, eine Art “Bibel” des neuen Zeitalters, mediumistisch vor einer Stele im Ägyptischen Museum in Kairo empfangen zu haben.
In diesem Zusammenhang ist eine sehr kühne These bemerkenswert, die Assmann etwa in Moses der Ägypter dargelegt hat: Kurz gefaßt wäre die jüdische Religion eine Art Inversion der ägyptischen Religion, nicht unähnlich dem “klassischen” Satanismus (nachzulesen etwa bei Huysmans), der alles, was im Christentum heilig ist, auf den Kopf stellt. Ihr Vorbild findet Assmann im ägyptischen Häretiker Echnaton, der den ägyptischen Pantheon durch einen Monotheismus ersetzen wollte.
All dies wären Themen für künftige Essays. Ich selbst halte, wie gesagt, nichts von der “Crowleyanity” und denke, daß zeremonielle Magie, sofern sie denn “funktioniert”, eine eher gefährliche Sache ist. Woran ich aber glaube, ist die “Magie” der Kunst, die mit Licht, Farbe und Bewegung Kraftfelder erzeugen und die Welt “wiederverzaubern” kann.
Zu Beginn der Veranstaltung bekam jeder Gast, der es wünschte, einen knallroten, von der Bardame ad hoc erfundenen “Lucifer Shot”, zum Abschied einen von Tristan Glaszwist entworfenen Poster mit Signatur von Lichtmesz.
Nach der Filmvorführung, die sehr gut ankam, begab ich mich ans DJ-Pult und beschallte die Gäste mit Neofolk‑, Postpunk‑, Darkwave- und Gothic-Musik. Getanzt wurde enthusiastisch bis halb fünf Uhr morgens.
Am Ende dieser Nacht fühlte ich mich, als wäre auf magische Weise ein Wunsch in Erfüllung gegangen.
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Donnerstag, 21. Dezember 2023
Letztes Wochenende war ich zu einer kleinen Runde im gemütlichen Jagdpavillon des Grafen von P. nahe der östlichen Grenze eingeladen. Die Stille, Abgeschiedenheit und Menschenleere des Ortes standen in wohltuendem Kontrast zum Getöse der Großstadt, aus der ich mit dem Zug spätabends angereist war.
Die rückwärtige Wand des Pavillons lehnte sich an den dunklen Rand eines Tannenwaldes, in dem noch etwas Schnee vom großen Wintereinbruch vor zwei Wochen liegengeblieben war. Die Innenausstattung spiegelte den zuweilen exzentrischen Geschmack des Besitzers wider. An der Wand hingen, neben den obligaten Hirschgeweihen und Eberköpfen, Gemälde von österreichischen phantastischen Realisten und polnischen Surrealisten sowie etliche italienische Art-Deco-Drucke.
Im Bücherständer dämmerten, dem Ambiente gemäß, antike Bände in Gold und Braun, aber auch die gesammelten Werke von Jules Verne in der schönen (von mir persönlich favorisierten) gelben Taschenbuchausgabe des Diogenes-Verlags aus den siebziger Jahren mit den Kupferstichen der Originalausgaben.
Auf den Regalen standen neben geschmackvollen Skulpturen allerlei pittoreske alchimistische Apparaturen, Röhren, Phiolen, Alembiks, Brennblasen, Mörser und gläserne Behälter. Es war dem Grafen allerdings, so teilte er uns mit Bedauern mit, bislang noch nicht gelungen, “auch nur ein Stäubchen Gold” herzustellen. Aufgegeben hatte er allerdings noch nicht. Kapitulation ist nicht Teil seines Charakters.
Nach einem üppigen Abendessen nahmen wir Herren am Kaminfeuer Platz, bedienten uns aus einem reichlichen Sortiment von Zigarren und Zigarillos und schwenkten bauchige Cognac-Gläser. Obwohl sie Nichtraucherinnen waren und abgesehen von ein, zwei Weißweinspritzern abstinent blieben, gesellten sich zwei kluge, junge Damen zu uns (die Gesamtrunde war etwa zu gleichen Teilen mit Männern und Frauen besetzt, auch ein paar Kinder waren anwesend).
Eine der beiden betrieb ein merkwürdiges Kunsthandwerk: Ihre Spezialität war die Anfertigung von Schmuck, Lampen, Aschenbechern, Garderobenständern und undefinierbaren dekorativen Gegenständen aus den Knochen aller nur erdenklichen Tiere, insbesondere deren Schädel. Sie hatte es darin zu einer stupenden Meisterschaft gebracht. Manche fanden ihren Humor etwas makaber.
Die andere war nicht weniger eigenwillig. Sie hatte mir zuvor gestanden, daß sie davon träume, sich das ikonische Konterfei eines düsteren Philosophen der Konservativen Revolution auf den rechten Oberschenkel tätowieren zu lassen, mit einem Schriftzug in Fraktur: “Oswald Spengler Ultras”.
Wir hatten schon den ganzen Abend mit heiteren und ernsten Gesprächen verbracht, die in größter Freiheit und Offenheit geführt wurden, wie es heute nur mehr in speziellen Refugien möglich ist.
Jeder einzelne Gast hatte mindestens eine haarsträubende Anekdote über die “Corona”-Jahre beizusteuern, die wir allesamt im hartnäckigen Widerstandsmodus verbracht hatten. Auch ich hatte aus diesem Genre etliches beizusteuern, verspürte aber einen inneren Widerwillen, an diese geradezu traumatische Zeit auch nur zu denken. Dennoch will und werde ich mein Leben lang nicht vergessen (und auch nicht vergeben), was damals geschehen ist.
Mit dem Fortschreiten des Abends wurde unsere Stimmung ausgelassener, unser Gelächter schallender und homerischer. Dann aber gelangten wir bei einem Thema an, das unsere Mienen schlagartig verfinstern ließ und einen glühenden, extremistischen, radikalen, unversöhnlichen, grenzenlosen Haß ohne Boden weckte.
Nun war der Spaß zu Ende. Sogar aus dem Antlitz unseres stets jovialen Gastgebers waren Ironie und Humor verschwunden. Seine Augen verengten sich zu bedrohlichen Schlitzen, Clint Eastwood gleich, bevor er seine Magnum zückt.
Denn nun blickten wir dem Untergang der Welt direkt ins Auge: Die Rede war auf die Verbrechen der zeitgenössischen Architektur gekommen.
Auf die Verschandelung und Zerstörung von Stadt- und Dorfbildern. Auf den architektonischen Vernichtungskrieg gegen alles Gewachsene, Organische und Überlieferte. Die Auslöschung der in Räumen bewahrten Spuren der Zeit, um die Gefängnisse einer tyrannischen, geschichtslosen All-Gegenwart zu errichten. Die Verflüssigung konkreter Orte in ein unterschiedsloses Überall und Nirgendwo.
Die schwachsinnigen, scheußlichen, deformierten, stümperhaften, teuren Skulpturen im öffentlichen Raum. Das Wuchern von billigen, schmucklosen, menschenunwürdigen Betonklötzen, deren Anblick Suizidwünsche weckt. Die metastasenartig voranschreitende Bodenversiegelung und das stetige Schwinden von grünen und unbesiedelten Flächen. Gebäude, die vor egozentrischer Wichtigtuerei oder stumpfsinniger Asozialität strotzen, sich wie Rüpel oder steingewordener Pöbel auf Orten breitmachen, an denen sie nichts verloren haben.
Jeder einzelne Teilnehmer der Kaminrunde konnte ein Beispiel nennen, das sein ästhetisches und moralisches Empfinden zutiefst beleidigt hatte. Die meisten Beispiele, die genannt wurden, stammten nicht aus der Großstadt (wo derlei ohnehin kaum mehr wahrgenommen wird), sondern aus der vermeintlich heilen Provinz, wo die architektonische Verwesung, die eine innere, geistige Verwesung widerspiegelt, besonders schmerzlich sichtbar wird.
Die einst beschauliche Hauptstraße eines Dorfes, in die ein formloses Einkaufscenter mit einem breiten Eingang gleich einem gähnenden Maul hineingepreßt und die mit vulgären, verschwenderischen Beleuchtungsexzessen verunstaltet wurde. Zusätzlich säumen den Gehsteig dümmliche, sinnlose Steinkugeln, die in regelmäßigen Abständen voneinander aufgestellt wurden.
Eine Barockkirche, die sterilsaniert und mit Glastüren und einem schiefen, würdelosen Marmorlesepult in idiotischer Zickzackform ausgestattet wurde. Der Gast, der dieses Beispiel nannte, litt darunter tief: Früher hatte er immer, wenn er in seinem Heimatort weilte, die Kirche zu einem stillen Gebet besucht. Nun brächte er es vor Schmerz nicht mehr über sich, das Gebäude zu betreten, es käme ihm vor, es wäre ein Sakrileg geschehen, das alle guten Geister und mystischen Kindheitserinnerungen ausgetrieben habe, allein durch die Anwesenheit des mißratenen Lesepults, die von unbegreiflicher Dummheit sei.
Das älteste Haus eines Dorfes, stammend aus dem Hochmittelalter, ein einfacher, aber harmonischer und anheimelnder Bau mit kleinen Sprossenfenstern, einer uralten Holztür und schrägen Dächern, angeleimt an einen eckig-zackigen Stahl-Glas-Wohnhauskasten mit flachen Dächern, gleich einem architektonischen Kentaur, in dem das Unvereinbare gewaltsam zusammengezwungen wurde.
Ein Wirtshaus aus dem 19. Jahrhundert, das über viele Generationen hinweg unzählige Hochzeiten, Taufen, Begräbnisse und Geburtstagsfeiern gesehen hatte, aufgrund der Dezentralisierung und Auflösung des sozialen Lebens im Dorf nicht mehr rentabel, geschlossen, abgerissen und ersetzt durch einen weiteren eckigen, lieblos hingeklotzten Wohnbaukasten mit einem markanten Vorbau, der auf dicken, runden, metallisch glänzenden Säulen ruht. Er wurde gerade so hoch gebaut, daß den Einwohnern der dahinter gelegenen Häuser, die zum Teil über zweihundert Jahre alt sind, der Blick auf die Kirche aus dem Spätbarock versperrt wird.
Der Graf von P., ein widerständiger Idealist und Schöngeist am Rande der Selbstschädigung, gestand, daß er im naheliegenden Ort bereits ein halbes Dutzend Häuser aufgekauft habe, nur um sie vor dem Abriß und der Ersetzung durch modernistische Scheußlichkeiten zu retten.
Welche Art von Mensch entscheidet über diese Dinge? Ich werde es nie begreifen. Was geht in Gehirnen vor, die es fertig bringen, sich sabbernd dämliche Monströsitäten wie den unlängst in Wien präsentierten “WirWasser”-Brunnen, der 1,8 Millionen Euro gekostet hat, auszudenken und ihnen Baugenehmigung zu erteilen? (Wobei ein Blick in das schnitzelartige Antlitz von Bürgermeister Ludwig genügt, um törichte Fragen dieser Art jäh verstummen zu lassen.)
Ein Beispiel aus einer Großstadt wurde aufgebracht, das alle kannten und alle gleichermaßen leidenschaftlich haßten: Das “Kunsthaus Graz”, ein schwarzglänzendes, behäbiges, in “biomorphen” Freiformkurven waberndes Exkrement in Gebäudeform (sogenannte “Blob-Architektur”) mit saugnapfartigen Ausstülpungen auf dem “Dach” (sie nennen es “Lichteinlass-Rüssel”), das 2003 mitten in die Altstadt gekotet wurde, wo es sich, Zitat Wikipedia, “bewusst von der barocken Dachlandschaft mit ihren roten Ziegeldächern” abheben soll.
Mit anderen Worten handelt es sich eingestandenermaßen um einen gezielt böswilligen, minusbeseelten, sadistischen Akt von Vandalismus, woran ein Blick vom Schloßberg hinab in die Altstadt nicht den geringsten Zweifel übrig läßt. Diese hämische optische Beschmutzung wurde also, wie man in Österreich sagt, tatsächlich “z’Fleiß” gemacht.
Es ist auch kein Zufall, daß es eine Art “Alien” darstellen soll. Es hat keine Haftung auf und keinen Bezug zu dem Boden, auf den es gestellt wurde; es ist aus dem Nichts des Ort- und Geschichtslosen herabgestürzt, um einen konkreten, geschichtlich gewachsenen Ort zu zerstören, zu zersetzen, zu “dekonstruieren”; es ist nicht gleichgültig gegenüber den benachbarten Gebäuden, sondern verhält sich ihnen gegenüber offen feindselig.
Innen wird natürlich nur subventionierter Dreck ausgestellt.
Als ich es 2013 zum ersten Mal mit eigenen Augen sah, stiegen mir Tränen in die Augen, wobei es mir schwer fiel, zu entscheiden, ob mich die Häßlichkeit, die Dummheit oder die nackte Boshaftigkeit mehr erzürnte. Das war aber letzten Endes egal, da diese Dinge fließend ineinander übergehen, und gerne vereint auftauchen wie eine unheilige Dreifaltigkeit.
Der wie eine Flamme jäh aufglühende Haß auf das fragliche Objekt hatte einen tonischen, exaltierenden Effekt auf die Runde. So manches Auge glänzte feucht, so manche Wange rötete sich heiß bei der freudigen Vorstellung, dieses widerwärtige Ding eines schönen Tages nach der metapolitischen Wende von Abrißbirnen, Bohrgeräten, Sprengstoff und Flammen drangsaliert zu sehen wie den “Brain Bug” aus dem Film Starship Troopers, um die geschändete Altstadt angemessen zu rächen.
Nun wärmte uns in dieser kalten Winternacht nicht nur das Feuer im Kamin, sondern die Glut in unseren Herzen. Ja, es war genau dort, wo wir unseren Haß lodern fühlten, gerade richtig und passend zum herannahenden “Fest der Liebe”.
Was uns gleich zum nächsten Gedanken führte, dem alle einhellig zustimmten: Daß der Haß, mitsamt seinen nahen Verwandten Wut, Zorn und Entrüstung, eine völlig zu Unrecht verleumdete Emotion ist.
Besoffen von unserem wohlig lodernden Haß und seiner morphiumartigen Wirkung, verspürten wir keine Lust auf Nuancen. Als geistig rege und differenzierte Menschen wären wir dazu wohl imstande gewesen.
Wir alle kennen die Binsenweisheiten, daß Haß “häßlich macht”, daß Haß “blind macht” (dasselbe sagt man von der Liebe), daß es ungesund ist, aus seinem Herzen eine Mördergrube zu machen und daß es reichlich niederen Haß aus niederen Motiven gibt. “Tief ist der Haß, der in den niederen Herzen dem Schönen gegenüber brennt”, heißt es in Jüngers Marmorklippen, und diese Art von Haß ist es wohl auch, der in etlichen architektonischen Schandtaten gewütet hat.
Der Haß, den wir nun fühlten, erlebten wir als vom Herrgott gegebene und gewollte, gesunde, “thymotische” Abwehrreaktion angesichts des Bösen, Niedrigen und Gemeinen.
“Haß” gilt heute als Niedrigstatusemotion. Sie ist das Kennzeichen der Ungewaschenen, Ungebildeten und Unaufgeklärten, der “deplorables”, “Abgehängte”, “Wutbürger”, Social-Media-Trolle und Rechtsparteienwähler, die allesamt einfach so, ohne wirklichen Grund, frei fluktuierend vor sich hin hassen, weil sie nichts besseres zu tun haben. Wer hingegen zur gehobeneren Klasse der “Weltoffenen” gehören und Anschluß an die “Eliten” haben will, muß so tun, als ob er keinen Haß kenne und vor diskriminierungsfreier Menschenliebe aus allen Nähten platze.
2017 schrieben Lichtmesz & Sommerfeld:
Alles, was über »Angst« und »Phobie« gesagt wurde, gilt auch für den »Haß«. Auch hierbei handelt es sich um ein durch Entdifferenzierung gewonnenes Logo-Toxin, das zur politischen Schädlingsbekämpfung eingesetzt wird. »Haß« gehört in diesem Zusammenhang vor allem in das Genre des politischen Kitsches.(…)
Wer die Politik der Linken, Globalisten und Multikulturalisten kritisiert, ist ein »Hasser« und »Hetzer«, der sich in einem finsteren nationalistischen Kellerasselloch »abschotten« will. »Haß« ist sozusagen deren Meister-Frame, mit dem sie jede Form der Abgrenzung, Unterscheidung und »Diskriminierung« brandmarken.(…) »Haß« und »Hetze« sind Wörter, die auch phonetisch schön zischen und fauchen. Das Wort »Haß« selbst erweckt negative Emotionen. Wen man des »Hasses« beschuldigt, den will man auch »häßlich, so gräßlich häßlich« (frei nach dem alten Hit von DÖF) machen.
Wir legten noch eins drauf, und formulierten eine Ehrenrettung des Hasses:
Seine laufende Verleumdung basiert nicht nur auf einer falschen Anthropologie, die ihre Vertreter zur Lüge und Heuchelei zwingt, sie verfälscht auch die Ethik und das Wesen der Liebe. Faßt man mit dem Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt den Haß als eine Form des Aggressionstriebes auf, so hat er grundsätzlich eine positive, lebenserhaltende, nützliche Funktion.
Er hängt eng mit der Liebe zusammen. Wir alle sind berechtigt, zu hassen, was unser Leben, das unserer Familien und alle Dinge und Menschen, die wir lieben, schädigen, vernichten und zerstören will. (…) Zweifellos empfiehlt es sich, ihn im Zaum zu halten, aber ihn pauschal zu verdammen, ist unsinnig. Haß ist eine natürliche Reaktion auf belastende, quälende, bedrohliche Dinge, und in den meisten Fällen vergeht er rasch wieder, wenn die Ursache beseitigt ist.
Wir zitierten Thomas von Aquin:
»Wird also nur das Böse, das Übel, gehaßt, so folgt, daß jeder Haß Lob verdient.« Haß sei »das Widerstreben gegen das als verderblich und schädigend Aufgefaßte.« (Summa theologica, Quaestio 29, 1. Hälfte des 2. Teils)
Mein Redebeitrag zu diesem Thema war im Großen und Ganzen eine Zusammenfassung dieses Abschnitts aus unserem Bestseller aus turbulenteren Zeiten.
“Haß ist mithin nicht selbst ‘das Böse’, sondern er richtet sich auf das Böse”, fuhr ich fort. “Er kann aber böse werden, wenn etwa dieses Böse kein Böses ist oder wenn er das richtige Maß verliert. Ich jedenfalls halte es grundsätzlich mit Boyd Rice, ‘My hate is like love to me.’ ”
“Es ist doch ganz einfach”, sagte nun die sonst eher schweigsame Spenglerianerin, die das Grazer “Friendly Alien”, das sie von innen wie von außen aus eigener Anschauung kannte, mit besonderer Insbrunst haßte. “Haß auf das Häßliche ist Liebe zum Schönen.”
Sie hatte vollkommen recht, weshalb ich hoffe, daß sie nur gescherzt hat, als sie über ihre Tätowierungsabsichten sprach.
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Freitag, 1. Dezember
Nach zwei Jahren ist Gil Ofarims Lügenfassade endlich zusammengebrochen. Er hat gestanden, daß er die “antisemitischen” Übergriffe des Personals des Grand-Westin-Hotels in Leipzig frei erfunden hat.
Angesichts seiner von Anfang geringen Glaubwürdigkeit wundert es mich ein wenig, daß er überhaupt so lange durchgehalten hat. Oder daß er ernsthaft dachte, daß er damit auf Dauer durchkommen wird. Das hat wohl mit seiner offensichtlich narzißtischen Charakterdisposition zu tun, die in seiner Berufssparte weit verbreitet ist.
Ich selbst habe ihm das theatralische Geheule keine Sekunde abgekauft. Es war mir von Anfang an klar, daß wir es hier mit einem “Fall” von Opferrollenspiel zu tun haben, das ich Ende Oktober 2021 in einem Artikel analysiert habe. Ofarims Eintrag auf Instagram vom 5. Oktober (inzwischen gelöscht) war großes Melodrama:
… ANTISEMITISMUS in Deutschland 2021 !..
… gestern in Leipzig…
… warum?.. haben wir denn nichts nichts aus der vergangenheit gelernt?..bin sprachlos!.. es ist nicht das erste mal, aber irgendwann reicht es …
Nicht nur das Hotelpersonal saß auf der Anklagebank, sondern GANZ DEUTSCHLAND, die “Mitte der Gesellschaft”!
Man darf diesen Vorfall nicht isoliert betrachten. Ofarim hat die Trumpfkarte der herrschenden Opferhierarchien ausgespielt, den “Antisemitismus”. Dieser ist so etwas wie die Ur-Blaupause aller anderen gängigen ‑phobien und ‑ismen, insofern er auf einem angenommenen absoluten Opferstatus per Zugehörigkeit zu einem Kollektiv beruht, der Unantastbarkeit garantieren und Privilegien ermöglichen soll.
Mit dem “Antisemitismus”-Vorwurf kann man auch noch semi-gerotpillte “Konservative” täuschen, die zwar durchschaut haben, was für einen politischen Zweck Schlagworte wie “Rassismus, Homophobie, Sexismus” haben, sich jedoch ängstlich vor der Erkenntnis verschließen, daß “Antisemitismus” in ein- und dasselbe Genre gehört. Diese Furcht ist vor allem bei der “Boomer”-Generation eingefleischt und hat wohl vorrangig mit gewissen historisch bedingten Konditionierungen zu tun.
Einer, der damals auf Ofarim reingefallen ist, war Alexander Wallasch in einem Gastbeitrag für Boris Reitschuster. Er schrieb damals:
Der Musiker Gil Ofarim sagt, er sei in einem Hotel in Leipzig verbal antisemitisch angegriffen worden. Und er sagt es offen und geht damit an die Medien – gut so! Wer Ofarim hier reflexartig Werbung in eigener Sache unterstellt, dessen Geschichtsbewusstsein ist ebenso nur rudimentär, wie hier jedwede Empathie beerdigt wurde: Ja, Jude sein in Deutschland ist für Nichtjuden schwer vorstellbar, aber es gibt genug Berichte, die sehr anschaulich machen, was das noch heute bedeuten kann.
Ich kommentierte dies so:
Na ja: Vor allem bedeutet es, daß man als eine Art höheres Lebewesen wahrgenommen wird, dessen Klagen, Meinungen und Wünsche ganz besondere Aufmerksamkeit und Hochachtung verdient haben. Da ist es dann auch schon völlig wurscht, ob Ofarim gelogen, Einzelpersonen und ein ganzes Land verleumdet oder ein Theater in eigener Sache inszeniert hat – von wegen “Geschichtsbewußtsein”, “Empathie” usw. muß er mit anderen Maßstäben gemessen werden als normalsterbliche Menschen.
Ofarims Passionsgeschichte machte aus dem einzigen Grund Schlagzeilen, weil er in Deutschland als Angehöriger der Alpha-Opfergruppe sicher sein kann, maximale Aufmerksamkeitsreflexe zu triggern. Da er kein Polit-Aktivist ist und berufsmäßig im Rampenlicht steht, kann man hier getrost von eher banalen Motiven ausgehen.
Ofarim muß nun 10,000 Euro Bußgeld zahlen – nicht an die Nichtjuden, die er vorsätzlich verleumdet hat, sondern an die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig und den Trägerverein des Hauses der Wannseekonferenz. Damit wurde das Signal gesetzt, daß er mit seinen Lügen vor allem der Sache der Juden geschadet hat und dafür bestraft werden muß.
In diesem Sinne äußerte sich auch der Zentralrat der Juden:
Zwei Jahre lang hat #GilOfarim Mitarbeiter eines Leipziger Hotels des Antisemitismus beschuldigt. Nun hat er gestanden, dass er gelogen hat. Damit hat Gil Ofarim all denen, die tatsächlich von Antisemitismus betroffen sind, großen Schaden zugefügt. Neben der Öffentlichkeit hat er auch die jüdische Gemeinschaft belogen. Wir haben in unserer Gesellschaft ein Antisemitismus-Problem, viele sind gerade in der jetzigen aufgeheizten gesellschaftlichen Situation verunsichert und erleben Judenhass und Ablehnung.
Auch hier: Kein Wort des Bedauerns über den Schaden, der den Nichtjuden, den Mitarbeitern des Hotels zugefügt wurde. Auch dies eine Opferhierarchie, auch dies eine Art von narzißtischer Selbstbezogenheit.
Ich bestreite natürlich auch das Märchen, “wir” hätten “in unserer Gesellschaft ein Antisemitismus-Problem”. Wenn überhaupt, dann hat “unsere Gesellschaft” ein Problem mit dem “importierten” Antisemitismus nahöstlicher Einwanderer, der primär von der Gewaltpolitik Israels und der USA im Nahen Osten verursacht wird (und nicht von Koran-Lektüre, wie manche “Islamkritiker” behaupten). Diesen Import zu fördern und seine Folgen (auch und vor allem für Nichtjuden) zu beschwichtigen, hat der ZdJ kräftig beigetragen. Er beschwert sich hier also über Probleme, die er selber mitverantwortet hat.
Nicht unpassend zu den Nachrichten über Ofarim hat mich Frau Ronai Chaker-Sichert, ihrerseits eine recht ungenierte Spielerin intersektionaler Opferkarten, (mal wieder) auf Twitter verleumdet:
Lichtmesz ist für mich im übrigen ein lupenreiner Antisemit, denn er hat sich in einer Diskussion mit mir, vor Jahren schon hinter die Hamas gestellt und deren Vorgehen befürwortet.
Das ist natürlich eine lupenreine Lüge ohne jeglichen Beweis (Ofarim läßt grüßen). Vielleicht auch eine, die sie selber glaubt, denn in früheren Twitter-Interaktionen mit ihr habe ich die Erfahrung gemacht, daß sie äußerst talentiert ist, ein Argument böswillig mißzuverstehen oder zu verdrehen. Außerhalb von Schwarz-Weiß-Kategorien zu denken, scheint ihr nicht möglich zu sein.
Über “Schnellroda” (oder besser gesagt: was sie dafür hält und ausgibt bzw. in eigener Sache ausgeben muß), schrieb sie, ebenfalls verleumderisch und kraß verzerrend:
Der Konflikt zwischen Schnellroda herrscht schon lange. Ihnen geht es um Biologie, Hautfarben, ethnische Reinheit, Kollektivismus, Ausgrenzung und Entrechtung von nicht Autochthonen. Was für mich zählt, ist: Die Freiheit vor totalitären Ideologien!
Hierzu verlinkte sie einen Beitrag, den sie im Juni 2019 auf fischundfleisch.com veröffentlicht hat, zum Thema “Lichtmesz wie auch Kubitschek”. Darin hat sie einen Text von mir aus dem Jahr 2010 (!) sinnentstellend zitiert, worauf ich sie in den Kommentarspalten aufmerksam gemacht habe, natürlich ohne irgendeine Wirkung zu erzielen.
Dieses “Sample” sollte ausreichen, um zu demonstrieren, mit welchen Mittel Chaker vorzugehen pflegt. Es ist charakteristisch, daß sie auf meinen letzten Tagebucheintrag, in dem ich die Chose Utlu besprochen und ihr Verhalten innerhalb der AfD kritisiert habe, erneut nur mit Lügen, Denunziationen und maximalen Anschwärzungen reagieren kann. Und dies, obwohl ich und andere versucht haben, ihr gegenüber gerecht zu bleiben, dies, obwohl es von “Schnellroda” aus Angebote zu klärenden Gesprächen gab.
Es gibt Menschen, denen Wahrheit, Redlichkeit und Fair Play völlig egal sind. Leider kommen sie häufig damit durch, während Bauchlandungen à la Gil Ofarim eher die Ausnahme sind.
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Montag, 27. November 2023
Nun habe ich also auch eine Tagebuch-Kolumne. Der Titel ist einem Vers aus der Apostelgeschichte entnommen, der mir viel bedeutet. Ich habe ihn meinem Buch Kann nur ein Gott uns retten? vorangestellt.
Ursprünglich auf ihn gestoßen bin ich nicht im Zuge einer Bibellektüre, sondern in einer Episode des achtteiligen Video-Essays Histoire(s) du cinéma von Jean-Luc Godard: “Ne te fais pas de mal, car nous sommes tous encore ici.”
Die Tonspur verbindet den Vers mit der berühmten Passage von Martin Heidegger über den “Fehl Gottes” aus den Holzwegen, gelesen in französischer Übersetzung von der Schauspielerin Maria Casarès.
Godard hat ihn freilich, ebenso wie ich, ein wenig aus dem Kontext gerissen.
In der Apostelgeschichte werden Paulus und sein Begleiter Silas in Philippi gefangengenommen, nachdem beinahe ein wütender Mob über sie hergefallen wäre. Dann ereignet sich folgende merkwürdige Geschichte:
Gegen Mitternacht beteten Paulus und Silas; sie priesen Gott mit Lobliedern, und die Mitgefangenen hörten ihnen zu. Plötzlich bebte die Erde so heftig, daß das Gebäude bis in seine Grundmauern erschüttert wurde. Im selben Augenblick sprangen sämtliche Türen auf, und die Ketten aller Gefangenen fielen zu Boden. Der Aufseher fuhr aus dem Schlaf hoch, und als er die Türen des Gefängnisses offen stehen sah, zog er sein Schwert und wollte sich töten, denn er dachte, die Gefangenen seien geflohen. Doch Paulus rief, so laut er konnte: »Tu dir nichts an! Wir sind alle noch hier!«
Die meisten älteren Übersetzungen lassen das “noch” aus; ich denke, es drängt sich unweigerlich auf und zwischen die Worte hinein.
Paulus verhindert hier einen Selbstmord. Zwei Selbstmörder aus “spirituellen Gründen” spielen in meinem Buch eine große Rolle: Dominique Venner und ein fiktiver junger Mann aus dem Film Le diable probablement von Robert Bresson. Ein dritter Protagonist meines Buches, Leo Tolstoi, war nahe daran, sich den Kopf mit einer Jagdflinte wegzuschießen, ehe er seine Rettung im Glauben fand.
Dieses Zitat hat für mich also ein “mystisches” Echo. Es legt eine Spur zum Rettenden, oder wenigstens zum bloß Tröstlichen, den Daseinsschmerz Mildernden, erträglich Machenden. Es kann auf jedes Ding und jedes Lebewesen (ich denke auch an Tiere, Pflanzen, Bäume) auf der Welt verweisen, das “noch hier” ist und eine Bedeutung für uns hat, auch wenn wir wissen, daß es eines Tages nicht mehr “hier” sein wird (wie wir selbst auch).
Das gilt ebenso für Menschen wie auch für Schöpfungen, die die kurz bemessene menschliche Lebenszeit überdauern und ihren Schöpfern eine Art der Unsterblichkeit verleihen sollen: Auch die Pyramiden von Gizeh, die Kathedrale von Chartres, die Dichtungen von Dante und Shakespeare, die Kompositionen von Bach und Mozart werden eines Tages verschwunden sein. Die Kunst ist sterblich und die Künste sind sterblich, befand Oswald Spengler.
Irgendetwas, irgendjemand verschwindet immer, aber es ist auch immer irgendetwas, irgendjemand “noch” hier. Ich bin noch hier, du bist noch hier, und solange wir hier sind, ist es gut.
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Jubel und Schadenfreude herrscht in der AfD-feindlichen Presse. Hier ein paar aus dem Netz gefischte Schlagzeilen:
Ein Ali will in AfD eintreten – Rechte ticken prompt aus: „Gehört abgeschoben“ (Der Westen)… Ein Mann namens Ali tritt der AfD bei – Partei zerfällt in zwei Lager (Focus)… Queerer Deutsch-Türke will in die AfD (Stuttgarter Nachrichten)…
Ein Autor der Welt zeigt sich ein bißchen schlauer und spricht gar von einer “allmählichen Islamisierung der AfD”:
Teile der AfD haben Muslime und Erdoganisten als Wähler entdeckt. Nun mutieren sie zu deutschnationalen „Islamkuschlern“, wie kritische Parteifreunde klagen – und haben Skrupel, den Islamkritiker Ali Utlu aufzunehmen.
Mehr als diesen “Teaser” habe ich nicht gelesen, da ich keine Lust habe, die Bezahlschranke zu überqueren. Eine aufrichtige oder gar “konstruktive” Auseinandersetzung ist ohnehin in Poschardts Torwächter-Blatt nicht zu erwarten.
Die Frage, ob “Erdogan nicht unser Feind” ist (Maximillian Krah) oder ob das “Feindbild Islam” eine “Sackgasse” ist (Frederic Höfer) lasse ich an dieser Stelle außen vor. Ich werde dieses Faß demnächst aufmachen, und einen kritischen Rückblick auf die sogenannte “Islamkritik” schreiben, der schon lange in mir gärt.
Unsinn ist natürlich, daß Rechte jetzt “ausflippen”, nur weil einer “Ali” heißt. Utlu ist beileibe nicht der erste Mensch mit “Mihigru” und vergleichsweise “exotischem” Namen, der in der AfD mitmischt, und ganz gewiß nicht der erste Schwule. Es wird hier einfach versucht, das Klischeebild vom Rechten als xenophoben Hysteriker im Umlauf zu bringen.
Die Probleme mit Utlu sind viel grundsätzlicherer Natur. Ich habe sein Treiben auf Twitter (den bescheuerten Namenswechsel “X” ignoriere ich) früher verfolgt, besonders in der Zeit von 2017–18, in der er mir insofern interessant erschien, als er eine von vielen “Kippfiguren” war, die Indikatoren für einen Wandel des Zeitgeistes zu sein schienen.
Alle Welt ist in diesen Jahren “nach rechts gerückt”, sogar etliche “Queere” und “Transsexuelle”, die die Nase voll hatten von “Sprechverboten” und woker Inquisition. Das war natürlich auch für unsere Sache hilfreich: Probleme, die lagerübergreifend konstatiert werden, bekommen größeres objektives Gewicht.
Utlu hat jedoch niemals irgendetwas produziert, was einen analytischen Wert hat oder in irgend einer Weise dazu beitragen könnte, positive Veränderungen anzustossen. Stattdessen hat er sich ständig von der AfD “distanziert”, das Stück vom “Mann in der liberalen Mitte”, den “Rechte und Linke gleichermaßen hassen” gespielt und dabei halb Twitter geblockt.
Man begreift rasch, daß man es mit einer egozentrischen Person zu tun hat, die süchtig nach Aufmerksamkeit, Profilierung und Provokation ist, und irgendwann gemerkt hat, daß es viel mehr Spaß macht, die (eigene) linke als die rechte Klientel zu ärgern. Sein Thema war immer nur er selbst, als “Schwuler”, “Türke”, “Ex-Muslim” und “Ich als schwuler Ex-Muslim”. Seine Selbstgefälligkeit zeigt sich deutlich in einem angehefteten Tweet aus seiner Seite:
Wer hätte jemals gedacht, dass ausgerechnet ein schwuler Türke der größte Alptraum und das Hassobjekt von antirassistischen und queerfreundlichen Linken sein würde.
Hier bin ich.
Seine Ankündigung, der AfD beizutreten (das wäre nun sein fünfter oder sechster Parteiwechsel, wenn ich das recht verstanden habe) ist nur ein weiterer Stunt in der endlosen Ali-Utli-Persönlichkeits-Show. Bezeichnend ist auch diese Reaktion auf eine negative Rückmeldung:
Und genau deswegen bin ich richtig in dieser Partei. Um diejenigen zu triggern, die mit dieser Einstellung dafür sorgen, dass weite Teile der Bevölkerung die Partei für unwählbar halten. Gewöhne dich daran, das A in AfD steht auch für Ali.
Was Besseres als Gegenwind von rechts konnte ihm kaum passieren, um sich nun wieder selbst in den Mittelpunkt zu stellen und zum Thema zu machen. Als “Top 5 Gründe, warum man mich nicht der AfD haben will”, nannte er:
1. Islamkritik 2. Homosexuell 3. Türkisches und nicht deutsches Blut 4. Nicht rechts(extrem) genug 5. Ich existiere
Quo vadis AfD?
Momentan sieht es danach aus, als ob er gleich die Phase der Parteimitgliedschaft überspringen und direkt zur Rolle als “Aussteiger” und Feindzeuge übergehen will:
Ja, ihr könnt nun wochenlang über mich lachen, das interessiert mich nicht, aber ihr solltet anerkennen, dass ich mit meiner Aktion große Teile demaskiert habe. Das Mantra, die AfD sei im großen & ganzen freundlich zu Migranten, ist nicht haltbar. Das Gleiche gilt für meine Homosexualität, die immer wieder Thema ist. (…) Ich werde hunderte Screenshots sammeln und diese auf einer Website veröffentlichen, damit sich keiner mehr herausreden kann. Was in 2 Wochen zusammenkam, glaubt sonst keiner, vor allem die von großen Accounts, bevor wieder behauptet wird, es wären nur Trolle, die der AfD schaden wollen. Ich weiß, dass es viele Mitglieder gibt, die weder homophob noch rassistisch sind. Werdet laut, auf Parteitagen und Parteitreffen, schreibt unter solche Kommentare eure Meinung dazu. Überlasst diesen Menschen nicht eure Partei. Und nein, ich spiele hier keine Opferrolle, ich zeige nur den Hass auf. Es ist nichts, was ich nicht schon durch andere Gruppen seit Jahren abbekomme.
Sekundiert wurde Utlu von der “Deutsch-Jesidin” (oder nun “Ezidin”) Ronai Chaker, die charakterlich ähnlich gelagert ist. Auch ihr Programm für die Öffentlichkeit ist in erster Linie sie selbst und ihre ethnische Identität. Ihre Lieblingsrolle ist die der von gerechtem Zorn erfüllten, unerschrockenen Kämpferin mit dem heißen Herzen, die von Islamisten und “Extremisten” gehaßt wird und sich niemals unterkriegen läßt.
Trotz ihrer häufigen, eher taktisch anmutenden Beteuerungen, daß sie ebenso “deutsch” sei wie alle anderen Hänse und Gretels, schlägt ihr Herz offensichtlich vorrangig für ihren eigenen Stamm, für den sie als eine Art Lobbyistin tätig ist. Auch ihren Ehemann Martin Sichert hat sie für diese primäre Aufgabe mobilisiert, die er ebenso artig wie emsig erfüllt, wofür er dann auch von seiner Frau öffentlich mit Herzchen-Postings belohnt wird (immerhin hat sie mit einer wichtigen Tradition ihres Volkes gebrochen, dem Gebot der Endogamie).
Sie behauptet, ihr Engagement für Eziden diene auch “deutschen Interessen”, weil:
1. Sie sind wirklich verfolgt! 2. Sie arbeiten mehrheitlich und zahlen ihre Steuern. Selbst ihre Arbeitgeber setzen sich ein.
Das ist ziemlich mager. Grund eins hat nichts mit “deutschen Interessen” zu tun, und bei Grund zwei müßte man bissl tiefer bohren, ob migrantische Steuerzahler an und für sich schon “deutschen Interessen” dienen.
Man kann ihr aus rechter Sicht schlecht vorwerfen, sich für die Interessen ihrer eigenen Volksgruppe einzusetzen. Ich denke, daß dies auch im Rahmen der AfD prinzipiell möglich und legitim wäre. Es wird kontraproduktiv, wenn darüber die Prioritäten dieser Partei vergessen werden.
Und es wird destruktiv, wenn man wie Chaker ununterbrochen Leute im eigenen Spektrum als “völkische Rassisten” beschimpft, wenn diese sie daran erinnern, daß die AfD vorrangig dem deutschen Volk dienen sollen (aufgefaßt als ethnokulturelle Abstammungsgemeinschaft, und kein Sammelsurium von Paßinhabern.)
Ich pflichte Marvin Neumann bei:
Man kann und muss als deutsche Rechtspartei in der Gegenwart freilich die ethnopartikularen Interessen verschiedener Völker berücksichtigen und kann sich (strategisch) auch in einem bestimmten Rahmen für diese einsetzen. Nicht aber, wenn dies mit antideutschen Narrativen gerahmt wird, die eine gleichwertige Politik im (ethnokulturellen) Interesse der Deutschen delegitimiert.
Frau Chakers Einsatz für ihr Volk ist ehrwürdig. Dass sie dies aber ausgerechnet in der letzten deutschen Rechtspartei von Hoffnung betreiben und den Deutschen dabei mit den typischen Angriffen (Rassismuskeule, ethnisch-deutsche Interessen seien unmoralisch und ausgrenzend etc.) dasselbe verwehren möchte, ist nicht akzeptabel. Daher der Gegenwind.
Das ist eine faire Haltung, die die Bereitschaft zeigt, auch den Interessen von Menschen wie Chaker entgegenzukommen.
Chakers Problem ist wie bei Utlu vor allem charakterlicher Natur: Sie wirft ständig mit blindwütigen Anfeindungen um sich, ist nicht imstande, auch konstruktive Gesprächsangebote anzunehmen, und “fischt” aktiv nach Wutpostings, um sich anschließend als unschuldiges Opfer von Anfeindungen zu präsentieren, denen sie dann “mutig” trotzt wie eine orientalische Jeanne d’Arc. Sie kommt dabei nie aus dem polemischen Modus heraus, der alle Dinge schwarz-weiß malt (weiß sich selbst, schwarz die anderen), und entsprechenden Zorn zieht sie auch auf sich (was wiederum ihre Mühlen wässert).
Gewiß ist hier auch eine tiefere Problematik im Spiel, die über persönliche Charakterschwächen hinausgeht.
Chakers Ideal ist ein Politiker wie Geert Wilders:
Jüdische Frau, Mutter aus Indonesien, beste Freundin Ex Muslima Ayan Hirsi, die Opfer von Zwangsbeschneidung wurde. Ein Mann der für Freiheit, Werte, Kultur und gegen Faschismus steht. Davon können sich viele angeblichen “Patrioten” in Deutschland eine Scheibe abschneiden.
Es ist eben so: Menschen, die selbst eine hybride ethnokulturelle Identität haben, fühlen sich in der Regel wohler in einer Gesellschaft, die ebenfalls ethnokulturell möglichst hybride ist. Das ist psychologisch und menschlich nachvollziehbar, ebenso, daß sie sich auch Politiker wünschen, die dieses Hybride (also sie selbst) repräsentieren. Aber was ist mit den Interessen jener, deren Identität weniger “divers” zusammengesetzt ist?
Ende 2020 habe ich mich mit dieser Frage in einem zweiteiligen Beitrag auseinandergesetzt: “Soll die AfD eine multiethnische Partei werden?” (eins, zwei). Ich habe leider auch keine einfache Antwort drauf.
Aber ich denke nicht, daß man sich an diesen Punkten vorbeischummeln kann, ohne Wesentliches preiszugeben:
Es spricht nichts dagegen, wenn die AfD unter bestimmten Migrantengruppen Verbündete und Sympathisanten sucht. Dabei sollte es aber weder um die bloße “Optik” gehen, um Rassismusvorwürfe abzuschmettern, was erfahrungsgemäß ein aussichtsloses Unterfangen ist, noch sollte versucht werden, aus der AfD eine weitere Multikulti- oder Vielvölkerpartei zu machen, die den Bevölkerungsaustausch als unvermeidlich hinnimmt und ihn lediglich verlangsamen und ein wenig erträglicher regulieren will. Das liefe auf nichts anderes hinaus, als Yascha Mounk aktiv dabei zu unterstützen, daß sein berüchtigtes “Experiment” doch noch funktionieren kann. (…)
… es sollte klar bleiben, daß die AfD vorrangig dazu da ist, den Interessen einer bestimmten ethnischen Gruppe, nämlich den Deutschen eine Stimme zu geben. (…) Und ich meine hier natürlich jene Deutsche, die Deutsche sein und bleiben wollen. Also jene, die sich nicht nationalmasochistisch-pseudoweltbürgerlich auflösen, die noch Volk statt Bevölkerung sein wollen, und die mutig genug sind, persönlich dafür einzustehen oder diese Haltung zumindest durch AfD-Wahl zu bekräftigen.
Wenn die AfD eine wirkliche Alternative sein und ernsthaft das Nationalstaatsmodell verteidigen will, dann muß sie hier einhaken und die Frage nach dem Volk stellen und den ethnischen Volksbegriff verteidigen, der von der herrschenden politischen Klasse verfemt wird, um das ethnisch deutsche Volk selbst abzuschaffen.
brueckenbauer
Was die Juden betrifft, so haben Marine Le Pen und Donald Trump die jüdische Community in ihren Ländern wirkungsvoll gespalten. Es ist also nicht auszuschließen, dass das auch der AfD gelingt.