Wir sind alle noch hier – Donnerstag, 18. Dezember

Monatelang war ich auf diesem Blog nur sehr sporadisch vertreten, da ich mich in dieser Zeit endlich der Verwirklichung eines seit Jahren gehegten Projektes gewidmet habe, das nun endlich in Druck ist und im Januar ausgeliefert werden wird. Die Rede ist vom Lichtspielführer Lichtmesz, einem 420 Seiten starken, reichlich illustrierten Werk, in dem ich rund 100 Filme “von rechts gesehen” vorstelle, oder vielleicht besser gesagt mit den Augen eines Cinephilen, der das Etikett “rechts” nicht scheut.

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Unter­teilt ist das Buch in The­men­be­rei­che: Etwa “Reak­tio­nä­re Hel­den”, “Nati­on und Natio­na­lis­mus”, “Mythen und Legen­den”, “Kul­tur­pes­si­mis­mus und Sit­ten­ge­mäl­de” oder “Reli­gi­on und Glau­be”. Es sind nicht die “rech­tes­ten” und auch nicht immer (aber meis­tens schon) die “bes­ten” Fil­me, die ich hier bespre­chen, son­dern jene, die mir geeig­net schei­nen, einen guten Über­blick über die fil­mi­schen Dar­stel­lun­gen des jewei­li­gen The­mas zu ver­schaf­fen – mit Beto­nung auf das, was ich aus rech­ter Sicht für rele­vant halte.

Wäh­rend ich mich dabei auf die Fil­me der “wei­ßen” Welt (Euro­pa, USA, Ruß­land) beschränkt habe, ist eine Viel­zahl von Natio­nen und Epo­chen ver­tre­ten: Der ältes­te Film (The Birth of a Nati­on) stammt aus dem Jahr 1915, der jüngs­te (The North­man) aus dem Jahr 2023. Es ist mir bei der Zusam­men­stel­lung der Fil­me wich­tig gewe­sen, eine Viel­falt aus ästhe­ti­schen, poli­ti­schen und his­to­ri­schen Per­spek­ti­ven auf­zu­zei­gen, und so habe auch zwei (Propaganda-)Filme aus dem 3. Reich auf­ge­nom­men: Hit­ler­jun­ge Quex (1933) und Kol­berg (1943–45) – zwei wei­te­re, Frie­sen­not und Ohm Krü­ger, sind im Schnei­de­raum der Sche­re zum Opfer gefal­len. Ent­hal­ten ist außer­dem ein Film von Leni Rie­fen­stahl aus der Wei­ma­rer Zeit, Das blaue Licht (1932).

Die spä­te­re Meis­ter­pro­pa­gan­dis­tin des Regimes ist unlängst wie­der in die Schlag­zei­len gera­ten, als ver­kün­det wur­de, ihr sei pos­tum die “Ehren­me­dail­le” der SPIO, der Spit­zen­or­ga­ni­sa­ti­on der Film­wirt­schaft e. V., die seit 1961 ver­lie­hen wird, ent­zo­gen wor­den. Ihr und drei­zehn wei­te­ren Film­schaf­fen­den, die heu­te alle­samt bis auf Heinz Rüh­mann und viel­leicht noch Olga Tschecho­wa ver­ges­sen sind. Ihre Namen sind neben den Genann­ten: August Arnold, Alfred Bau­er, Aurel G. Bisch­off, Wil­li Burth, Karl Fritz, Joa­chim Graß­mann, Alex­an­der Grü­ter, Joa­chim Hen­kel, Joa­chim Raf­fert, Erich Stoll und Lud­wig Waldleitner.

Die Men­schen sind alle­samt seit Jahr­zehn­ten tot, eini­ge von ihnen haben nicht ein­mal Wiki­pe­dia-Arti­kel. Sie wur­den, wie 75 wei­te­re unter­such­te Per­so­nen, allein dar­an gemes­sen, wie ihre “Posi­ti­on zum NS-Regime” ein­zu­stu­fen ist.

Grund­la­ge dafür war eine von der SPIO selbst in Auf­trag gege­be­nen “Stu­die”, die die Bio­gra­phien die­ser Preis­trä­ger nach “Nazi-Ver­stri­ckun­gen” durch­käm­men soll­te (Ver­fas­ser ist ein Dr. Bern­hard Got­to). Schon 2023 erschien in der ZEIT ein Arti­kel, der beklag­te, daß die­sel­bi­gen inner­halb der SPIO immer noch nicht “auf­ge­ar­bei­tet” sei­en. Die Stu­die dien­te soll­te offen­bar genau dem Zweck die­nen, das Gesuch­te zu fin­den oder her­aus­zu­schin­den, um anschlie­ßend “ein kla­res Zei­chen gegen den wie­der erstar­ken­den Rechts­extre­mis­mus, aber auch gegen jede ande­re Form von Extre­mis­mus, Ras­sis­mus, Dis­kri­mi­nie­rung und Het­ze” zu set­zen wie SPIO-Prä­si­dent Peter Schau­er­te phra­sen­schwei­nig verkündete.

Eine Aus­nah­me wur­de gemacht bei dem Preis­trä­ger Hil­mar Hoff­mann, weil er sich zeit­le­bens “wirk­sam für eine kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit der NS-Ver­gan­gen­heit ein­ge­setzt und Akzen­te für eine künst­le­ri­sche Gegen­po­si­ti­on zum natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Film­erbe gesetzt” habe. Mir war er bis dato unbe­kannt. Er war unter ande­rem Begrün­der der Ober­hau­se­ner Kurz­film­ta­ge, denen der “Jun­ge deut­sche Film” ent­spros­sen ist, der wie­der­um den “Neu­en deut­schen Film” der Fass­bin­der, Wen­ders, Schlön­dorff usw. vorbereitete.

Sieht man sich die Wiki­pip­pi-Bio­gra­phie von Hoff­mann an, so ahnt man, wie eng die Kri­te­ri­en gezo­gen wur­den, um eine Aberken­nung der Medail­le zu recht­fer­ti­gen. Hoff­mann wur­de 1943, als 18jähriger, NSDAP-Mit­glied und kämpf­te ab 1944 als Fall­schirm­jä­ger. Das ist alles. Ansons­ten war Hoff­mann eine aus­ge­spro­chen geschäf­ti­ge Figur im BRD-Kunst­be­trieb, und wur­de sogar von Ger­hard Rich­ter por­trä­tiert. Daß er in die­ser Posi­ti­on äußerst kon­form war, was die “Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung” anging, ist anzu­neh­men. Das SPIO-Prä­si­di­um jeden­falls sieht in ihm ein Bei­spiel, daß sich Men­schen “ändern und kri­tisch-selbst­re­flek­tiert aus Ver­feh­lun­gen ler­nen” kön­nen, was man den ande­ren Herr­schaf­ten offen­bar nicht aus­rei­chend nach­wei­sen kann.

Wie sieht es mit ande­ren, ver­ges­se­nen Namen der Lis­te aus? Ich grei­fe zufäl­lig ein paar davon her­aus: Auf­re­gen­der wird es nicht. Es ist gera­de­zu läp­pisch. August Arnold bei­spiels­wei­se war vor allem ein tech­ni­scher Pio­nier, einer der bei­den Erfin­der der Arriflex-Kame­ra und “Spiel­lei­ter” von etli­chen Karl-Valen­tin-Fil­men. Sein Ver­ge­hen ist auch hier, daß er (1933) NSDAP-Mit­glied wur­de. Par­tei­mit­glied­schaf­ten fin­den sich auch bei dem Heimatfilm‑, Sim­mel und (ein­ma­li­gen) Fass­bin­der-Pro­du­zen­ten Lud­wig Wald­leit­ner oder bei Alex­an­der Grü­ter, der ab 1966 dem drei­köp­fi­gen Prä­si­di­um der SPIO ange­hör­te und 1985 mit der nun ent­zo­ge­nen Medail­le aus­ge­zeich­net wurde.

Am meis­ten am Kerb­holz hat die berühm­tes­te der Preis­trä­ger, Leni Rie­fen­stahl, die ihre SPIO-Medail­le erst 2002 anläß­lich ihres 100. Geburts­ta­ges erhielt. Hier ist die dama­li­ge Pres­se­mit­tei­lung, in der es heißt:

Aus­ge­zeich­net wird die viel­sei­ti­ge Künst­le­rin für ihre außer­or­dent­li­chen Ver­diens­te um den deut­schen Film. „Jen­seits aller poli­ti­schen Pro­ble­ma­tik hat die Regis­seu­rin Leni Rie­fen­stahl vor allem mit ihren Doku­men­tar­fil­men TRIUMPH DES WILLENS und OLYMPIA Film­ge­schich­te geschrie­ben“ so Stef­fen Kuchen­reu­ther, Prä­si­dent der Spit­zen­or­ga­ni­sa­ti­on der Filmwirtschaft.

Gene­rell wur­de mit Rie­fen­stahl, die damals noch am Leben war, im All­ge­mei­nen wesent­lich freund­li­cher und dif­fe­ren­zier­ter umge­gan­gen, als dies heu­te der Fall der ist. 1998/99 gab es eine gro­ße Werk­schau im Film­mu­se­um Pots­dam, in der reich­lich Bücher, Post­kar­ten, Pos­ter und ande­res Mer­chan­di­sing ver­mark­tet wur­de. Anläß­lich die­ser Retro­spek­ti­ve schrieb Ali­ce Schwar­zer in der EMMA einen gera­de­zu hul­di­gen­den Arti­kel und inter­view­te die stein­al­te, aber reso­lu­te und hoch­agi­le Künst­le­rin. Ich habe das Ori­gi­nal­heft noch auf­ge­ho­ben, und lan­ge Jah­re zier­te ein Pos­ter der Pots­da­mer Aus­stel­lung eine Wand mei­ner Ber­li­ner Wohnung.

Ich muß den “Fall” Rie­fen­stahl hier wohl nicht wie­der­käu­en. Er allein zeigt, was für eine jam­mer­vol­le Far­ce und was für ein geis­ti­ger Rück­schritt die­ser Publi­ci­ty-Stunt der SPIO ist. Der Ein­fluß der Schau­spie­le­rin, Regis­seu­rin und Pho­to­gra­phin auf die Film­kunst, nicht nur die deut­sche, ist immens, unbe­streit­bar und nicht weg­zu­den­ken. Und dies gilt auch, obwohl man ihr mit Recht vor­wer­fen kann, daß sie zahl­rei­che ihrer Mit­ar­bei­ter (vor allem Kame­ra­män­ner) aus­ge­beu­tet hat und sich deren Ver­diens­te auf ihre Kap­pe geschrie­ben hat – am häß­lichs­ten und tra­gisch­ten ist der Fall des genia­len Wil­ly Ziel­ke.

Rie­fen­stahls “Ver­stri­ckun­gen” jeden­falls sind alles ande­re als unbe­kannt, son­dern wer­den seit Jahr­zehn­ten kon­tro­vers auf und ab dis­ku­tiert, zuletzt in einem Doku­men­tar­film von And­res Vei­el. Ähn­lich steht es um Heinz Rüh­mann bestellt, einem Lieb­lings­schau­spie­ler mei­ner Kind­heit. Er war vor, wäh­rend und nach der NS-Herr­schaft einer der popu­lärs­ten Schau­spie­ler Deutsch­lands über­haupt. Die Lis­te der Klas­si­ker, in denen er mit­ge­wirkt hat, ist lang: Die Drei von der Tank­stel­le (1930), Der Mann, der Sher­lock Hol­mes war (1937), Quax, der Bruch­pi­lot (1941), Die Feu­er­zan­gen­bow­le (1944). Der Haupt­mann von Köpe­nick (1956), Es geschah am hel­lich­ten Tag (1958), Pater Brown (1960). Zuletzt spiel­te er eine klei­ne Rol­le in Wim Wen­ders’ In wei­ter Fer­ne, so nah! (1993).

Es kann also nie­mand behaup­ten, Rie­fen­stahl und Rüh­mann hät­ten für den deut­schen Film kei­ner­lei Bedeu­tung gehabt. Die Ver­dam­mung und Her­ab­wer­tung der bei­den folgt expli­zit nicht aus künst­le­ri­schen, son­dern rein mora­li­schen Grün­den, die in einer manich­äi­schen, dämo­no­lo­gi­schen Sicht auf das Drit­te Reich fußen, die man ent­we­der als neu­ro­tisch oder als pseu­do­re­li­gi­ös oder bei­des betrach­ten kann.

Wozu nun also die­se ver­spä­te­te Ges­te? Die Jüdi­sche All­ge­mei­ne faßt zusammen:

Als Kon­se­quenz aus der Stu­die wer­de die Ehren­me­dail­le in ihrer bis­he­ri­gen Form nicht mehr ver­ge­ben, hieß es wei­ter. An ihre Stel­le rücke ein neu­er Preis, des­sen Kri­te­ri­en­ka­ta­log der­zeit erar­bei­tet wer­de. Der Preis wer­de nicht nur beson­de­re Leis­tun­gen und Ver­diens­te für die Film­wirt­schaft wür­di­gen, son­dern expli­zit auch das gesell­schaft­li­che Enga­ge­ment für Demo­kra­tie und Rechtsstaatlichkeit.

Es ist auch hier der Krebs des heu­ti­gen Kul­tur­be­triebs am Werk: Die Prio­ri­sie­rung ideo­lo­gi­scher Bestre­bun­gen, die über alles ande­re gestellt wer­den und von sehr eng­ma­schi­gen Kri­te­ri­en bestimmt wer­den, die zur Ver­fla­chung, Ver­dum­mung und Ver­häß­li­chung füh­ren (dazu zählt auch das Spi­cken von Muse­ums­ka­ta­lo­gen, Film­pro­gram­men usw. mit dem Sta­chel­draht der Gendersternchen).

Wem nützt das alles?  Pri­mär han­delt es sich hier um eine Ges­te, die Kon­for­mi­tät zur Staats­ideo­lo­gie oder viel­mehr Kryp­to-Theo­lo­gie signa­li­sie­ren soll. Gemäß die­ser stei­gert sich der Wert einer Insti­tu­ti­on oder Orga­ni­sa­ti­on, wenn sich “gegen Nazis” posi­tio­niert, und damit auch gegen “Rechts­extre­mis­mus”, “Ras­sis­mus” usw. Inso­fern hat die SPIO gezeigt, daß sie gesell­schaft­lich rele­vant ist und auf der rich­ti­gen Sei­te steht.

Objek­tiv betrach­tet, ist dies eine höchs­te kurio­se Akti­on, umso mehr, als mit Aus­nah­me von Rüh­mann und Rie­fen­stahl fast nie­mand mehr die Namen kennt, die hier öffent­lich her­ab­ge­wer­tet wur­den. Wie arm­se­lig ein Land, das sei­ne Sinn­stif­tung immer noch aus der ritu­el­len Ver­ur­tei­lung der Ver­gan­gen­heit und der Men­schen, die in ihr gelebt haben, schöpft! Nur aus die­sem Grund kann es eine Indus­trie von ansons­ten wohl beschäf­ti­gungs­lo­se Aka­de­mi­kern geben, die sich ihr Brot mit der trau­ri­gen Tätig­keit der Inkri­mi­nie­rung einer immer wei­ter in die Fer­ne rücken­den Epo­che fristen.

Was den Betrei­berm selbst als mora­li­sche Ver­gol­dung erschei­nen mag, ist für jene, denen die deut­sche Film­kunst als deut­sche Film­kunst wirk­lich am Her­zen liegt, ein über­aus schä­bi­ger, film­kunst­feind­li­cher Akt, der auch dem Geschichts­be­wußt­sein nicht dient, da er die Geschich­te reduk­tio­nis­tisch durch ein eng­ma­schi­ges, sche­ma­ti­sches Ras­ter preßt.

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Mon­tag, 31. März

Nach lan­ger Zeit habe ich wie­der einen Blick in die aktu­el­len Pro­gramm­hef­te zwei­er Wie­ner Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen gewor­fen, die für Cine­as­ten von gro­ßer Bedeu­tung sind.

Die eine ist das seit 1964 bestehen­de Film­mu­se­um in der Alber­ti­na, das hie­si­ge Pen­dant zur Ciné­ma­t­hè­que fran­çai­se in Paris oder zum Arse­nal-Kino in Ber­lin. Die ande­re ist das Film­ar­chiv Aus­tria, die “Natio­nal­bi­blio­thek des Films”, des­sen Vor­füh­run­gen haupt­säch­lich im Metro-Kino im 1. Bezirk stattfinden.

Das Film­mu­se­um hat einen stär­ker cine­phi­len Schwer­punkt, das Film­ar­chiv einen stär­ker film­his­to­ri­schen. Die Pro­gram­me und Retro­spek­ti­ven sind aller­dings recht ähn­lich kon­zi­piert und teil­wei­se austauschbar.

Das Beson­de­re an die­sen bei­den Insti­tu­tio­nen ist, daß sie es ermög­li­chen, regel­mä­ßig älte­re bis sehr alte Fil­me in ana­lo­gen Pro­jek­tio­nen zu sehen. In einer Zeit, in der die meis­ten Kinos auf digi­ta­le Pro­jek­ti­on umge­stellt haben und in der das Strea­ming via Inter­net auch den Film­kon­sum domi­niert, ist das ein beson­ders kost­bar gewor­de­nes ästhe­ti­sches Erlebnis.

Schon zu Zei­ten, als 35mm-Kopien der Stan­dard waren, war es oft schwie­rig, einen Film nach sei­ner regu­lä­ren Kino­aus­wer­tung noch ein­mal auf der Lein­wand so zu erle­ben, wie er ursprüng­lich gedacht und gedreht wurde.

Es macht trotz Blu­Rays und avan­cier­ter Digi­tal­tech­nik immer noch einen erheb­li­chen Unter­schied, ob man nun z.B. Blue Vel­vet von David Lynch (im März mehr­fach gezeigt im Film­ar­chiv Aus­tria) auf dem Bild­schirm oder im ori­gi­na­len Cine­ma­scope-For­mat im Kino sieht. Es ist nicht anders, als “Die Mal­kunst” von Ver­meer in einer Repro­duk­ti­on in einem Buch zu betrach­ten oder dem Gemäl­de im Kunst­his­to­ri­schen Muse­um gegen­über zu stehen.

Das Film­mu­se­um habe ich zum ers­ten Mal 1993 besucht, um dort Carl Drey­ers Stumm­film La Pas­si­on de Jean­ne d’Arc und sei­nen frü­hen Ton­film Vam­pyr zu sehen. Bei­de Fil­me, die man inzwi­schen auf You­tube fin­den kann, waren damals nicht so leicht greif­bar wie heute.

Von Vam­pyr gab es eine VHS-Kas­set­te des auf schau­ri­ge Obsku­ri­tä­ten spe­zia­li­sier­ten Labels “Redemp­ti­on”. Die dafür ver­wen­de­te Kopie war in einem schlech­ten Zustand, offen­bar zusam­men­ge­schnip­selt aus drei ver­schie­de­nen Sprach­ver­sio­nen (deutsch, eng­lisch, fran­zö­sisch), was aller­dings der gespens­tisch-über­ir­di­schen Atmospä­re des Films sogar zugu­te kam.

Unter der Lei­tung von Peter Kon­lech­ner und Peter Kubel­ka (1964–2001) ver­folg­te das Film­mu­se­um einen streng “puris­ti­schen” Auf­füh­rungs­an­satz. Man saß auf har­ten Holz­sit­zen und sah alle Fil­me in Ori­gi­nal­spra­che, mög­lichst ohne Unter­ti­tel (auch wenn es schwe­di­sche, rus­si­sche oder japa­ni­sche Fil­me waren).

Die Stumm­fil­me wur­den (ent­ge­gen der his­to­ri­schen Pra­xis) ohne Musik­be­glei­tung gezeigt, was die Wir­kung man­cher von ihnen, wie eben Drey­ers Jean­ne d’Arc, sogar noch ver­stärk­te. Die Vor­füh­rung der Fil­me in völ­li­ger Stil­le ent­fal­tet eine hyp­no­ti­sche Wir­kung, die aber recht rasch ins “Sopo­ri­sche” umschla­gen kann (ich erlau­be mir mal eben, die­ses Wort nach dem Vor­bild des eng­li­schen sopo­ri­fic zu erfinden.)

Ich erin­ne­re mich an eine Vor­le­sung von Kubel­ka zur Ein­füh­rung sei­ner damals neu­en Pro­gramm­leis­te “Was ist Film?”. Sie dau­er­te drei oder vier Stun­den. Er zeig­te nicht nur Aus­schnit­te aus aus­ge­wähl­ten Wer­ken auf einem extra auf­ge­stell­ten Steen­beck-Schnei­de­tisch, son­dern gan­ze Spiel­fil­me in vol­ler Länge.

Irgend­wann war Eisen­steins Pan­zer­kreu­zer Potem­kin an der Rei­he. Auch die­ser inzwi­schen ein Jahr­hun­dert alte Revo­lu­ti­ons­klas­si­ker von Vor­vor­ges­tern, der die Film­ge­schich­te so enorm beein­flußt hat, wur­de in erha­be­ner, düs­te­rer Stil­le gezeigt. Als der ers­te Zwi­schen­ti­tel auf Rus­sisch erschien, ertön­te eine hilf­los zit­tern­de männ­li­che Stim­me aus dem Dun­kel des Zuschau­er­raums: “Kaun des wer üba­setzn??” Kubel­ka, der eine Rei­he vor mir saß, in der reg­lo­sen, kon­zen­trier­ten Kör­per­hal­tung eines bud­dhis­ti­schen Mön­ches, schmet­ter­te auto­ri­tär zurück: “Nein!! Bit­te nicht!!”

Einen wei­te­ren Drey­er-Film, Das Wort (1955), sah ich eben­falls ohne Unter­ti­tel in der däni­schen Ori­gi­nal­fas­sung. Im Gegen­satz zu Vam­pyr ist die­ser Film, der auf einem Thea­ter­stück von Kaj Munk basiert, sehr dia­log­las­tig. Ich kann kein Dänisch, aber ich kann­te den Inhalt des Films aus einer Zusam­men­fas­sung. Was soll ich sagen? Die­se Vor­stel­lung war ein sub­li­mes Erleb­nis, auch wenn ich vie­les erst viel spä­ter ver­stan­den habe, als ich den Film auf VHS in einer eng­lisch unter­ti­tel­ten Ver­si­on sehen konnte.

Das zykli­sche Pro­gramm “Was ist Film?” läuft bis heu­te Woche für Woche im Film­mu­se­um. Es besteht über­wie­gend aus Avant­gar­de- und Expe­ri­men­tal­fil­men (um die­se etwas blö­de, aber lei­der eta­blier­te Bezeich­nung zu ver­wen­den). Die Wie­ner Samm­lung von Wer­ken aus die­ser Spar­te, beför­dert durch Kubel­kas Ver­net­zung mit der ein­schlä­gi­gen inter­na­tio­na­len Sze­ne, ist wohl welt­weit ein­zig­ar­tig. Man kann in Wien Fil­me sehen, die man prak­tisch nir­gend­wo sonst sehen kann, allen­falls (ver­mu­te ich mal) in Paris oder New York.

Ich habe etwa die Hälf­te der 63 abend­fül­len­den Pro­gram­me gese­hen. Man­che davon durch­zu­sit­zen, war eine fol­ter­ar­ti­ge Gedulds­pro­be, aber ich bin froh, die­se Erfa­hung gemacht zu haben. Es gab Aben­de, da waren außer mir nur noch zwei oder drei wei­te­re Zuschau­er im Saal. Die weni­gen, die kamen, flo­hen gele­gent­lich wie­der in Scha­ren, etwa bei Fran­jus Le sang des bêtes (einem fins­ter poe­ti­schen Doku­men­tar­film über einen Pari­ser Schlacht­hof) oder Stan Brak­ha­ges The Act of See­ing with One’s Own Eyes (ein stum­mer Film, der eine Aut­op­sie dokumentiert).

Manch­mal gab es selt­sa­me Kom­bi­na­tio­nen, die wohl den Zweck hat­ten, ein­ge­fah­re­ne Wahr­neh­mungs­ras­ter auf­zu­bre­chen. Pro­gramm 6 etwa kom­bi­niert Rie­fen­stahls Tri­umph des Wil­lens mit der berüch­tig­ten Under­ground-Tran­sen-Orgie Fla­ming Crea­tures von Jack Smith aus dem Jahr 1963. Wenn ich mich recht erin­ne­re, begrün­de­te Kubel­ka dies damit, daß bei­de eine her­me­tisch geschlos­se­ne, arti­fi­zi­el­le Welt dar­ge­stellt von deren “Insi­dern” zeigen.

Zwei­fel­los woll­te er damit auch etwa­ige auf­tau­chen­de “Nazis” abschre­cken – das Pro­gramm schreibt aus­drück­lich vor, daß nach Beginn der Vor­stel­lung kein Ein­laß mehr mög­lich ist. Wer also Bedarf ver­spürt, die Vor­stel­lung aus Grün­den der Hul­di­gung zu besu­chen, muß zur Stra­fe zuerst die­sen mit sat­ten 300$ bud­ge­tier­ten Camp-Exzeß mit grell geschmink­ten Gestal­ten aus der pan­se­xu­el­len Twi­light Zone durchsitzen.

(Hit­ler und LGBTQ+: Sind das nicht gera­de für die Lin­ken die wich­tigs­ten Din­ge, um die sich alles dre­hen soll? Haken­kreuz und Regen­bo­gen­fah­ne, der angeb­lich über­all lau­ern­de, ewig als Gefahr prä­sen­te Dämon der west­li­chen Welt und sein angeb­lich tota­ler Gegenentwurf?)

Ab 2002, mit der Über­nah­me der Lei­tung durch Alex­an­der Hor­wath, wur­de das Film­mu­se­um grund­le­gend refor­miert und publi­kums­freund­li­cher gestal­tet. Nun gab es beque­me­re Sit­ze, Musik­be­glei­tung zu den Stumm­fil­men, deut­sche oder eng­li­sche Unter­ti­tel, ein hand­li­ches Pro­gramm­heft­chen, das das legen­dä­re pla­kat­gro­ße Pro­gramm zum Auf­fal­ten auf brau­nem Pack­pa­pier ablös­te sowie eine klei­ne Bar mit Kaf­fee, Geträn­ken und Mannerschnitten.

Ich habe im Lau­fe von drei Jahr­zehn­ten unzäh­li­ge Aben­de dort ver­bracht, und ent­spre­chend vie­le Erin­ne­run­gen an Fil­me, Begeg­nun­gen, Vor­trä­ge und Freun­de und Weg­ge­fähr­ten, die mich dabei beglei­tet haben. Das Film­mu­se­um ist auch eine Sache, die gemäß dem Mot­to mei­nes “Tage­buchs” im Jah­re 2025 immer “noch hier” ist.

Auch das topo­gra­phi­sche Drum­her­um, mit der Oper, dem sei­ner­zeit umstrit­te­nen “Mahn­mal gegen Krieg und Faschis­mus”  des selbst­er­klär­ten “groß­deut­schen Uralt­sta­li­nis­ten” Alfred Hrdli­cka und dem Café Mozart vis-à-vis ist im Gro­ßen und Gan­zen gleich geblie­ben. Die ein­zi­gen grö­be­ren “Sün­den”, an die man sich heu­te schon wie­der per Abstump­fung gewöhnt hat, sind das bescheu­er­te, das Gebäu­de gräß­lich ver­un­stal­ten­de “Flug­dach” und der Shop­ping-Cen­ter-Ein­gang, die 2003  in die Alber­ti­na ein­ge­baut wurden.

Den­noch hat sich man­ches ver­än­dert, wäh­rend ande­re Din­ge wie fest­ge­fro­ren sind. Beim Durch­blät­tern des März-April-Pro­gramms sprang mir sofort eine Ideo­lo­gi­sie­rung ins Auge, die zu Zei­ten Hor­waths und Kubel­kas weni­ger deut­lich ent­wi­ckelt war (der Linksd­rall war natür­lich immer schon dabei).

Das Heft­chen ist nun durch Buch­sta­ben­sta­chel­draht wie “Filmemacher*innen”, “Künstler*innen” , “Freund*innen”, “Wegbleiter*innen”, “Darsteller*innen”, “Migrant*innen” usw. ent­stellt. In älte­ren Pro­gram­men habe ich auch Per­len wie “Held*innen”, “Verlierer*innen”, “Emigrant*innen” und “Vampir*innen”, “Schwar­ze Brit*innen” und “Frau­en*” ent­deckt (kein Feh­ler: Frauen*).

Zur Erin­ne­rung: Das “Stern­chen” bedeu­tet, daß auch “nicht­bi­nä­re”, “divers­ge­schlecht­li­che” Per­so­nen mit­ge­meint sind. Es ist also die Über­erfül­lung des Solls, die pro­gres­si­ve Extra-Sah­ne zu den inzwi­schen schon “kon­ser­va­ti­ven” Stan­dards “Filmemacher_innen”, “Filmemacher:innen” oder (ganz Old School) “Fil­me­ma­che­rInn­nen”, die sich als “neue Nor­ma­li­tät” bis in Ein­kom­men­steu­er­be­schei­de und katho­li­sche Pri­vat­schu­len hin­ein durch­ge­setzt haben.

Ob sich die Lei­tung des Film­mu­se­ums selbst für die­ses “ideo­lo­gy signal­ling” ent­schie­den hat, oder ob es sich um eine Auf­la­ge han­delt, die mit dem Fluß der För­der­gel­der der Stadt Wien und des Bun­des­mi­nis­te­ri­ums für Kunst und Kul­tur ein­her­geht, weiß ich nicht. Ich befürch­te ehr­lich gesagt ers­te­res, wobei der Kon­for­mi­täts­druck in der Kul­tur­sze­ne wohl ziem­lich hoch ist.

Im Edi­to­ri­al des aktu­el­len Pro­gramms preist Direk­tor Micha­el Loeben­stein (seit 2017) eini­ge Film­künst­ler aus Hong­kong mit den Wor­ten: “Stil, Bra­vour, der Wil­le zur Kunst ange­sichts der Bana­li­tät und Infa­mie der herr­schen­den Verhältnisse…”

Ich kann nicht nach­voll­zie­hen, wie der­glei­chen kogni­tiv zusam­men­geht mit die­sen fla­chen, kre­tin­ösen Sprach­ver­stüm­me­lun­gen, die nun auch eine Insti­tu­ti­on wie das Film­mu­se­um infi­ziert haben; und wie sich Men­schen, die eini­ger­ma­ßen Bil­dung und Intel­li­genz besit­zen, der­art ernied­ri­gen kön­nen, die­se Rege­lun­gen zu übernehmen.

Aber es ist nun ein­mal so gesche­hen. Die Nivel­lie­rung und die Geß­ler­hü­te haben sich durch­ge­setzt. Der ideo­lo­gi­sche Sta­chel­draht der Stern­chen­wör­ter ver­stärkt mei­ne ohne­hin schon recht stark aus­ge­präg­te Kul­tur­dys­pho­rie und dis­har­mo­nisch-dys­funk­tio­na­le Bezie­hung zum staats­of­fi­zi­el­len Kul­tur­be­trieb. Ein “Under­ground”, eine “Avant­gar­de”, eine “Sub­kul­tur”, in die man sich flüch­ten könn­te, sind nir­gends in Sicht.

Wann das Film­mu­se­um die­sen Sprach­ge­brauch über­nom­men hat, weiß ich nicht. Das letz­te Pro­gramm­heft, das ich auf­ge­ho­ben habe, stammt vom Okto­ber-Novem­ber 2017. Eine Stich­pro­be von fünf­zehn Hef­ten aus den Jah­ren 2013–17, die ich gera­de zur Hand habe, zeigt mil­de­re Vor­stu­fen wie ab und zu “Lehrer/innen” oder das Ange­bot, mit  “Filmemacher/inne/n” ins Gespräch zu kom­men. Das war noch halb­wegs erträg­lich, zumal die (meis­tens sehr guten) Begleit­tex­te davon ver­schont geblie­ben sind.

Das aktu­el­le Pro­gramm­heft ent­hält auch zwei Leis­ten, die typisch für die Wie­ner Kul­tur­po­li­tik sind. För­de­rung gibt es immer noch vor­zugs­wei­se, wenn irgend­wie der “Natio­nal­so­zia­lis­mus auf­ge­ar­bei­tet” wird oder jüdi­sche Kul­tur und Erin­ne­rungs­po­li­tik eine Rol­le spielen.

Da gibt es bei­spiels­wei­se ein Pro­gramm mit sechs ziem­lich will­kür­lich aus­ge­wähl­ten Fil­men, die man die Kis­te “Befrei­te Lein­wand. Alli­ier­te Film­po­li­tik 1945–55” gequetscht hat, dar­un­ter Eisen­steins Iwan der Schreck­li­che,  Dis­neys Bam­bi und die west­deut­sche “Mann in Frauenkleidern”-Komödie Fan­fa­ren der Lie­be, die Jah­re spä­ter die Vor­la­ge für Some Like It Hot lie­fern soll­te. (Na, ich hab schon schlüs­si­ge­re Vor­wän­de gese­hen, alte Fil­me wie­der zu zeigen.)

Zusätz­lich gibt es noch “Befrei­ung! Neu­an­fang? Leben nach dem Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger” mit zwei Fil­men. Im Janu­ar gab es davon den ers­ten Teil und ein “Holo­caust Remem­brance Day”-Spezial (zum 80. Jah­res­tag der Befrei­ung von Auschwitz).

Fai­rer­wei­se muß aber gesagt wer­den, daß “Bewäl­ti­gung” kein Schwer­punkt des heu­ti­gen Film­mu­se­ums ist, wie ein Online-Über­blick über die letz­ten drei Jah­re zeigt.

Links­extre­me Pro­gram­me, in ent­spre­chen­dem Jar­gon prä­sen­tiert, gibt es natür­lich immer wie­der: “Femi­nis­ti­sches Kino aus Ita­li­en”, “Capi­ta­lism Sucks. Der Hor­ror des Kapi­tals” oder “Rage, Racism, Reg­gae, Resis­tance. Pio­neers of Black Bri­tish Cine­ma” sowie Film­pro­gram­me “für Kin­der ab 3 Jah­ren und ihre Fami­li­en, beglei­tet von einem*einer Filmvermittler*in”. Aktu­ell gibt es auch ein paar Fil­me zum Isra­el-Gaza-Kon­flikt aus lin­ker Sicht, dar­un­ter Jahr­zehn­te alte Wer­ke von Chris Mar­ker und Jean-Luc Godard.

Stär­ker in die skiz­zier­te Rich­tung der För­de­rungs­prä­fe­renz geht das aktu­el­le Pro­gramm­heft 03/25 des Film­ar­chivs. Da gibt es einen “Jüdi­schen Film­club”, ein “Jüdi­sches Film­fes­ti­val” und ein Mini-Fes­ti­val unter dem Mot­to “Jewish Hor­ror”. Da das Film­ar­chiv einen his­to­ri­schen Kon­ser­vie­rungs­auf­trag hat, beschäf­tigt es sich recht häu­fig mit der NS-Zeit sowie ihren Vor- und Nachspielen.

Dies­mal gibt es neben der Prä­sen­ta­ti­on “Spu­ren des Krie­ges” eine Retro­spek­ti­ve mit dem Titel “Hol­ly­wood in der ‘Ost­mark’ ”, ein Über­blick über die Pro­duk­ti­on der NS-kon­trol­lier­ten “Wien-Film” von 1939–45. Auch das Online-Strea­ming-Pro­gramm setzt einen ein­schlä­gi­gen Schwer­punkt: zwei Nach­kriegs­fil­me über den Natio­nal­so­zia­lis­mus, ein Film gegen Rechts­extre­mis­mus aus den sieb­zi­ger Jah­ren und ein Holo­caust-Doku­men­tar­film aus den neun­zi­ger Jahren.

Das Edi­to­ri­al von Ernst Kien­in­ger (Jahr­gang 1965) berei­te­te mir ein selt­sa­mes Déjà-vu-Erlebnis.

Auch die­ser Autor hat sich frei­wil­lig den poli­tisch erwünsch­ten Sprach­re­ge­lun­gen unter­wor­fen, wenn auch in der reak­tio­nä­ren trans-exklu­si­ven Vari­an­te “Filmkünstler:innen”. Ansons­ten hät­ten bei­de Arti­kel “Die NS-Ver­gan­gen­heit im öster­rei­chi­schen Nach­kriegs­film” und “Ideo­lo­gie und Eska­pis­mus” genau­so gut vor drei­ßig oder vier­zig Jah­ren ver­faßt wer­den können.

Jeden­falls habe ich die­sen Sound schon vor Jahr­zehn­ten so gehört:

Im Nach­kriegs­ös­ter­reich ver­gaß man ger­ne, dass die Wien-Film eine von den Nazis ins Leben geru­fe­ne Insti­tu­ti­on war, der Ent­eig­nun­gen und die Ver­trei­bung jüdi­scher Film­schaf­fen­der vor­aus­ge­gan­gen waren. Heu­te fin­det man in den Pro­duk­tio­nen der Wien-Film vie­le zeit­his­to­ri­sche Bot­schaf­ten, NS-Ideo­lo­gien in allen Schat­tie­run­gen, aber auch öster­rei­chi­sche Lebens­lü­gen, die mit­un­ter lan­ge nachwirkten.

Das ist nun fak­tisch nicht ver­kehrt, aber auch eine ritu­el­le Beschwö­rung eines offi­ziö­sen Geschichts­bil­des, dem immer noch gro­ße Bedeu­tung zuge­mes­sen wird. Ent­lang die­ses Ras­ters wer­den nun die gezeig­ten 19 Fil­me bewer­tet. Die kur­zen Begleit­tex­te lesen sich so abschät­zig, daß man sich fragt, war­um man denn die­se Fil­me abge­se­hen von der his­to­ri­schen “Auf­klä­rung” über­haupt zeigt.

Immer­hin, ein Kom­men­tar zu dem Hans-Moser-Film Lie­be ist zoll­frei (1941) hat mich ein wenig überrascht:

Ein komö­di­an­ti­sches Feu­er­werk mit natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unter­tö­nen, wobei die Sei­ten­hie­be auf die par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie durch­aus zeit­los erscheinen.

Das böse, ins Zen­trum gerück­te “Kron­ju­wel” der Rei­he  ist Gus­tav Uci­ckys Heim­kehr (1941), ein “Vor­be­halts­film”, den man sich nur anse­hen darf, ehe man sich in einem vor­an­ge­hen­den Vor­trag die kor­rek­te Deu­tung ange­hört hat, damit man bloß nicht auf blö­de Ideen kommt (oder so).

Die­ser über­mä­ßig dämo­ni­sier­te Film wird wie immer mit dem Jeli­nek-Zitat, es sei “der schlimms­te Pro­pa­gan­da­film der Nazis über­haupt” ser­viert (der Zorn ist ver­mut­lich des­we­gen so groß, weil er opfer- und täter­re­la­ti­vie­rend Deut­sche als ver­folg­te eth­ni­sche Min­der­heit zeigt, in einer Iko­no­gra­phie, die heu­te auf gespens­ti­sche Wei­se an Holo­caust­fil­me erinnert).

Vor einer hal­ben Ewig­keit habe ich mich mal an einer alter­na­ti­ven Sicht­wei­se auf die­sen Film ver­sucht. Ich den­ke, daß man auch die ande­ren Fil­me die­ser Zeit, die ideo­lo­gi­schen wie die “eska­pis­ti­schen”, ohne abge­nutz­te Bril­len sehen kann und soll­te. Eine ste­ti­ge Neu­be­wer­tung und Revi­si­on von Fil­men im Lau­fe der Zeit ist eine völ­lig nor­ma­le, wenn nicht gar gebo­te­ne Sache. Auch die Pro­duk­te der NS-Zeit ver­die­nen es, aus eta­blier­ten Deu­tungs­kä­fi­gen befreit und neu rezi­piert zu werden.

Immer­hin weist die kom­ple­men­tä­re Werk­schau des Regis­seurs Karl Hartl (1899–1978), in der NS-Zeit Lei­ter der Wien-Film, in eine dezent “revi­sio­nis­ti­sche” Rich­tung. In der “klas­si­schen” Film­ge­schichts­schrei­bung gilt Hartl als eher belang­lo­ser Hand­wer­ker und Unter­hal­ter. Armin Loa­cker bezeich­net ihn in sei­nem Arti­kel als einen der “bekann­tes­ten und ein­fluss­reichs­ten Film­schaf­fen­den des deut­schen und öster­rei­chi­schen Films”, der “vir­tu­os” ver­schie­dens­te Gen­res zu hand­ha­ben wuß­te. Am Ende wer­den über den Wert von Hartls Werk jene ent­schei­den, die sei­ne Fil­me heu­te noch sehen wollen.

Noch vor zehn Jah­ren hät­te ich mich mehr an die­sen Bewäl­ti­gungs­dog­men und den ent­spre­chend durch­de­kli­nier­ten Prä­sen­ta­tio­nen gesto­ßen als heu­te. Nun erschei­nen sie mir bei­na­he irrele­vant, erstarrt und ana­chro­nis­tisch, ein biß­chen wie 35mm-Pro­jek­tio­nen, aber weni­ger erhaltenswert.

Gewiß, was soll ein Film­ar­chiv mit kon­ser­vie­ren­dem Auf­trag sonst tun? Seit 1945 ist nichts all­zu Dra­ma­ti­sches mehr in Öster­reich gesche­hen, die Geschich­te plät­schert seit­her rela­tiv gemäch­lich vor sich hin, mün­det in eine “Post-His­toire”, in der nichts wei­ter geschieht, als daß sich alle paar Jah­re eine neue Regie­rung aus dem­sel­ben Kar­tells­re­ser­voir bildet.

Wie Film­mu­se­um-Direk­tor Micha­el Loeben­stein wün­sche auch ich mir mehr “Stil, Bra­vour, Wil­len zur Kunst ange­sichts der Bana­li­tät und Infa­mie der herr­schen­den Ver­hält­nis­se”, “heu­te nicht weni­ger not­wen­dig als in ande­ren Krisenzeiten”.

Ich ver­mu­te aller­dings, daß er gänz­lich ande­re Ansich­ten hat als ich über die Beschaf­fen­heit die­ser “Ver­hält­nis­se”, ihre Herr­scher, ihre Bana­li­tät und Infamie.

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Mitt­woch, 30. 10. 2024

Vier Mona­te sind seit mei­nem letz­ten Tage­buch-Ein­trag ver­gan­gen. Der Som­mer ist vor­bei, die dunk­le, die Nacht-Zeit des Jah­res hat begon­nen, was eine deut­li­che Wir­kung auf mei­nen Gemüts­zu­stand hat, manch­mal drü­ckend, manch­mal “hei­ter und tief wie ein Nach­mit­tag im Okto­ber” (Nietz­sche). Jede Jah­res­zeit hat ihre Schön­heit und Mys­tik, und des­we­gen bin ich froh, in Mit­tel­eu­ro­pa zu leben, wo wir gleich vier davon unter­schei­den können.

Am Ster­nen­him­mel kann man die­ser Tage den Jupi­ter sehr gut sehen, einen unend­lich weit ent­fern­ten Pla­ne­ten, der um die­se Jah­res­zeit ver­blüf­fend hell strahlt. Nicht weit davon kann man mit blo­ßem Auge den Andro­me­da­ne­bel erspä­hen, eine 2, 5 Mil­lio­nen Licht­jah­re ent­fern­te Galaxie.

Vor lan­ger Zeit habe ich mich in man­chen Som­mer­näch­ten im “Nor­deck” des Gar­tens, in dem ich mich gera­de auf­hal­te, in die Wie­se gelegt und lan­ge in den Ster­nen­him­mel geblickt. Dort, wo der Gro­ße Wagen um den Polar­stern rotiert, ver­such­te ich mich an einer Medi­ta­ti­on, die ich einem Buch ent­nom­men hat­te, das den Unter­ti­tel “Ein­füh­rung in die Eso­te­rik” trug. Sie beinhal­te­te den alten Mys­ti­ker­spruch “Abyssus invo­cat abyssum”, den der Autor ver­deutscht wie­der­gab als: “Die Tie­fe des eige­nen Grun­des ruft der Tie­fe des gött­li­chen Grun­des und Abgrundes.”

Die­se “Wort­fol­ge” sei “sel­ten wie eine ande­re geeig­net, von dem, der die Fähig­keit wah­rer Medi­ta­ti­on erwer­ben will, belebt zu wer­den”. Er emp­fahl die­se Bele­bung zu voll­zie­hen, “wenn der Abend- oder Nacht­him­mel wol­ken­los ist, vor des­sen Sternenfülle”.

Auch wenn ich nicht sehr weit kam in der Ent­wick­lung mei­ner medi­ta­ti­ven Fähig­kei­ten, ist die­ser fas­zi­nie­ren­de Spruch (er spielt eine zen­tra­le Rol­le in dem Roman Amour noir der 2022 ver­stor­be­nen Hof­burg-Spi­ri­tis­tin Lot­te Ingrisch) seit­her für mich für immer mit dem Anblick des Ster­nen­him­mels verknüpft.

Der Autor, von dem die Rede ist, ist Her­bert Frit­sche (1911–1960), das Buch heißt Der gro­ße Holun­der­baum (Sezes­si­on-Bei­trä­ger Jörg Sei­del erin­ner­te an ihn bereits 2020). Frit­sche schreibt dar­in: “Die groß­ar­tigs­te Offen­ba­rung von Licht- und Lie­bes­mo­ti­ven aber ist der Kos­mos selbst, wenn wir ihn von höchs­ter War­te her betrach­ten”, und “sobald wir unse­ren Blick auf den Ster­nen­him­mel rich­ten”, erle­ben wir “wie die Gewal­ten des Bösen und des Has­ses ver­schwin­den ange­sichts des licht­erfüll­ten Abgrunds der Weltwerdung.”

Imma­nu­el Kant fühl­te eine Ver­bin­dung zwi­schen dem “gestirn­ten Him­mel” über sich und dem “mora­li­schen Gesetz” in sich. Blai­se Pas­cal hin­ge­gen erschau­er­te ange­sichts des “ewi­gen Schwei­gens die­ser unend­li­chen Räume”.

Man kann alles immer auch anders sehen. Vor Jah­ren ging ich ein­mal an der Sei­te von Micha­el Klo­novs­ky und zwei, drei ande­ren Gesel­len nachts zu einer Her­ber­ge in einem Dorf irgend­wo in der dun­kel­deut­schen Pam­pa. Über uns wölb­te sich ein spek­ta­ku­lä­rer Ster­nen­him­mel, viel deut­li­cher sicht­bar als in der von künst­li­chem Licht umstrahl­ten Groß­stadt. Ich tat einen ver­zück­ten Aus­ruf: “Seht mal, wie schön man die Ster­ne heu­te sieht.” Dar­auf Klo­novs­ky in sei­ner übli­chen staub­tro­cke­nen Art: “Und sie bedeu­ten nichts.” Ich bin für die­se Art von maka­brem Humor emp­fäng­lich und muß­te laut auflachen.

Bedeu­ten sie wirk­lich nichts? Bedeu­tet irgend­et­was etwas? Oder sind nur wir selbst es, die Bedeu­tung in die Din­ge hin­ein­le­sen, wie in die Stern­bil­der am Him­mel, in denen man mytho­lo­gi­sche Tie­re und Gestal­ten erken­nen woll­te, und deren Umris­se man auch durch­aus völ­lig anders zeich­nen könnte?

Her­bert Frit­sche, gebo­ren im spä­ten Kai­ser­reich in Rixdorf/Neukölln, gestor­ben im Alter von nur 49 Jah­ren in der frü­hen Bun­des­re­pu­blik in Mün­chen, war Dich­ter, Wis­sen­schaft­ler und Eso­te­ri­ker zugleich.

Als sol­cher glaub­te er, in einem zwar geheim­nis­vol­len, tra­gi­schen, aber sinn­erfüll­ten, deut­ba­ren, “erschaf­fe­nen” Kos­mos zu leben, in dem sich Leben und Tod, Tag und Nacht im ewi­gen Zyklus die Hand rei­chen, die Din­ge über “Signa­tu­ren” zu uns spre­chen, in dem “alles Ver­gäng­li­che nur ein Gleich­nis” ist und das indi­vi­du­el­le, per­so­na­le Men­schen­le­ben ein Schick­sal hat, des­sen fer­nes End­ziel eine wah­re, “höhe­re” Mensch­wer­dung ist, für, durch, mit und manch­mal (schein­bar) auch gegen Gott.

Ein Buch von ihm hat den Titel Sinn und Geheim­nis des Jah­res­laufs, erschie­nen 1949, mit einem sehr schö­nen Ein­band und Zeich­nun­gen von Paul Kurt Bartzsch. Es dreht sich um die “eso­te­ri­sche” Bedeu­tung der Mona­te und Jah­res­zei­ten. Im Kapi­tel “Okto­ber” kann man Sät­ze wie die­se lesen:

Das Feu­er der Schöp­fung durch­blitzt unse­re Näch­te, wärmt unser Blut, kriecht in die Samen der Kräu­ter, hat den Wein des Okto­bers reif gemacht und lodert nun sogar durch das Ster­ben des Lau­bes: bun­ter als die Fel­der im Febru­ar, wenn Tau­wind den Schnee ver­trieb, bren­nen die Far­ben über den Laub­wald dahin, ehe der Sturm sie zu Boden weht. Auch die­se Todes-Feu­er sind Feu­er des Lebens…

Man­che Bücher und Autoren sind wie Stern­schnup­pen oder Kome­ten, ande­re wie Fix­ster­ne. Frit­sche ist ein Autor, den ich seit 1992 lese. Nicht am lau­fen­den Band, aber alle paar Jah­re kehrt er wie­der, viel­leicht, damit ich anhand der wie­der­hol­ten Lek­tü­re prü­fen kann, wie sehr ich mich ver­än­dert habe.

Ab und zu scheint er mir einen Gruß aus dem Jen­seits zu schi­cken. 2015 fiel mir in einem Wie­ner Anti­qua­ri­at ein aus den zwan­zi­ger Jah­ren des letz­ten Jahr­hun­derts stam­men­der Fak­si­mi­lie-Band über Frei­mau­rer­tum aus dem 18. Jahr­hun­dert in die Hän­de, in dem sich ein hand­schrift­li­cher Besit­zer­ver­merk fand: “Dr. Her­bert Frit­sche, Bad Pyr­mont”. Ich kauf­te das nicht gera­de bil­li­ge Buch, um in den Besitz die­ses Auto­gramms zu kommen.

Im August die­ses Jah­res hielt ich mich für ein paar Tage in Ber­lin auf. In der Nähe der Muse­ums­in­sel traf ich mich mit Marc Pom­me­re­ning, der mir stolz einen Floh­markt­fund zeig­te, den ihm eben der Büche­ren­gel “für’n Appel und ’n Ei” zuge­spielt hat­te: Der 1970 als Pri­vat­druck in einer Auf­la­ge von 1000 nume­rier­ten Exem­pla­ren erschie­ne­ne Band Brie­fe an Freun­de, zusam­men­ge­stellt von Frit­sches treu­em, gleich­alt­ri­gen Freund, dem Ver­le­ger Ernst Klett, der auch Adres­sat der meis­ten dar­in ent­hal­te­nen Brie­fe ist.

Zu den in die­sem Band ver­sam­mel­ten illus­tren Brief­part­nern Frit­sches zäh­len unter ande­rem Gus­tav Mey­rink, Gott­fried Benn, Ernst Jün­ger, Mar­tin Buber, Hans Blü­her, Ger­hard Nebel, Lud­wig Meid­ner und der sagen­um­wit­ter­te Graf Hans-Has­so Mar­tin von Veltheim-Ostrau. 

Die­se unvoll­stän­di­ge Lis­te kann die erstaun­li­che geis­ti­ge Spann­wei­te und Viel­falt von Frit­sches Freun­den und Kor­re­spon­den­ten nur andeuten.

Mit Benn hat­te er bereits als Gym­na­si­ast Bekannt­schaft gemacht. Frit­sche schick­te dem lite­ra­risch damals noch kei­nes­wegs kano­ni­schen Haut­arzt eine Kopie eines Schul­auf­sat­zes zu, den er zum Leid­we­sen sei­ner um bür­ger­li­chen Anstand besorg­ten Leh­rer über sei­nen Lieb­lings­dich­ter ver­faßt hat­te. Benn war davon der­art ein­ge­nom­men, daß er den jun­gen Mann zu sich auf einen Kaf­fee ein­lud. Die Freund­schaft der bei­den hielt bis zum Tod Ben­ns im Jahr 1956.

Aus einer ganz ande­ren Rich­tung als Benn kam Gus­tav Mey­rink (1868–1932). Die­ser war nicht nur Sati­ri­ker und Ver­fas­ser erfolg­rei­cher okkult inspi­rier­ter Roma­ne wie Der Golem (1915), Wal­pur­gis­nacht (1917) oder Der wei­ße Domi­ni­ka­ner (1921), son­dern auch prak­ti­zie­ren­der Yogi, der dem nach Klett “genia­li­schen Jüng­ling” Frit­sche brief­li­che Anlei­tun­gen für ers­te Schrit­te auf dem “meta­phy­si­schen” Weg des “Erwa­chens” schickte.

Mey­rink war es auch, der mich selbst auf die “eso­te­ri­sche” Spur führ­te (die ich aller­dings abge­se­hen von etwas Astro­lo­gie, Tarot und Geo­man­tie nie ernst­haft “prak­tisch” ver­folgt habe). Mit vier­zehn ver­schlang ich den Golem, im sel­ben Jahr, 1990, besuch­te ich das Grab des Rab­bi Löw auf dem alten jüdi­schen Fried­hof im frisch aus der kom­mu­nis­ti­schen Herr­schaft ent­las­se­nen Prag, einer Stadt, von der Frit­sche zeit­le­bens geträumt, die er aber nie per­sön­lich betre­ten hat.

Als Andenken nahm ich mir einen klei­nen Stein mit, der neben (nicht auf!) dem Grab­stein lag: Erst zuhau­se ent­deck­te ich, daß auf ihm auf einer Sei­te die Züge eines fins­ter bli­cken­den bär­ti­gen Man­nes zu erken­nen waren, auf der ande­ren ein “mon­go­li­sches” Gesicht, das dem Golem der berühm­ten, kon­ge­nia­len Illus­tra­tio­nen von Hugo Stei­ner-Prag ähnel­te. Ich schwö­re, daß das wahr ist.

1992 las ich Thor­wald Deth­lef­sens Schick­sal als Chan­ce, eine leicht ver­ständ­li­che, packend geschrie­be­ne Dar­stel­lung des eso­te­ri­schen-her­me­ti­schen Welt­bil­des. Die­se für mich schock­ar­ti­ge Lek­tü­re mün­de­te in Lite­ra­tur­emp­feh­lun­gen, an deren obers­ter Stel­le die Wer­ke Frit­sches und Mey­rinks genannt wur­den. Kurz dar­auf schaff­te ich mir den Gro­ßen Holun­der­baum an. Auch auf den Namen Hans Blü­her stieß ich zum ers­ten Mal bei Dethlefsen.

Im sel­ben Jahr besuch­te ich auf dem Fried­hof Père Lachai­se in Paris das monu­men­ta­le Grab­mal Samu­el Hah­ne­manns, inspi­riert von Deth­lef­sen und Frit­sche, die bei­de im Simi­le-Prin­zip der Homöo­pa­thie “das allein objek­tiv gil­ti­ge Gesetz der Heil­kun­de” (Hans Blü­her) gefun­den zu haben glaub­ten. Frit­sche, der sein Leben lang mit schwe­ren Krank­hei­ten zu kämp­fen hat­te, war auch ein Theo­re­ti­ker (und wenn man so will: Theo­lo­ge) der Hei­lung und des Heils, und damit auch des Sün­den­falls und der Erlö­sung, aller­dings auf dezi­diert ket­ze­ri­schen, unor­tho­do­xen, man könn­te sagen: gnos­ti­schen Pfaden.

Anfang 1993 schick­ten mich mei­ne Eltern auf­grund von hart­nä­cki­gen Depres­sio­nen zu einem Homöo­pa­then namens Dr. Sell­ner, einem ent­fern­ten Ver­wand­ten, der damals noch in Wien ordi­nier­te. Als ich den Namen Frit­sches fal­len ließ, wink­te der gute Dok­tor ab: die­ser Herr Frit­sche habe “der Homoöpa­thie gro­ßen Scha­den zuge­fügt.” Damit war ich augen­blick­lich ver­stimmt und gegen den Dok­tor ein­ge­nom­men, was mei­ner Hei­lung durch Glo­bu­li wahr­schein­lich nicht zuträg­lich war (was genau in sei­nen Augen Frit­sches Ver­ge­hen war, weiß ich bis heu­te nicht).

Ein ange­mes­se­nes Autoren­por­trait Her­bert Frit­sches wür­de den Rah­men die­ses Tage­buchs spren­gen, wes­halb ich es mir für einen spä­te­ren Ein­trag auf­he­be. Ich habe ihn und sein Werk letz­te Woche, am 19. Okto­ber, in das Zen­trum des zwei­ten Abends “Mar­tin Licht­mesz prä­sen­tiert” mit anschlie­ßen­der Musik­be­schal­lung von “DJ Nacht­mesz” gestellt.

Den Bericht über die ers­te Ver­an­stal­tung die­ser Art am 24. Febru­ar die­ses Jah­res gibt es wei­ter unten in die­sem Tage­buch zu lesen. Das “Haus zur letz­ten Latern’ ” wan­der­te dies­mal von Thü­rin­gen in eine alte Müh­le in der Lüne­bur­ger Hei­de, auch dies­mal an einem dun­kel rau­schen­den Wald­rand gele­gen. Kür­bis­kopf­geis­ter und Ker­zen leuch­te­ten den “weit­ver­wan­der­ten Geschöp­fen der Mit­ter­näch­te”, die in die­ser “spä­ten Hei­mat­schen­ke” (um aus einem Gedicht Frit­sches zu zitie­ren) ein­ge­kehrt waren, in der war­me Kür­bis­sup­pe und reich­lich Trank aller Art ser­viert wurde.

Das letz­te Mal hat­te ich einen magi­schen Künst­ler vor­ge­stellt, den Fil­me­ma­cher Ken­neth Anger (1927–2023), dies­mal war ein magi­scher Schrift­stel­ler an der Rei­he, mit beson­de­rem Augen­merk auf den Dich­ter Her­bert Fritsche.

Für das Erin­ne­rungs-Pla­kat, das alle Besu­cher geschenkt beka­men, die es haben woll­ten, habe ich als Motiv eine Zeich­nung von John Uhl gewählt, eines eben­falls in Rixdorf/Neukölln gebo­re­nen Schul­freun­des und Weg­ge­fähr­ten Frit­sches, das letz­te­ren zeigt, wie er um 1930 in der Ber­li­ner Bohè­me, bei den “kes­sen Lite­ra­ten, hin­ter­grün­di­gen Mor­phi­nis­ten, Dun­kel- und Hell­män­nern, Inter­pre­ten eines hei­ßen Nihi­lis­mus” berühmt-berüch­tigt war: Mit einem lan­gen schwar­zen Man­tel, einem breit­krem­pi­gen Hut und einem Geh­stock, bei­na­he ein “Gruf­ti” avant la lettre.

Über sei­ne frü­hen Gedich­te schrieb John Uhl (in dem Band Die Vagan­ten, 1967):

Die Mehr­zahl der Gedich­te ist in der Däm­me­rung, im Zwie­licht und in der Nacht ent­stan­den, wo die All­tags­kon­tu­ren schwin­den und die Heer­schar dämo­ni­scher Gewal­ten und Gestal­ten erwacht. Die hier ver­ein­zelt auf­tau­chen­den beängs­ti­gen­den Gespens­ter, Nacht­ge­sich­te und selt­sa­men Wesen sind nicht Rudi­men­te abge­leb­ter Mensch­heits­epo­chen oder phan­tas­ti­sche Hirn­ge­spins­te eines ver­stie­ge­nen Welt­fremd­lings, son­dern Wesen von greif­ba­rer Rea­li­tät und bren­nen­der Aktua­li­tät, Gezie­fer eines gefähr­li­chen Welt­al­ters, des­sen vor­der­grün­di­ges, optisch sicht­ba­res Haupt­kenn­zei­chen welt­wei­te Herr­schaft poli­ti­scher und tech­ni­scher Dämo­nen ist.

Für den lyri­schen Teil des Vor­trags­abends kam mir Ger­hard Hall­statt von Aller­see­len zu Hil­fe. Ich gab ihm zwei Gedich­te zu lesen, die, wie ich fin­de, gut zu ihm paß­ten: Die Hym­ne “Alfred Kubin” aus dem Gedicht­band Durch heim­li­che Türen (1932) und das Gedicht “Intro­itus”, abge­druckt im Anhang zum Holun­der­baum. Das Gedicht “Advents­be­kennt­nis”, in dem Stim­men ver­schie­de­ner, nach Erlö­sung suchen­der Reli­gio­nen zum Erklin­gen kom­men, lasen wir gemein­sam, mit abwech­seln­den Strophen.

Es war ein Glücks­fall, daß Ger­hard dabei war. Ins­be­son­de­re dem “Intro­itus” wuß­te er gera­de­zu unheim­li­ches Leben ein­zu­hau­chen. Dar­in spricht ein dem Schei­ter­hau­fen ent­kom­me­ner Katha­rer (man lese nach bei Otto Rahn) einen Fluch auf die “klu­ge Klerisei”:

Die Brü­der, deren Aschenrest
Noch heut den Hang des Montségur
Ver­färbt, sind mir ins Herz gepresst
Als Eid auf Gott: Wer kann dafür,

Wenn ihn der Geist der Frei­heit weiht,
Der Ket­zer­geist, der Geist des GRAL?

Am Schluß der Lesung ließ ich Frit­sche sel­ber spre­chen, gleich­sam “nekro­man­tisch” über eine Ton­auf­nah­me, ein­ge­spro­chen 1959, in sei­nem letz­ten Lebens­jahr. Das Gedicht, publi­ziert in dem Band Zeit der Lilie (1947), ist eine “Grab­in­schrift”, die Ver­fas­ser für sich selbst geschrie­ben hat. Dar­in ver­gleicht er sich mit einer Fle­der­maus, die dazu ver­dammt ist, für immer im Zwie­licht zu flat­tern, an der Gren­ze zwi­schen Tag und Nacht, Dies­seits und Jen­seits, sich seh­nend nach den Ster­nen, die aber uner­reich­bar in wei­ter Fer­ne bleiben:

Er woll­te leben aus dem Vollen.
Das hät­te er nicht wol­len sollen:
Zum Dienst am Geist war er verflucht.
Und den­noch hat er es – versucht.

Dem Ver­neh­men nach ist es gelun­gen, daß sich auch dies­mal eine “magi­sche” Stim­mung ein­ge­stellt hat, und wenn eini­ge Zuhö­rer nun zu Frit­sche und Mey­rink grei­fen soll­ten, wäre mei­ne Mis­si­on erfüllt. Danach begann wie gehabt der “dio­ny­si­sche” Teil des Abends.

Zum Schluß noch ein paar Zei­len aus dem Gedicht “Okto­ber­trost”:

Wenn das Leben sich zur Nei­ge wendet,
Wenn vor­bei ist, was der Mai verhieß,
Wenn wir wis­sen, daß es bald nun endet,
Fra­gen wir ins Nichts: War’s alles, dies?

Sich auf sol­che Fra­gen vorbereiten
Lehrt uns der Okto­ber Jahr um Jahr:
Wäh­rend Wär­me, Licht und Laub entgleiten,
Fragt das Herz, ob wirk­lich Som­mer war?

Längst schon sind die Vögel auf der Reise,
Längst schon weht der Nebel nachts durchs Tal,
Längst schon flüs­tert durch die Stun­den leise
Herbst­lich herb das Wort: Es war einmal…

Aber wäh­rend wir uns heimbegeben,
In den gro­ßen Tod, dem nichts entrinnt,
Sehn wir Ster­ne durch den Abend schweben,
Fun­keln­der denn je.…

.…
Ster­ne stei­gen aus der Finsternis,

Ster­ne über­schim­mern, süd­lich große,
Alles Eis der win­ter­wei­ßen Nacht,
Bis aus ihrem lei­chen­kal­ten Schoße
Keimt, was neu den Früh­ling macht.

Sämt­li­che Wer­ke von Her­bert Frit­sche (in 17 Bän­den!) kann man auf Ama­zon oder hier bestellen.

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Mitt­woch, 26. Juni 2024

Wäh­rend man­che mei­ner Zeit­ge­nos­sen unter „Gen­der-Dys­pho­rie“ lei­den, so habe ich mir selbst die Dia­gno­se „Kul­tur-Dys­pho­rie“ gestellt –  also eine Unver­ein­bar­keit zwi­schen mei­ner inner­see­li­schen Vor­stel­lung von Kul­tur und Zivi­li­sa­ti­on und dem dys­to­pi­schen Clown­welt­alptraum um mich her­um, in dem ich lei­der und mit wach­sen­der Ent­frem­dung leben muß (nicht, daß ich mich jemals beson­ders “kon­gru­ent” oder “inte­griert” gefühlt hätte).Ich bin also eine Art Trans-Kul­tu­rel­ler. Inso­fern mag es ein Leich­tes sein, die fol­gen­den Beob­ach­tun­gen mei­nem frei­wil­lig-unfrei­wil­lig selbst-abge­häng­ten und krank­haft über­emp­find­li­chen Cha­rak­ter zuzuschreiben.

Ein wesent­li­cher Teil mei­nes kul­tur­dys­pho­ri­schen Lei­dens (der Begriff kommt aus dem Grie­chi­schen δύσφορος = schwer zu tra­gen­des Leid) nährt sich vom täg­li­chen Anblick der Smart­phoni­sie­rung der mensch­li­chen Spe­zi­es,  ein erschre­cken­der Pro­zeß anthro­po­lo­gi­scher Ver­krüp­pe­lung und Dege­ne­ra­ti­on, der Tag für Tag uner­bitt­lich und ohne jeg­li­chen Gegen­wind voranschreitet.

Dar­über woll­te ich schon seit über einem Jahr (genau­er gesagt, seit dem Tod Ted Kac­zynskis) einen län­ge­ren Arti­kel schrei­ben, aber ich schie­be ihn stän­dig hin­aus, aus purer, fei­ger Schmerzvermeidung.

Beson­ders beun­ru­hi­gend fin­de ich den Gleich­schal­tungs­ef­fekt die­ser neu­en uni­ver­sel­len Grund­aus­stat­tung, die so unent­behr­lich und selbst­ver­ständ­lich gewor­den ist wie Schu­he, Hem­den oder Hosen.

Buch­stäb­lich jeder Mensch, dem man auf der Stra­ße begeg­net, führt sicht­bar ein Smart­phone (oder ipho­ne, ist ja g’hupft wie g’sprungen) mit sich, meis­tens in die Hand­flä­che geklebt, ent­we­der in Bereit­schafts­hal­tung oder in Akti­on, indem er tele­fo­niert, mit einem trance­ar­ti­gen Blick auf den Bild­schirm starrt oder über des­sen Ober­flä­che mit den Fin­gern tip­pelt oder wischt, ohne Pau­se, beim Ste­hen, Gehen und Sit­zen, beim Kin­der­wa­gen­füh­ren und Gas­si­ge­hen mit dem Hund, beim Jog­gen, Rad­fah­ren, Ein­kau­fen, Essen oder Kuscheln mit der bes­se­ren Hälfte.

Erspäht man end­lich ein­mal jeman­den “ohne”, kann man sich in der Regel das Auf­at­men spa­ren, denn man muß nur ein paar Sekun­den war­ten, bis sei­ne oder ihre Fin­ger wie von selbst, bei­na­he unbe­wußt, in die Hosen- oder Hand­ta­sche wan­dern und das klei­ne teuf­li­sche Ding her­vor­grif­feln oder mit ihm unent­schlos­sen Raus-Rein spie­len. Bei ande­ren wie­der­um ver­rät ein wei­ßer Stöp­sel im Ohr, daß das Gehirn gera­de elek­tro­nisch geflu­tet wird.

Das sind für mich noch die erträg­lichs­ten Exem­pla­re. Schlim­mer emp­fin­de ich die­je­ni­gen, die mich in der voll­ge­stopf­ten U‑Bahn umzin­geln und dabei stän­dig wischen, tip­pen, scrol­len, glot­zen, labern oder zischen­de und kräch­zen­de Sound­bytes abspie­len. Soweit es mich betrifft, könn­ten sie genau so gut unge­niert vor sich hinona­nie­ren, so pein­lich ist es mir. Um die Wahr­heit zu sagen, wäre es mir fast schon lie­ber, wenn sie statt­des­sen ona­nie­ren würden.

Der Ein­druck, der sich mir auf­drängt, ist der­je­ni­ge einer pawlow’schen Kon­di­tio­nie­rung und sozia­len Dres­sur, zu der auch ein ziem­lich mani­fes­tes Sucht­ver­hal­ten gehört. Man kann es deut­lich sehen in den dopa­min­trun­ke­nen, tran­qui­li­sier­ten Gesich­tern (“wie Hin­du­kü­he”, heißt es in Fight Club) und den ner­vö­sen her­um­hu­schen­den, her­um­tas­ten­den Hän­den und Fin­gern, die fast schon eigen­stän­dig agie­ren und das Gerät wie von selbst zücken, weg­ste­cken, wie­der zücken, drauf gucken, wie­der weg­ste­cken, oder sonst­wie befin­gern, befum­meln und bewischen.

Das sind gar klar gehack­te oder zumin­dest hack­ba­re Gehir­ne, Men­schen, die süch­tig und damit schwach und abhän­gig, steu­er- und kon­trol­lier­bar gewor­den sind.

Des wei­te­ren frap­piert die all­um­fas­sen­de “Mas­sen­de­mo­kra­tie” des Smart­phone-Besit­zes, da an die­sem Ver­hal­ten lücken­los alle, wirk­lich alle teil­ha­ben und mit­ma­chen, egal wel­chen Geschlechts, wel­cher Ras­se, wel­cher Alters­klas­se, wel­cher sozia­ler Schicht, wel­cher Reli­gi­on und wel­chem Volk sie ange­hö­ren. Die­se tota­le Teil­nah­me und Ein­fü­gung erin­nert mich ein wenig an die Mas­ken­ge­sich­ter wäh­rend der “Pan­de­mie”, deren Anblick gewiß ungleich bedrü­cken­der war, die aber, so emp­fin­de ich es, eine ähn­li­che Schwä­che, Gleich­schal­tung und Kon­for­mi­tät signalisierten.

Beson­ders beklem­mend fin­de ich es, wenn schon klei­ne Kin­der auf die­sen Din­gern kle­ben wie Rosen­kä­fer auf Flie­der­blü­ten. Manch­mal sieht man auch Erwach­se­ne, die Säug­lin­gen und Klein­kin­dern im Kin­der­wa­gen ein Smart­phone in die Hand drü­cken, um sie ruhig zu stel­len und zu beschäf­ti­gen. Ande­re wie­der­um gehen mit “gutem” Bei­spiel vor­an, indem sie sich durch ihre Social Media wischen, statt den Kin­dern Auf­merk­sam­keit zu schenken.

Für mich ist das alles noch eine dys­to­pi­sche, sur­rea­le “Neue Nor­ma­li­tät”, nun aber wach­sen vor mei­nen Augen Gene­ra­tio­nen her­an, für die es selbst­ver­ständ­lich ist, daß man an jedem Ort und zu jeder Zeit und Gele­gen­heit mit dem Inter­net ver­bun­den ist, daß man den Mini­com­pu­ter immer mit sich trägt, als wäre er ein Kör­per­teil, daß man kein Gespräch füh­ren kann, ohne etwas zu gugeln oder dem ande­ren etwas vor­zu­spie­len oder auf dem Dis­play zu “zei­gen”.

Frei nach Eric Blair: Wenn Sie ein Bild von der Zukunft haben wol­len, so stel­len Sie sich ein Smart­phone vor, das einem unauf­hör­lich vor’s Gesicht gehal­ten wird. Ich ver­su­che mich inner­lich durch eine Art mor­ti­fi­ca­tio men­tis mit dem Gedan­ken abzu­fin­den, daß das nun für den Rest mei­nes Lebens so blei­ben (oder sogar schlim­mer kom­men) wird.

Nicht sel­ten (soll man mich halt gei­ßeln für mei­ne Mis­an­thro­pie und Men­schen­ver­ach­tung) sieht man golem­ar­ti­ge, vom Demi­ur­gen ver­pfusch­te Gestal­ten, an denen das Smar­tes­te die klei­ne, kom­ple­xe und doch so ein­fach zu bedie­nen­de Wun­der­ma­schi­ne ist.

Vor ein paar Tagen sah ich eine Grup­pe von Men­schen mit Down-Syn­drom auf einem Bahn­steig, alle­samt den Blick mit offe­nem Mund auf den schwar­zen Spie­gel in ihrer Hand­flä­che gerich­tet (nicht anders als jeder ande­re, der dort stand oder saß). Ich sage ehr­lich, daß ich bei die­sem Anblick erschrak. Es wirk­te wie eine Sze­ne aus einem Film von David Lynch oder Wer­ner Her­zog (oder Tod Brow­ning, falls den noch jemand kennt).

Wie gesagt: Man muß nicht auf mich hören oder mich ernst­neh­men, da ich ja bloß ein neu­ro­ti­scher Son­der­ling und Abseits­ste­her bin, dem es schwer­fällt, sich ins Unver­meid­li­che und Unauf­heb­ba­re zu fügen und “mit der Zeit zu gehen”.

In der Wie­ner Innen­stadt sah ich zwei Smart­phone­zom­bies (wie ich sie lie­be­voll nen­ne; sie sind in der Regel das ers­te, was ich auf der Stra­ße vor mei­nem Haus­ein­gang vor­bei­schlür­fen sehe, wenn ich mei­ne Woh­nung ver­las­se) aus ent­ge­gen­ge­setz­ten Rich­tun­gen auf­ein­an­der zuschrei­ten: Ein täto­wier­ter, stop­pel­bär­ti­ger Kurz­haa­ri­ger mit einem Plat­ten­co­ver von May­hem (die berüch­tig­te Debüt-EP „Death Crush“ von 1987) als T‑Shirt-Motiv, ein ande­rer, Typ Bobo-Hips­ter mit halb­lan­gen blon­den Haa­ren, mit einem Ed-Sheeran-Shirt (Sheeran ist soet­was wie der Elvis der algo­rith­men-opti­mier­ten NPC-Musik für Fit­ness­stu­di­os, Fahr­stüh­le und Bürodrohnen).

Bei­de, etwa gleich­alt (um die drei­ßig), hat­ten, wie heu­te üblich, den rech­ten Arm recht­win­ke­lig abge­bo­gen, und hiel­ten den Kopf gesenkt, den Blick auf den Bild­schirm im Hand­tel­ler fixiert. Bei­de hat­ten Stöp­sel im Ohr, der eine hör­te viel­leicht „Chain­saw Guts­fuck“ (Zugrif­fe auf You­tube: 3,2 Mill­lio­nen) der ande­re viel­leicht „Shape of You“ (Zugrif­fe auf You­tube: 6 Mil­li­ar­den, 282 Mil­lio­nen, 389,597). Ihre Kör­per­hal­tung und ihr Gesichts­aus­druck waren iden­tisch, gleich­sam syn­chro­ni­siert. Sie waren habi­tu­el­le Zwil­lin­ge, trotz ihres extrem kon­trä­ren Musik­ge­schmacks. Ohne auf­zu­bli­cken und den ande­ren zu beach­ten, gin­gen sie anein­an­der vorbei.

Die bei­den spuk­ten in mei­nem Kopf her­um, als mich die Redak­ti­on des Maga­zins frei­lich bat, für die nächs­te Aus­ga­be einen Text über den aktu­el­len Stand der Pop­kul­tur zu schreiben.

Ich sag­te zu, obwohl ich zu die­sem Bereich seit der Jahr­tau­send­wen­de nicht mehr viel Füh­lung habe. Ich ken­ne zwar Namen wie Brit­ney Spears, Jus­tin Tim­ber­bie­ber, Miley Cyrus, Bey­on­cé, Emi­nem, Lana del Rey, Rihan­na, Lady Gaga, Tay­lor Swift (letz­te­re haupt­säch­lich durch trol­li­ge Alt­right-Memes aus der Trump-Blü­te­zeit, die ihr Zita­te von A. Hit­ler in den Mund leg­ten, des wei­te­ren über die Ver­schwö­rungs­theo­rie, sie sei ein Klon von Zee­na Schreck-LaVey von Radio Werewolf).

Gleich­zei­tig habe ich, mit Aus­nah­me von Emi­nem, der noch aus den neun­zi­ger Jah­ren stammt, kein ein­zi­ges Lied der Genann­ten im Ohr. Kein einziges.

Na gut, das war jetzt ein biß­chen Ange­be­rei. Ich ken­ne zumin­dest “Wre­cking Ball”, aber auch nur des­we­gen, weil Death in Rome es “iro­nisch” geco­vert haben.

Ich habe mir auch ein paar Nicki-Mina­j‑, Miley-Cyrus‑, Tay­lor-Swift- und Céli­ne-Dion-Vide­os ange­se­hen, aus Stu­di­en­zwe­cken, ob die tat­säch­lich vol­ler okkul­ter MK-Ultra-Gedan­ken­kon­trol­le-Sym­bo­le sind, wie man­che Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker behaup­ten. Die Vide­os fand ich alle­samt gräß­lich, die Lie­der eben­falls, und kein ein­zi­ges hat sich in mich eingewurmt.

Abge­se­hen von mei­nem sub­jek­ti­ven, per­sön­li­chen, mino­ri­tä­ren Geschmack (trotz des bizar­ren, gigan­tes­ken Hyper-Hypes fin­de ich, daß Tay­lor Swift Bon­nie Tyler oder der ungleich see­len­vol­le­ren Kim Wil­de nicht das Was­ser rei­chen kann, sogar Jen­ni­fer Rush war viel bes­ser, erst recht natür­lich Madon­na in ihren bes­ten Jah­ren), ist es unbe­streit­bar, daß die Pop­kul­tur etwa seit Beginn die­ses Jahr­hun­derts ihre frü­he­re Kraft als Zeit­si­gna­tur und die Mas­sen ver­bin­den­des Kol­lek­tiv­erleb­nis ver­lo­ren hat. Wahr­schein­lich waren die neun­zi­ger Jah­re das letz­te Jahr­zehnt, das einen spe­zi­fi­schen audio­vi­su­el­len Zeit­stil (oder Clus­ter von Sti­len) her­vor­ge­bracht hat.

Heu­te herrscht eine Art „post­mo­der­nes“, zeit- und ort­lo­ses Hyper- und Meta-Epi­go­nen­tum vor, in dem alles und jedes aus dem gro­ßen Pool der Ver­gan­gen­heit immer wie­der neu kom­bi­niert, vari­iert, re-mixed, mas­hed-up, gesam­pelt und recy­celt wird (was auch im Kino­an­ge­bot zu beob­ach­ten ist, in dem Sequels, Fran­chi­ses und Remakes einen brei­ten, wenn nicht domi­nan­ten Raum ein­neh­men). Any­thing goes, und was dabei her­aus­kommt, kann gewiß auch gut, gele­gent­lich her­vor­ra­gend sein.

In den acht­zi­ger und neun­zi­ger Jah­ren, die ich als Kind und Jugend­li­cher mit­er­lebt habe, war es prak­tisch unmög­lich, den ange­sag­ten Plat­ten, Kino­fil­men und Fern­seh­se­ri­en zu ent­kom­men, wie sie im Rund­funk und den Medi­en gespielt und bewor­ben wur­den. Mir ist es nicht gelun­gen, obwohl ich schon früh in die sub­kul­tu­rel­len Kel­ler und Sei­ten­stra­ßen abge­taucht bin. Jeder kann­te die Hit­pa­ra­den-Hits, jeder erin­ner­te sich dar­an, ob frei­wil­lig oder unfrei­wil­lig, ob Fan oder Has­ser. Alle schau­ten die­sel­ben Seri­en, und wer das nicht konn­te, war im Kin­der­gar­ten und der Schu­le sozi­al stark benachteiligt.

Daß man heu­te (immer­hin, und glück­li­cher­wei­se) Jah­re ver­brin­gen kann, ohne sich ein ein­zi­ges Lied von Ed Sheeran oder Tay­lor Swift anhö­ren zu müs­sen, hat mit der durch das Inter­net ver­än­der­ten Art des Medi­en­kon­sums zu tun.

Man betrach­te etwa die off­zi­el­len Zah­len der Recor­ding Indus­try Asso­cia­ti­on of Ame­ri­ca (RIAA) für das Jahr 2023: Der Groß­teil der Ein­künf­te im Musik­ge­schäft (Jah­res­um­satz 17,1 Mil­li­ar­den Dol­lar) läuft über Strea­ming (84%), gefolgt von phy­si­schen Medi­en (11%), Down­loads (2%) und Sync-Lizen­zen (Ver­wen­dung in visu­el­len Medi­en, 2%).

“Phy­si­sche Medi­en” sind CDs und Vinyl-LPs (zum Teil auch wie­der Musik­kas­set­ten), wobei letz­te­re die ers­te­ren im Ver­kauf über­holt haben und eine Art Lieb­ha­ber-Renais­sance erfah­ren (das führt dazu, daß man, wie neu­lich mir pas­siert ist, heut­zu­ta­ge beim Libro unver­se­hens auf eine fun­kel­na­gel­neue Lieb­ha­ber­pres­sung des Debüt­al­bums von Vel­vet Under­ground inklu­si­ve abschäl­ba­rer War­hol-Bana­nen­scha­le sto­ßen kann).

Da Unter­hal­tungs­me­di­en heu­te vor allem via Inter­net kon­su­miert wer­den, kann sich jeder­mann sei­ne eige­ne, indi­vi­du­el­le Bespa­ßungs­bla­se ein­rich­ten, in der ihm die Algo­rith­men gleich unsicht­ba­ren Dschin­nen die pas­sen­de Kost aus einem inzwi­schen unüber­schau­bar rie­si­gen Oze­an aus digi­ta­len Ange­bo­ten und Über-Ange­bo­ten fischen und auf­ti­schen, und das oft in rascher Rei­hen­fol­ge und „quer durch den Gemü­se­gar­ten“, der frei­lich das Aus­maß und die Arten­viel­falt eines süd­ame­ri­ka­ni­schen Regen­wal­des hat.

Mit ein paar Klicks kann man in jedes nur erdenk­li­che Gen­re und Gesamt­werk, in jede belie­bi­ge Epo­che abtau­chen und die Zeit­ge­nos­sen igno­rie­ren, so lan­ge man möch­te (eti­am omnes, ego non).  Ich mache das auch so, nur eben per Lap­top und mit selbst­er­stel­len Win­dows-Media-Play­er-Play­lis­ten und ähn­li­chen Old-School-Tech­ni­ken (ich habe auch einen Plat­ten- und einen Kas­set­ten­spie­ler, die ich recht häu­fig benutze).

Das sind mei­ne “kul­tur­anglei­chen­den Maß­nah­men”, um mein Lei­den dar­an, in der fal­schen Kul­tur gebo­ren zu sein, per Ein­ige­lung und Flucht aus der (die­ser) Zeit in die schö­nen Din­ge ver­gan­ge­ner Zei­ten etwas zu mildern.

Auch die­se künst­li­chen Para­die­se sind schon klick‑, bild­schirm- und dopa­min­stoß-inten­siv genug. Ich stel­le mich jetzt also nicht hin wie ein Pha­ri­sä­er, weil ich berufs­tech­nisch das Glück habe, an mei­nem Dumbpho­ne fest­hal­ten zu kön­nen. Auch ohne Smart­phone-Upgrade schwim­me ich in der­sel­ben Sup­pe wie wir alle, und ver­su­che dabei zumin­dest, nicht ganz gar­ge­kocht zu werden.

Bei mei­ner Recher­che stieß ich auf einen 2019 erschie­ne­nen Arti­kel des Musik­jour­na­lis­ten Simon Rey­nolds (Jahr­gang 1963), der vor der Auf­ga­be kapi­tu­lie­ren muß­te, einen Deka­den­rück­blick auf die Pop­kul­tur der 2010er Jah­re zu schrei­ben. Er bringt es per­fekt auf den Punkt, was gesche­hen ist:

Der Grund, war­um es sich so anfühlt, als sei in den 2010er Jah­ren nichts pas­siert, ist, daß zu viel pas­siert ist. Jeder kul­tu­rel­le Mei­len­stein wur­de sofort durch den Ansturm des nächs­ten und des über­nächs­ten weg­ge­fegt. Die­ser Effekt der Erin­ne­rungs­er­o­si­on ist einer der Grün­de, war­um wir den Ein­druck haben, daß uns das  Zeit­ge­fühl abhan­den gekom­men ist.

Die­ser Pro­zeß hat­te bereits im ers­ten Jahr­zehnt des 21. Jahr­hun­derts begon­nen, als File­sha­ring und You­Tube ein rie­si­ges, unge­ord­ne­tes, frei zugäng­li­ches Archiv ver­gan­ge­ner Pop­kul­tur schu­fen, das sich mit aktu­el­len Ver­öf­fent­li­chun­gen ver­misch­te, was einen Effekt der Zeit­lo­sig­keit erzeugte.

Die­se schwin­del­erre­gen­de Macht des tota­len und sofor­ti­gen Abrufs hat sich in den 2010er Jah­ren dank Strea­ming-Diens­ten wie Spo­ti­fy, Net­flix und Ama­zon noch ver­stärkt. Die­se gigan­ti­schen Platt­for­men haben nicht ein­fach den Platz der alten Mono­kul­tur der Mas­sen­me­di­en ein­ge­nom­men, son­dern haben den merk­wür­di­gen Effekt, daß sie gleich­zei­tig ver­ein­heit­li­chen und zer­split­tern. (Her­vor­he­bung von mir. – ML).

Anstatt die Ver­brau­cher dazu ein­zu­la­den, sich zu einem bestimm­ten Zeit­punkt auf ein gemein­sa­mes kul­tu­rel­les Erleb­nis ein­zu­stim­men, för­dern sie indi­vi­du­el­le Wege durch eine Fül­le von Kunst- und Unterhaltungsangeboten.

Strea­ming ist wie Radio ohne oder nur gerin­ge öffent­li­che Dimen­si­on. Gele­gent­lich fällt unse­re Strea­ming-Aus­wahl mit jener einer gro­ßen Anzahl ande­rer Men­schen zusam­men – das schwin­den­de Fla­ckern der Mono­kul­tur zieht uns alle vor­über­ge­hend an den­sel­ben Ort. Aber meis­tens sind unse­re Rei­sen durch die Klang­bi­blio­the­ken ein­sam und asozial.

Das ist die Ant­wort: Was man heu­te als „Pop­kul­tur“ iden­ti­fi­zie­ren könn­te, ist aus­ufernd und frag­men­tiert zugleich, mäan­dernd, ver­schwom­men und zu einem gro­ßen Teil los­ge­löst von Raum und Zeit.  Der „Main­stream“  ist in zahl­lo­se Nischen zer­fal­len, ist sel­ber nur mehr eine Nische unter Nischen, auch wenn sich dar­in ein Mil­lio­nen­pu­bli­kum tum­melt, unbe­merkt von Mil­lio­nen ande­ren Men­schen, die in ande­ren Nischen ver­sun­ken sind.

Blie­be noch zu klä­ren, ob sich das „Mono­kul­tu­rel­le“, des­sen Auf­lö­sung Rey­nolds kon­sta­tiert, nicht auf ande­re Ebe­nen ver­scho­ben hat. Die habi­tu­el­le Ähn­lich­keit zwi­schen dem May­hem- und dem Ed-Sheeran-Fan, die ich beschrie­ben habe, mag dafür als Sym­bol die­nen. Was ich da sah, war wohl die “Ein­heit in der Zer­split­te­rung” oder die gegen­stre­bi­ge Fügung der Heraklit.

In Wahr­heit ist Plu­ra­li­tät in unse­rer Gesell­schaft nur in unver­fäng­li­chen, pri­va­ten Berei­chen “erlaubt”. Ted Kac­zyn­ski beschrieb es bereits in den neun­zi­ger Jah­ren: “Dem Sys­tem ist es egal, wel­che Art von Musik jemand hört, wie er sich klei­det oder wel­che Reli­gi­on er hat”, solan­ge er sich wider­stands­los ins Getrie­be einfügt.

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Mitt­woch, 10. April 2024

Im Tages­spie­gel vom 5. 4. erschien ein Schmier­stück (“hit pie­ce”, wie man auf Eng­lisch sagt) wider die “Juden in der AfD”, ins­be­son­de­re den Genos­sen Artur Abra­mo­vych, der auch Lesern die­ser Netz­sei­te bekannt sein dürfte.

Im Okto­ber letz­ten Jah­res haben wir Tei­le eines Brief­wech­sels (Teil eins, zwei, drei) zwi­schen ihm und mir zum The­ma Israel/Zionismus ver­öf­fent­licht (einen vier­ten Teil habe ich einst­wei­len in der Schub­la­de lie­gen lassen).

Dar­aus desti­liert der Autor des Stücks (Bezahl­schran­ke, aber Sie müs­sen es nicht lesen, mein Kom­men­tar genügt), ein gewis­ser Ruben Ger­c­zi­kow (Jahr­gang 1997), folgendes:

Er [Abra­mo­vych] hat für die Zeit­schrift „Sezes­si­on“ geschrie­ben, die zum vom Ver­fas­sungs­schutz als „gesi­chert rechts­extrem“ ein­ge­stuf­ten „Insti­tut für Staats­po­li­tik“ des neu­rech­ten Vor­den­kers Götz Kubit­schek gehört.

Was genau er da eigent­lich geschrie­ben hat und in wel­chem Rah­men es geschah, ver­schweigt Gerzci­kow (ach, wie bequem doch der nun offi­zi­ell zur Ver­fü­gung gestell­te Stem­pel des Ver­fas­sungs­schut­zes ist! Man könn­te fast mei­nen, daß er extra zu die­sem Zweck erfun­den wurde.)

Wir erfah­ren nicht, daß es sich ledig­lich um einen Gast­bei­trag auf der Netz­sei­te (nicht im Druck­ma­ga­zin) han­del­te, daß die­ser die Form eines Streit­ge­sprächs mit Yours Tru­ly hat­te, und daß Abra­mo­vych und ich ein­an­der dabei ziem­lich scharf in die Man­gel genom­men haben. Wir erfah­ren nicht ein­mal, um wel­ches The­ma es über­haupt ging.

Die­ses sys­te­ma­ti­sche Aus­wei­chen vor kon­kre­ten Inhal­ten und Argu­men­ten hat (alt­be­kann­te, alt­be­währ­te) Metho­de. Gerzci­kow spult zwar ab, wer wann mit wem, aber “was” und “war­um” scheint ihn nicht zu inter­es­sie­ren. Obwohl er genau das irre­füh­ren­der­wei­se im Unter­ti­tel ankün­digt: “War­um ein jüdi­scher Netz­wer­ker sein Heil in der AfD sucht”. Was für eine sub­ti­le, hin­ter­grün­di­ge For­mu­lie­rung: Sein “Heil”! Hm, hm.

Inhalt­li­ches Inter­es­se soll­te man eigent­lich, wenn man immer noch so naiv ist wie ich, von einem Schrei­ber­ling erwar­ten, der laut Wiki­pip­pi zu span­nen­den The­men wie ” Rechts­extre­mis­mus, Isla­mis­mus, Anti­se­mi­tis­mus und Ver­schwö­rungs­ideo­lo­gien” publiziert.

Oder auch nicht, denn offen­bar haben wir es hier mit einem der übli­chen Denun­zi­an­ten und Akti­vis­ten auf Anti­fa-Niveau zu tun, die 200% auf der “rich­ti­gen” Sei­te sur­fen und bewähr­te, kar­rie­re­för­dern­de Maschen stricken.

Abra­mo­vych ist zwar der Haupt­schur­ke des Stücks, er taucht aber ledig­lich in Gestalt eines gesichts­lo­sen, phan­tom­haf­ten Dou­bles auf. Was wir über ihn erfah­ren, ist Klatsch etwa auf die­sem Level:

Ein Jugend­freund von ihm erzählt davon, dass er Abra­mo­vych zu sei­nen Uni­ver­si­täts­zei­ten in Frei­burg stu­di­en­be­dingt sich sehr stark für Phi­lo­so­phie inter­es­siert haben soll, aber auch „einen star­ken Bezug zum Natio­na­lis­mus“ gehabt haben soll. Vor allem das Kai­ser­reich habe es ihm ange­tan. Fer­ner soll er fas­zi­niert gewe­sen sein von den Grä­bern für die jüdi­schen Sol­da­ten aus dem Ers­ten Welt­krieg auf dem Sol­da­ten­fried­hof in Emmerndingen.

Huch!

Zusätz­lich erfah­ren wir, daß Abra­mo­vych “Sym­pa­thie­be­kun­dun­gen für den ehe­ma­li­gen SPD-Poli­ti­ker Thi­lo Sar­ra­zin geäu­ßert haben” soll, “der wegen sei­nen Aus­sa­gen zur Ein­wan­de­rungs­po­li­tik in die Kri­tik gera­ten ist”. (Kraß! Kan­tig! Rechtsextrem!)

Was wir, wie gesagt, nicht erfah­ren, ist, was er nun eigent­lich wirk­lich sel­ber denkt und wofür er kon­kret steht und ein­tritt und war­um. Das ein­zi­ge “Ver­bre­chen”, das er nach die­sem Bericht began­gen hat, ist Netz­wer­ke­rei inner­halb der AfD und gleich­ge­sinn­ter Juden, also im Grun­de eine ganz nor­ma­le Akti­vi­tät von Men­schen, die sich poli­tisch enga­gie­ren. Nach Ansicht von Fae­ser, Hal­den­wang & Co (sie­he hier und hier) frei­lich soll nun auch das schon kri­mi­na­li­siert wer­den, wenn es “von rechts” geschieht, weil es angeb­lich “die öffent­li­che Ord­nung” gefährdet.

War­um AfD-Netz­wer­ke­rei so böse ist, glaubt Gerzci­kow nicht wei­ter begrün­den zu müs­sen, weil die AfD aus sei­ner Sicht per se selbst­er­klä­rend böse ist und er das auch sei­nem Publi­kum nicht wei­ter erklä­ren muß. In der AfD sei­en eben die (wie auch immer defi­nier­ten) “Nazi­ver­harm­lo­ser” unter­wegs, wofür als Beleg etwa Gau­lands “Vogelschiß”-Zitat dient (das ich sel­ber für einen Fehl­griff hal­te; denn ein Zeit­raum von zwölf oder zwölf­hun­dert Jah­ren soll­te auch und vor allem qua­li­ta­tiv bemes­sen werden.)

Kein Wort etwa über Abra­mo­vychs lesens­wer­tes Buch Ent­ar­te­te Esprit­ju­den und heroi­sche Zio­nis­ten, eine lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­che Stu­die über Tho­mas Mann, Theo­dor Les­sing und den Kom­plex des “jüdi­schen Selbst­has­ses” (den ich per­sön­lich aus­ge­spro­chen unter­halt­sam fin­de). Kein Wort über sei­ne Über­set­zung des Romans Ita­mar K. von Iddo Net­an­ya­hu, kaum ein Zitat aus einem Arti­kel oder einer Rede von ihm, mit einer Aus­nah­me zu Beginn:

Die Teil­neh­mer der aktu­ell über­all im Land statt­fin­den­den Demons­tra­tio­nen gegen Rechts, behaup­tet er, woll­ten die „ein­zi­ge Oppo­si­ti­ons­par­tei“ ver­bie­ten las­sen und damit „de fac­to die Demo­kra­tie abschaf­fen“ – genau so, wie es auch die „Natio­nal­so­zia­lis­ten taten”.

Dies rubri­ziert Gerzci­kow unter “Rela­ti­vie­rung des Natio­nal­so­zia­lis­mus” (was offen­bar nicht der Fall ist, wenn mal wie­der irgend­je­mand aus der Regie­rung oder aus den Main­stream­m­e­di­en die AfD mit der NSPDAP “ver­gleicht”).

Eine wei­te­re vage inhalt­li­che Infor­ma­ti­on, die er anzu­bie­ten hat, ist, daß der anvi­sier­te Schur­ke bei der AfD Bochum zum The­ma „Auf­stieg des Isla­mis­mus und impor­tier­ter Anti­se­mi­tis­mus in Deutsch­land“ gespro­chen hat.

Nun: Man soll­te anneh­men, daß es doch für einen Juden in Deutsch­land hoch­in­ter­es­sant wäre, zu hören, was ein ande­rer Jude in Deutsch­land zu die­sem The­ma zu sagen hat, und mög­li­cher­wei­se, ich gestat­te mir den absei­ti­gen Gedan­ken, fin­det sich gera­de hier ein Schlüs­sel, war­um man­che Juden in Deutsch­land mit dem Main­stream jüdi­scher insti­tu­tio­nel­ler Reprä­sen­ta­ti­on unzu­frie­den sind und für die AfD optieren.

Für eine inhalt­li­che Aus­ein­an­der­set­zung ist sich Gerzci­kow jedoch offen­bar zu fein, nicht aber dafür, Ver­leum­dun­gen vom Hören­sa­gen aus der unters­ten Schub­la­de her­vor­zu­kra­men, wenn er etwa behaup­tet, Mit­glie­der der Deutsch-Israe­li­schen Gesell­schaft (DIG), bei der auch Abra­mo­vych Mit­glied ist, haben behaup­tet, letz­te­rer habe als Reak­ti­on auf Kri­tik an “extrem rech­ten Posi­tio­nen” “mit Gewalt gedroht”.

Was die Behaup­tung angeht, “eine Anfra­ge zu den Vor­wür­fen blieb vom JAfD-Vor­sit­zen­den unbe­ant­wor­tet”, so ist dies, nach per­sön­li­cher Aus­kunft von Abra­mo­vych, eine schlich­te Lüge. Dem­nach fand kein direk­ter Kon­takt­auf­nah­me­ver­such sei­tens Gerzci­kows statt (übri­gens “Poli­ti­cal Acti­vist of the Year” der Jah­re 2020 und 2021 der World Uni­on of Jewish Stu­dents). Abra­mo­vych hät­te gute Grün­de, recht­li­che Schrit­te einzuleiten.

Was mich inter­es­sie­ren wür­de, ist, ob wirk­lich stimmt, was die in dem Arti­kel zitier­te Psy­cho­lo­gin Mari­na Cher­ni­vs­ky, Lei­te­rin eines “Kom­pe­tenz­zen­trums” für “anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Bil­dung und For­schung”, behaup­tet, näm­lich, daß die “Mehr­heit der jüdi­schen Com­mu­ni­ty” die AfD als “abso­lu­te Bedro­hung” ein­stuft, und aus wel­chen Grün­den. Ratio­na­le Grün­de kann ich dafür jeden­falls nicht erkennen.

Wie den Lesern die­ses Blogs bekannt, habe ich etli­che Kri­tik­punk­te an dem Unter­neh­men JAfD (eine aktu­el­le eige­ne Netz­sei­te gibt es momen­tan offen­bar nicht).

Man kann gewiß kei­nem Juden zum Vor­wurf machen, daß er sich dem Staat oder zumin­dest dem Pro­jekt Isra­el ver­bun­den fühlt, und es über­rascht auch nicht, daß rechts­ge­rich­te­te oder kon­ser­va­ti­ve Juden, die Sym­pa­thien für die AfD haben, häu­fig Likud-affin sind. Aber weil die AfD nun ein­mal eine Par­tei für Deutsch­land und nicht für Isra­el sein soll, hal­te ich es ver­fehlt, ihr zio­nis­ti­sche Par­tei­nah­men unter­ju­beln zu wol­len, ein Ver­such, der inner­halb der Par­tei und ihres Umfelds zu unpro­duk­ti­ven Span­nun­gen und Spal­tun­gen führt.

Immer­hin ent­neh­me ich dem Arti­kel Gerzci­kows, was Jahr und Tag mei­ne Rede war und ist: Daß rechts­par­tei­ische Vor­stö­ße aller Art, sich an Isra­el ran­zu­hän­gen, auf kei­ne oder nur mar­gi­na­le Gegen­lie­be sto­ßen und dazu ver­dammt sind, illu­so­ri­sches Spar­ten­pro­gramm zu blei­ben (in ande­ren Län­dern, wie Ungarn, wo die domi­nan­te Rechs­par­tei die Regie­rung und nicht die Oppo­si­ti­on stellt, mag das anders sein.) Ich wür­de nicht emp­feh­len, die­sem Irr­licht zu folgen.

Eben­so hal­te ich das Hei­schen nach “Koscher­stem­peln” (wie Gerzci­kow for­mu­liert) aller Art für unwür­dig, weil man sich damit nur zum Spiel­ball von poli­ti­schen Mani­pu­la­tio­nen machen läßt. Die­se Nei­gung gibt es prak­tisch über­all, nicht nur in der AfD, da Koscher­stem­pel gewis­se Vor­tei­le brin­gen (aber eben auch ihren Preis haben). Es gibt aber kei­ne ver­bind­li­che Zen­tra­le, die ent­schei­det, wel­cher denn nun der “legi­ti­me” Koscher­stem­pel ist, und wer das Recht hat, ihn zu ver­ge­ben. Man kann ihn sich also bei ver­schie­de­nen, kon­kur­rie­ren­den jüdi­schen Frak­tio­nen holen. Ob er dann auch wirk­lich wei­ter­hilft, steht auf einem ande­ren Blatt.

Ich habe frei­lich aber nichts dage­gen, wenn sich Juden (und auch “Migra­ti­ons­hin­ter­gründ­ler”) aus ehr­li­cher Über­zeu­gung für die AfD engagieren.

Jeden­falls mag die Num­mer aus dem Tages­spie­gel als Beleg dafür die­nen, daß man auch als Jude unter Juden nicht sicher vor per­sön­li­cher Dif­fa­mie­rung und Brand­mar­kung ist, wenn man “häre­ti­sche” Posi­tio­nen vertritt.

Wie ich bereits sag­te, kommt Abra­mo­vych selbst in dem Arti­kel im Grun­de gar nicht vor, son­dern nur ein abs­trak­ter, pas­send zurecht­ge­schnit­te­ner Buh­mann, der zufäl­lig den­sel­ben Namen trägt. So läuft es immer, und eben­so kur­sie­ren im Netz ent­spre­chen­de Dop­pel­gän­ger von Sell­ner, Kubit­schek, Höcke oder auch mei­ner Wenig­keit. Weil sie zu fei­ge sind, sich uns auf argu­men­ta­ti­ver Ebe­ne zu stel­len, müs­sen sie uns per­sön­lich angrei­fen und unse­re Argu­men­te entstellen.

Trotz unse­rer Dif­fe­ren­zen ver­ste­he ich mich mit Abra­mo­vych per­sön­lich recht gut. Er ist ein klas­sisch mer­ku­ria­ler Cha­rak­ter (mit dio­ny­si­schem Ein­schlag), der alles und jeden kennt, und auf alles und jeden neu­gie­rig ist. Er ist außer­dem ein amü­san­ter und aus­dau­ern­der Trink­part­ner (weit­aus aus­dau­ern­der und hart­ge­sot­te­ner als ich), und wenn sich mal wie­der eine ent­spre­chen­de Gele­gen­heit ergibt, mei­den wir halt die “Reiz­the­men” und reden statt­des­sen über Kubrick- und Woo­dy-Allen-Fil­me. Daß er irgend­je­man­dem “Gewalt andro­hen” wür­de oder könn­te, ist eine völ­lig lächer­li­che Vorstellung.

Viel­leicht soll­te Gerzci­kow, der etwa gleich alt ist wie Abra­mo­vych, mal ein Bier mit ihm trin­ken gehen, aber das wür­de wohl sei­ner künf­ti­gen Kar­rie­re als ZdJ-Appa­rat­schik scha­den. Ent­spre­chen­de Ambi­tio­nen läßt er jeden­falls deut­lich heraushängen.

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Mitt­woch, 28. Febru­ar 2024

Nach einer lan­gen Zug­fahrt mit mehr­ma­li­gem Umstei­gen war ich dem klei­nen Ort am Ran­de des Thü­rin­ger Wal­des ange­kom­men, an dem die Ver­an­stal­tung statt­fin­den soll­te. Rot­mi­la­ne kreis­ten lang­sam und laut­los über die noch blät­ter­lo­sen Baum­wip­fel. Schnee­glöck­chen und Kro­kus­se kün­dig­ten den Früh­ling an.

Was sich mir dar­bot, hät­te genau­so gut ein Dorf im tiefs­ten Rumä­ni­en, etwa in Sie­ben­bür­gen, sein kön­nen. Das ver­fal­le­ne Bahn­hofs­ge­bäu­de war geschlos­sen und erin­ner­te mich an das Spuk­haus in Murnaus Nos­fe­ra­tu (in Wahr­heit die alten Salz­spei­cher von Lübeck).

Nun fehl­te nur noch die Kut­sche mit den ver­hüll­ten Pfer­den und dem kobold­ar­ti­gen Len­ker, um mich mit über­sinn­li­cher Geschwin­dig­keit an mein Ziel zu brin­gen. Statt­des­sen kam ein Auto, um mich abzu­ho­len. Der Fah­rer war ein jun­ger Mann mit lan­gen, locki­gen Haa­ren und einem zier­li­chen Bärt­chen. Optisch hät­te er gut in eine Prog- oder Psy­che­de­lic-Rock-Band der sieb­zi­ger Jah­re pas­sen können.

Er war Mit­glied eines Künst­ler­kol­lek­tivs aus Musi­kern, Malern, Gra­phi­kern, Dich­tern und Cine­as­ten, das mich ein­ge­la­den hat­te, einen Vor­trag zu einem The­ma mei­ner Wahl zu halten.

Ich schlug vor, einen Film­re­gis­seur vor­zu­stel­len, der seit nun fast 30 Jah­ren eine andau­ern­de Fas­zi­na­ti­on auf mich aus­übt und mein Leben maß­geb­lich beein­flußt hat: Ken­neth Anger, der im Mai letz­ten Jah­res im hohen Alter von 96 Jah­ren gestor­ben ist, gefolgt von einer Vor­füh­rung eines oder meh­re­rer sei­ner Filme.

Der Ver­an­stal­tungs­ort war etwa zehn Minu­ten Auto­fahrt vom Bahn­hof ent­fernt. Was sich mir dar­bot, war ein Stück unwahr­schein­li­ches Gehei­mes Deutsch­land am Wal­des­rand, das bei­na­he sur­rea­le Qua­li­tä­ten hatte.

Von außen war es ein mehr­stö­cki­ges, unge­fähr fünf­zehn Meter hohes Eisen­be­ton­ge­bäu­de aus der Zeit vor dem ers­ten Welt­krieg, das frü­her zu land­wirt­schaft­li­chen Zwe­cken, etwa als Korn­kam­mer, genutzt wor­den war. In DDR-Zei­ten dien­te es eine zeit­lang als eine Art “Jugend­treff”. Optisch beson­ders schön und auf­fäl­lig war ein ehe­ma­li­ger Was­ser­turm, der mit dem Haupt­ge­bäu­de ver­bun­den war.

Wenn man es von außen sah, war man kaum vor­be­rei­tet auf den Anblick, der sich im Inne­ren bot. Die Stock­wer­ke erreich­te man zu Fuß durch eine Wen­del­trep­pe. Dort befan­den sich Lager­räu­me, Gäs­te­zim­mer, Bade­zim­mer, Ate­liers für die Künst­ler, ein klei­nes Ton­stu­dio, eine Biblio­thek, eine Küche, eine reich­lich bestück­te Bar, sowie ein gro­ßer Raum, der für Vor­trä­ge, Kon­zer­te und Par­tys ein­ge­rich­tet war.

Die Mit­glie­der des Kol­lek­tivs hat­ten sich hier mit stu­pen­dem Auf­wand einen Traum von einem Refu­gi­um ins Anders­wo und Anders­wie erfüllt. Da es sich bei ihnen um eine Art Geheim­bund han­delt, in den nicht jeder hin­ein­kommt, wer­de ich nicht mehr über sie erzäh­len. Jeden­falls habe ich sel­ten eine sol­che Ansamm­lung an eigen­wil­li­gen Cha­rak­te­ren gesehen.

Mit ihrer Erlaub­nis erwäh­ne ich nur eine feline, rus­si­sche Sän­ge­rin und Bal­let­tän­ze­rin, die sich “Grisch­kin” nann­te. In ihrem Zim­mer im obers­ten Stock­werk beher­berg­te sie eine Gar­de­ro­be aus extra­va­gan­ten Kos­tü­men, die sie zum Teil von ihrer Groß­mutter aus St. Peters­burg geerbt hatte.

Ich erblick­te eine Leo­par­den­fell­ja­cke, die mich an Rai­ner Wer­ner Fass­bin­ders Out­fit in dem Film Kami­ka­ze 1989 erin­ner­te. Aus Spaß pro­bier­te ich sie an, und muß­te fest­stel­len, daß sie mir wie ange­gos­sen paß­te. Grisch­kin beschloß spon­tan, sie mir zum Geschenk zu machen; sie selbst zie­he sie kaum an, da sie dar­in wie eine “pro­sti­tutka” aussehe.

Der Leo­pard ist ein tra­di­tio­nel­ler Beglei­ter des Dio­ny­sos, und so ergrif­fen in die­ser Voll­mond­nacht mit dem mys­ti­schen Datum 24. 2. 2024 ent­spre­chen­de Ener­gien von mir Besitz.

Auch über die Gäs­te gelob­te ich zu schwei­gen. Sie waren hand­ver­le­sen und kamen aus ganz Deutsch­land ange­reist, unter ihnen so man­cher Star­gast “unse­res” Spek­trums. Die Frau­en­quo­te war für eine Ver­an­stal­tung die­ser Art erstaun­lich hoch. Etli­che hat­ten, eben­so wie ich, Wur­zeln in der “schwar­zen Sze­ne” und im Neofolk.

Beson­ders bewe­gend war für mich das Wie­der­tref­fen mit einem musi­ka­lisch akti­ven Paar, das ich zuletzt im Win­ter 2005 in einer ver­schnei­ten Berg­hüt­te, eben­falls im Thü­rin­ger Wald, getrof­fen hat­te. Sie zeig­ten mir auf einem Smart­phone Fotos, die ich noch nie zuvor gese­hen hatte.

Damals hat­te ich in einer klei­nen Run­de von Neo­folk-Enthu­si­as­ten bei Ker­zen­licht ein paar Tex­te vor­ge­tra­gen, die ich zusam­men­ge­stellt hat­te: unter ande­rem von Höl­der­lin, Heid­eg­ger, Rein­hold Schnei­der, Ste­fan Geor­ge, Tho­mas Tra­her­ne und Gott­fried Benn.

Per Foto­ko­pie­rer hat­te ich dar­aus ein klei­nes Heft her­ge­stellt, von dem jeder Anwe­sen­de ein Exem­plar bekam. Die­ses Heft war die Keim­zel­le (oder Ur-Ur-Ver­si­on) mei­nes Buches Kann nur ein Gott uns ret­ten?, das neun Jah­re spä­ter erschei­nen sollte.

Über Ken­neth Anger und sein schil­lern­des, extra­va­gan­tes Leben wer­de ich eines Tages noch einen eige­nen Arti­kel schrei­ben müs­sen. Er war ein soge­nann­ter “Avant­gar­de”-, “Expe­ri­men­tal”- oder “Underground”-Filmer, Eti­ket­ten, die er selbst abge­lehnt hat (eben­so wie die Kate­go­rie “gay”, in die er heu­te wegen sei­ner Homo­se­xua­li­tät ein­sor­tiert wird). Er arbei­te­te als Außen­sei­ter kom­plett abseits der gro­ßen Film­in­dus­trie, der er mit einer Art Haß­li­e­be gegen­über stand.

Sei­ne Fil­me, deren längs­ter nur etwa vier­zig Minu­ten dau­ert, sind kom­ple­xe visu­el­le Poe­me ohne Dia­lo­ge und mit nur rudi­men­tä­rer Hand­lung, Neo-Stumm­fil­me mit Musik, die von Rhyth­mus und Far­be leben, die in ers­ter Linie sinn­li­che, nicht intel­lek­tu­el­le Erleb­nis­se sind. Sie sind hoch­ar­ti­fi­zi­el­le, deka­den­te “Blu­men des Bösen”, die Anger zu einem Hel­den all jener gemacht haben, die einen eher düs­te­ren und absei­ti­gen Geschmack pflegen.

Ich habe sei­nen “Magick Lan­tern Cycle”, einen Zyklus aus neun Fil­men, enstan­den zwi­schen 1947 und 1980, zum ers­ten Mal auf VHS-Kas­set­ten im Alter von acht­zehn Jah­ren gese­hen und war voll­kom­men weg­ge­bla­sen: Nicht nur ihre Ästhe­tik und The­ma­tik zogen mich in ihren Bann, son­dern auch ihre ima­gi­na­ti­ve, phan­ta­sie­vol­le Machart.

Bis auf eine Aus­nah­me sind sie alle­samt auf 16mm-Film gedreht, mit sehr gerin­gen bis gar nicht vor­han­de­nen Bud­gets. Die Dar­stel­ler sind stets Lai­en, Freun­de Angers oder Men­schen, die er auf­grund ihrer see­li­schen Aus­strah­lung, kör­per­li­chen Erschei­nung und Phy­sio­gno­mie besetz­te. Das wirk­te trü­ge­risch ein­fach und weck­te in mir den Wunsch, selbst Fil­me zu machen. Ich begann, mit Freun­den aus der “schwar­zen Sze­ne” heu­te eher pein­li­che Kurz­film­chen auf Hi-8-Video zu dre­hen, die Angers Stil zu imi­tie­ren ver­such­ten (so habe ich eine Art Gruf­ti-Remake von Puce Moment gedreht).

Ich hat­te zu die­ser Zeit einen gro­ßen Hun­ger nach spi­ri­tu­el­len, meta­phy­si­schen Din­gen, ein schwär­me­ri­sches Inter­es­se an Reli­gi­on, Okkul­tis­mus und Eso­te­rik, las Jung und Elia­de, Gus­tav Mey­rink und sei­nen heu­te ver­ges­se­nen Schü­ler Her­bert Frit­sche, Hes­ses Demi­an, Wal­ter Schub­arts Reli­gi­on und Eros, Rudolf Ottos Das Hei­li­ge, die herr­lich obsku­ren Aor­ta-Trak­ta­te von “Kad­mon” Ger­hard Hall­statt, Wil­liam Bla­ke und den Nietz­sche der “Dio­ny­sos-Dithryam­ben”. So war es kein Wun­der, daß ich zum fana­ti­schen Fan von ein­schlä­gig ori­en­tier­ten Bands wie Cur­rent 93, Death in June oder Coil wurde.

Ich möch­te beto­nen, daß ich dabei zu kei­nem Zeit­punkt “anti­christ­lich” oder gar “sata­nis­tisch” ein­ge­stellt war, ganz im Gegen­teil. Es war eine Art per­sön­li­cher, eigen­wil­li­ger Syn­kre­tis­mus, der sich in mir zusam­men­ge­braut hat­te. Ich fühl­te mich als das, was Colin Wil­son einen “Fähr­ten­su­cher Got­tes” nann­te, und es waren vor allem die Spu­ren der Schön­heit und des Geheim­nis­ses, “eksta­ti­sche Wahr­hei­ten”, nach denen ich suchte.

Angers Werk paß­te per­fekt zu die­sen Nei­gun­gen und Pas­sio­nen. Sei­ne spi­ri­tu­el­le Leit­fi­gur war der skan­dal­um­wit­ter­te Magi­er und Liber­tin Aleis­ter Crow­ley, er selbst beken­nen­der “Thel­emit”. Vor allem sei­ne Fil­me Inau­gu­ra­ti­on of the Plea­su­re Dome, Invo­ca­ti­on of my Demon Brot­her und Luci­fer Rising sind stark von der “Crow­leyani­ty” beein­flußt, die mich selbst nie beson­ders ange­zo­gen (eher abge­stos­sen) hat, und die ich (größ­ten­teils) für Hum­bug hal­te. Im Fal­le Angers hat sie immer­hin bemer­kens­wer­te Kunst­wer­ke inspiriert.

Am 30. und 31. Mai 1995 sah ich sämt­li­che Fil­me von Anger im Wie­ner Stadt­ki­no als Film­pro­jek­tio­nen auf der Lein­wand – also so, wie sie opti­ma­ler­wei­se gese­hen wer­den soll­ten. Der opti­sche Ein­druck war über­wäl­ti­gend, berauschend.

Anger selbst war an bei­den Aben­den anwe­send und stell­te sich Fra­gen aus dem Publi­kum. Ich hat­te einen wüs­ten, schwu­len, sado­ma­so­chis­ti­schen Sata­nis­ten in schwar­zer Leder­ja­cke erwar­tet, und war etwas scho­ckiert, statt­des­sen einen freund­li­chen Opa im Schlab­ber­woll­pul­li mit Pla­ne­ten-Moti­ven zu erle­ben (der Wolf im Schafspelz?).

Nach einer der bei­den Vor­stel­lun­gen wag­te ich mich an ihn her­an, und bat ihn, den Kata­log einer Aus­stel­lung zu signie­ren, die par­al­lel zu den Film­vor­füh­run­gen in Wien zu sehen war. Naiv, wie ich war, woll­te ich ihn fra­gen, ob er sich als “reli­giö­ser” Fil­me­ma­cher sehe, was ich für eine sehr schlaue und bedeu­tungs­vol­le Fra­ge hielt, brach­te es aber aus Schüch­tern­heit nicht über mich.

Der Film, den ich im Refu­gi­um im Thü­rin­ger Wald einem Publi­kum von etwa drei­ßig Leu­ten vor­führ­te, war Angers Opus magnum Luci­fer Rising, des­sen Ver­wirk­li­chung ein­ein­halb Jahr­zehn­te in Anspruch nahm (von 1966 bis 1980) und das den Fil­me­ma­cher mehr oder weni­ger aus­ge­laugt zurück­ließ. In den fol­gen­den vier­ein­halb Jahr­zehn­ten sei­nes Lebens soll­te er kein bedeu­ten­des Werk mehr schaf­fen. Ab und zu brach­te er belang­lo­se Kurz- und Kür­zest­fil­me (auf Video) her­aus, die nichts mehr von sei­nem frü­he­ren Genie erah­nen ließen.

Der “Luci­fer” des Films, der sich als neo-heid­ni­sche Visi­on ver­steht, ist im Sin­ne der Crow­ley-Leh­re nicht der Teu­fel der Chris­ten­tums, son­dern eine Art Licht- und Son­nen­gott eines kom­men­den “Äons”, das das “judäo­christ­li­che” Zeit­al­ter ablö­sen soll (ähn­lich dem “Age of Aqua­ri­us” der Hip­pies). Er wird im Film gleich­ge­setzt mit Horus, dem Sohn von Isis und Osi­ris, die als Per­so­ni­fi­ka­tio­nen von Leben und Tod auftauchen.

Der Groß­teil des Films wur­de in Ägyp­ten, in Gizeh, Luxor und Kar­nak gedreht, ande­re, unver­geß­li­che Sze­nen in Stone­henge und bei den Extern­stei­nen im Teu­to­bur­ger Wald. Mari­an­ne Faithfull, die zeit­wei­li­ge Gelieb­te Mick Jag­gers, taucht in einer Dop­pel­rol­le als Lilith, die “ers­te Frau Adams”, und als teil­wei­se etwas ver­stör­te wir­ken­de Initia­tin eines magi­schen Kults auf.

Vul­ka­ne, Lava­mas­sen, Wald­brän­de, Stür­me, Mee­res­wel­len, wil­de Tie­re wie Kro­ko­di­le, Ele­fan­ten, Schlan­gen und Tiger evo­zie­ren die Urkräf­te des Lebens. Magi­er in bun­ten Klei­dern beschwö­ren kos­mi­sche Energien.

Luzi­fer erscheint mit brau­nen Locken im Habi­tus eines jugend­li­chen Rock­stars, am Ende des Films tau­chen sogar oran­ge­ne UFOs als Boten des “neu­en Zeit­al­ters” auf (Sera­phim Rose und der Tra­di­tio­na­list Charles Upt­on deu­te­ten UFOs als “Dämo­nen” bzw. Dschin­nen).

Dies alles unter­legt mit der phan­tas­ti­schen, hyp­no­tisch-psy­che­de­li­schen Musik von Bob­by Beausoleil.

Wie es der Zufall will, starb kurz zuvor, am 19. Febru­ar, der Ägyp­to­lo­ge Jan Ass­mann im Alter von 85 Jah­ren. Sei­ne Gegen­über­stel­lung von jüdisch-christ­lich-isla­mi­schem Mono­the­is­mus und heid­ni­schem “Kos­mo­the­is­mus” bie­tet mei­ner Ansicht nach einen her­vor­ra­gen­den Schlüs­sel zu Angers Film, den ich als in die­sem Sin­ne “kos­mo­the­is­tisch” (und nicht als “sata­nis­tisch”) klas­si­fi­zie­ren wür­de (er hat jeden­falls gewiß mehr mit Lud­wig Kla­ges als mit Anton LaVey zu tun).

Im Tanach, der hebräi­schen Bibel, sind die Ägyp­ter die “Bösen”, die Zau­be­rer und Göt­zen­an­be­ter par excel­lence. In Luci­fer Rising sind sie die “Guten”, wie auch über­haupt in der in der Renais­sance wie­der­ent­deck­ten her­me­ti­schen Tra­di­ti­on, die, ver­mit­telt über die Frei­mau­re­rei, auch in der Zau­ber­flö­te mit ihrem ägyp­ti­schen “Set­ting” auftaucht.

Auch in der “Thelema”-Bewegung, einem wil­den Misch­masch aus okkul­ten Tra­di­tio­nen und Fabri­ka­tio­nen, spie­len ägyp­ti­sche Moti­ve als vor­christ­lich-heid­ni­sches Para­dig­ma eine ent­schei­den­de Rol­le: Crow­ley behaup­te­te, sein “Buch des Geset­zes”, eine Art “Bibel” des neu­en Zeit­al­ters, medi­um­is­tisch vor einer Ste­le im Ägyp­ti­schen Muse­um in Kai­ro emp­fan­gen zu haben.

In die­sem Zusam­men­hang ist eine sehr küh­ne The­se bemer­kens­wert, die Ass­mann etwa in Moses der Ägyp­ter dar­ge­legt hat: Kurz gefaßt wäre die jüdi­sche Reli­gi­on eine Art Inver­si­on der ägyp­ti­schen Reli­gi­on, nicht unähn­lich dem “klas­si­schen” Sata­nis­mus (nach­zu­le­sen etwa bei Huys­mans), der alles, was im Chris­ten­tum hei­lig ist, auf den Kopf stellt. Ihr Vor­bild fin­det Ass­mann im ägyp­ti­schen Häre­ti­ker Ech­na­ton, der den ägyp­ti­schen Pan­the­on durch einen Mono­the­is­mus erset­zen wollte.

All dies wären The­men für künf­ti­ge Essays. Ich selbst hal­te, wie gesagt, nichts von der “Crow­leyani­ty” und den­ke, daß zere­mo­ni­el­le Magie, sofern sie denn “funk­tio­niert”, eine eher gefähr­li­che Sache ist. Wor­an ich aber glau­be, ist die “Magie” der Kunst, die mit Licht, Far­be und Bewe­gung Kraft­fel­der erzeu­gen und die Welt “wie­der­ver­zau­bern” kann.

Zu Beginn der Ver­an­stal­tung bekam jeder Gast, der es wünsch­te, einen knall­ro­ten, von der Bar­da­me ad hoc erfun­de­nen “Luci­fer Shot”, zum Abschied einen von Tris­tan Glas­zwist ent­wor­fe­nen Pos­ter mit Signa­tur von Lichtmesz.

Nach der Film­vor­füh­rung, die sehr gut ankam, begab ich mich ans DJ-Pult und beschall­te die Gäs­te mit Neofolk‑, Postpunk‑, Dark­wa­ve- und Gothic-Musik. Getanzt wur­de enthu­si­as­tisch bis halb fünf Uhr morgens.

Am Ende die­ser Nacht fühl­te ich mich, als wäre auf magi­sche Wei­se ein Wunsch in Erfül­lung gegangen.

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Don­ners­tag, 21. Dezem­ber 2023

Letz­tes Wochen­en­de war ich zu einer klei­nen Run­de im gemüt­li­chen Jagd­pa­vil­lon des Gra­fen von P. nahe der öst­li­chen Gren­ze ein­ge­la­den. Die Stil­le, Abge­schie­den­heit und Men­schen­lee­re des Ortes stan­den in wohl­tu­en­dem Kon­trast zum Getö­se der Groß­stadt, aus der ich mit dem Zug spät­abends ange­reist war.

Die rück­wär­ti­ge Wand des Pavil­lons lehn­te sich an den dunk­len Rand eines Tan­nen­wal­des, in dem noch etwas Schnee vom gro­ßen Win­ter­ein­bruch vor zwei Wochen lie­gen­ge­blie­ben war. Die Innen­aus­stat­tung spie­gel­te den zuwei­len exzen­tri­schen Geschmack des Besit­zers wider. An der Wand hin­gen, neben den obli­ga­ten Hirsch­ge­wei­hen und Eber­köp­fen, Gemäl­de von öster­rei­chi­schen phan­tas­ti­schen Rea­lis­ten und pol­ni­schen Sur­rea­lis­ten sowie etli­che ita­lie­ni­sche Art-Deco-Drucke.

Im Bücher­stän­der däm­mer­ten, dem Ambi­en­te gemäß, anti­ke Bän­de in Gold und Braun, aber auch die gesam­mel­ten Wer­ke von Jules Ver­ne in der schö­nen (von mir per­sön­lich favo­ri­sier­ten) gel­ben Taschen­buch­aus­ga­be des Dio­ge­nes-Ver­lags aus den sieb­zi­ger Jah­ren mit den Kup­fer­sti­chen der Originalausgaben.

Auf den Rega­len stan­den neben geschmack­vol­len Skulp­tu­ren aller­lei pit­to­res­ke alchi­mis­ti­sche Appa­ra­tu­ren, Röh­ren, Phio­len, Alem­biks, Brenn­bla­sen, Mör­ser und glä­ser­ne Behäl­ter. Es war dem Gra­fen aller­dings, so teil­te er uns mit Bedau­ern mit, bis­lang noch nicht gelun­gen, “auch nur ein Stäub­chen Gold” her­zu­stel­len. Auf­ge­ge­ben hat­te er aller­dings noch nicht. Kapi­tu­la­ti­on ist nicht Teil sei­nes Charakters.

Nach einem üppi­gen Abend­essen nah­men wir Her­ren am Kamin­feu­er Platz, bedien­ten uns aus einem reich­li­chen Sor­ti­ment von Zigar­ren und Ziga­ril­los und schwenk­ten bau­chi­ge Cognac-Glä­ser. Obwohl sie Nicht­rau­che­rin­nen waren und abge­se­hen von ein, zwei Weiß­wein­sprit­zern abs­ti­nent blie­ben, gesell­ten sich zwei klu­ge, jun­ge Damen zu uns (die Gesamt­run­de war etwa zu glei­chen Tei­len mit Män­nern und Frau­en besetzt, auch ein paar Kin­der waren anwesend).

Eine der bei­den betrieb ein merk­wür­di­ges Kunst­hand­werk: Ihre Spe­zia­li­tät war die Anfer­ti­gung von Schmuck, Lam­pen, Aschen­be­chern, Gar­de­ro­ben­stän­dern und unde­fi­nier­ba­ren deko­ra­ti­ven Gegen­stän­den aus den Kno­chen aller nur erdenk­li­chen Tie­re, ins­be­son­de­re deren Schä­del. Sie hat­te es dar­in zu einer stu­pen­den Meis­ter­schaft gebracht. Man­che fan­den ihren Humor etwas makaber.

Die ande­re war nicht weni­ger eigen­wil­lig. Sie hat­te mir zuvor gestan­den, daß sie davon träu­me, sich das iko­ni­sche Kon­ter­fei eines düs­te­ren Phi­lo­so­phen der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on auf den rech­ten Ober­schen­kel täto­wie­ren zu las­sen, mit einem Schrift­zug in Frak­tur: “Oswald Speng­ler Ultras”.

Wir hat­ten schon den gan­zen Abend mit hei­te­ren und erns­ten Gesprä­chen ver­bracht, die in größ­ter Frei­heit und Offen­heit geführt wur­den, wie es heu­te nur mehr in spe­zi­el­len Refu­gi­en mög­lich ist.

Jeder ein­zel­ne Gast hat­te min­des­tens eine haar­sträu­ben­de Anek­do­te über die “Corona”-Jahre bei­zu­steu­ern, die wir alle­samt im hart­nä­cki­gen Wider­stands­mo­dus ver­bracht hat­ten. Auch ich hat­te aus die­sem Gen­re etli­ches bei­zu­steu­ern, ver­spür­te aber einen inne­ren Wider­wil­len, an die­se gera­de­zu trau­ma­ti­sche Zeit auch nur zu den­ken. Den­noch will und wer­de ich mein Leben lang nicht ver­ges­sen (und auch nicht ver­ge­ben), was damals gesche­hen ist.

Mit dem Fort­schrei­ten des Abends wur­de unse­re Stim­mung aus­ge­las­se­ner, unser Geläch­ter schal­len­der und home­ri­scher. Dann aber gelang­ten wir bei einem The­ma an, das unse­re Mie­nen schlag­ar­tig ver­fins­tern ließ und einen glü­hen­den, extre­mis­ti­schen, radi­ka­len, unver­söhn­li­chen, gren­zen­lo­sen Haß ohne Boden weckte.

Nun war der Spaß zu Ende. Sogar aus dem Ant­litz unse­res stets jovia­len Gast­ge­bers waren Iro­nie und Humor ver­schwun­den. Sei­ne Augen ver­eng­ten sich zu bedroh­li­chen Schlit­zen, Clint East­wood gleich, bevor er sei­ne Magnum zückt.

Denn nun blick­ten wir dem Unter­gang der Welt direkt ins Auge: Die Rede war auf die Ver­bre­chen der zeit­ge­nös­si­schen Archi­tek­tur gekommen.

Auf die Ver­schan­de­lung und Zer­stö­rung von Stadt- und Dorf­bild­ern. Auf den archi­tek­to­ni­schen Ver­nich­tungs­krieg gegen alles Gewach­se­ne, Orga­ni­sche und Über­lie­fer­te. Die Aus­lö­schung der in Räu­men bewahr­ten Spu­ren der Zeit, um die Gefäng­nis­se einer tyran­ni­schen, geschichts­lo­sen All-Gegen­wart zu errich­ten. Die Ver­flüs­si­gung kon­kre­ter Orte in ein unter­schieds­lo­ses Über­all und Nirgendwo.

Die schwach­sin­ni­gen, scheuß­li­chen, defor­mier­ten, stüm­per­haf­ten, teu­ren Skulp­tu­ren im öffent­li­chen Raum. Das Wuchern von bil­li­gen, schmuck­lo­sen, men­schen­un­wür­di­gen Beton­klöt­zen, deren Anblick Sui­zid­wün­sche weckt. Die meta­sta­sen­ar­tig vor­an­schrei­ten­de Boden­ver­sie­ge­lung und das ste­ti­ge Schwin­den von grü­nen und unbe­sie­del­ten Flä­chen. Gebäu­de, die vor ego­zen­tri­scher Wich­tig­tue­rei oder stumpf­sin­ni­ger Aso­zia­li­tät strot­zen, sich wie Rüpel oder stein­ge­wor­de­ner Pöbel auf Orten breit­ma­chen, an denen sie nichts ver­lo­ren haben.

Jeder ein­zel­ne Teil­neh­mer der Kamin­run­de konn­te ein Bei­spiel nen­nen, das sein ästhe­ti­sches und mora­li­sches Emp­fin­den zutiefst belei­digt hat­te. Die meis­ten Bei­spie­le, die genannt wur­den, stamm­ten nicht aus der Groß­stadt (wo der­lei ohne­hin kaum mehr wahr­ge­nom­men wird), son­dern aus der ver­meint­lich hei­len Pro­vinz, wo die archi­tek­to­ni­sche Ver­we­sung, die eine inne­re, geis­ti­ge Ver­we­sung wider­spie­gelt, beson­ders schmerz­lich sicht­bar wird.

Die einst beschau­li­che Haupt­stra­ße eines Dor­fes, in die ein form­lo­ses Ein­kaufs­cen­ter mit einem brei­ten Ein­gang gleich einem gäh­nen­den Maul hin­ein­ge­preßt und die mit vul­gä­ren, ver­schwen­de­ri­schen Beleuch­tungs­exzes­sen ver­un­stal­tet wur­de. Zusätz­lich säu­men den Geh­steig dümm­li­che, sinn­lo­se Stein­ku­geln, die in regel­mä­ßi­gen Abstän­den von­ein­an­der auf­ge­stellt wurden.

Eine Barock­kir­che, die ste­ril­sa­niert und mit Glas­tü­ren und einem schie­fen, wür­de­lo­sen Mar­mor­le­se­pult in idio­ti­scher Zick­zack­form aus­ge­stat­tet wur­de. Der Gast, der die­ses Bei­spiel nann­te, litt dar­un­ter tief: Frü­her hat­te er immer, wenn er in sei­nem Hei­mat­ort weil­te, die Kir­che zu einem stil­len Gebet besucht. Nun bräch­te er es vor Schmerz nicht mehr über sich, das Gebäu­de zu betre­ten, es käme ihm vor, es wäre ein Sakri­leg gesche­hen, das alle guten Geis­ter und mys­ti­schen Kind­heits­er­in­ne­run­gen aus­ge­trie­ben habe, allein durch die Anwe­sen­heit des miß­ra­te­nen Lese­pults, die von unbe­greif­li­cher Dumm­heit sei.

Das ältes­te Haus eines Dor­fes, stam­mend aus dem Hoch­mit­tel­al­ter, ein ein­fa­cher, aber har­mo­ni­scher und anhei­meln­der Bau mit klei­nen Spros­sen­fens­tern, einer uralten Holz­tür und schrä­gen Dächern, ange­leimt an einen eckig-zacki­gen Stahl-Glas-Wohn­haus­kas­ten mit fla­chen Dächern, gleich einem archi­tek­to­ni­schen Ken­taur, in dem das Unver­ein­ba­re gewalt­sam zusam­men­ge­zwun­gen wurde.

Ein Wirts­haus aus dem 19. Jahr­hun­dert, das über vie­le Gene­ra­tio­nen hin­weg unzäh­li­ge Hoch­zei­ten, Tau­fen, Begräb­nis­se und Geburts­tags­fei­ern gese­hen hat­te, auf­grund der Dezen­tra­li­sie­rung und Auf­lö­sung des sozia­len Lebens im Dorf nicht mehr ren­ta­bel, geschlos­sen, abge­ris­sen und ersetzt durch einen wei­te­ren ecki­gen, lieb­los hin­ge­klotz­ten Wohn­bau­kas­ten mit einem mar­kan­ten Vor­bau, der auf dicken, run­den, metal­lisch glän­zen­den Säu­len ruht. Er wur­de gera­de so hoch gebaut, daß den Ein­woh­nern der dahin­ter gele­ge­nen Häu­ser, die zum Teil über zwei­hun­dert Jah­re alt sind, der Blick auf die Kir­che aus dem Spät­ba­rock ver­sperrt wird.

Der Graf von P., ein wider­stän­di­ger Idea­list und Schön­geist am Ran­de der Selbst­schä­di­gung, gestand, daß er im nahe­lie­gen­den Ort bereits ein hal­bes Dut­zend Häu­ser auf­ge­kauft habe, nur um sie vor dem Abriß und der Erset­zung durch moder­nis­ti­sche Scheuß­lich­kei­ten zu retten.

Wel­che Art von Mensch ent­schei­det über die­se Din­ge? Ich wer­de es nie begrei­fen. Was geht in Gehir­nen vor, die es fer­tig brin­gen, sich sab­bernd däm­li­che  Mons­trö­si­tä­ten wie den unlängst in Wien prä­sen­tier­ten “WirWasser”-Brunnen, der 1,8 Mil­lio­nen Euro gekos­tet hat, aus­zu­den­ken und ihnen Bau­ge­neh­mi­gung zu ertei­len? (Wobei ein Blick in das schnit­zel­ar­ti­ge Ant­litz von Bür­ger­meis­ter Lud­wig genügt, um törich­te Fra­gen die­ser Art jäh ver­stum­men zu lassen.)

Ein Bei­spiel aus einer Groß­stadt wur­de auf­ge­bracht, das alle kann­ten und alle glei­cher­ma­ßen lei­den­schaft­lich haß­ten: Das “Kunst­haus Graz”, ein schwarz­glän­zen­des, behä­bi­ges, in “bio­mor­phen” Frei­form­kur­ven wabern­des Exkre­ment in Gebäu­de­form (soge­nann­te “Blob-Archi­tek­tur”) mit saug­na­pf­ar­ti­gen Aus­stül­pun­gen auf dem “Dach” (sie nen­nen es “Licht­ein­lass-Rüs­sel”), das 2003 mit­ten in die Alt­stadt geko­tet wur­de, wo es sich, Zitat Wiki­pe­dia, “bewusst von der baro­cken Dach­land­schaft mit ihren roten Zie­gel­dä­chern” abhe­ben soll.

Mit ande­ren Wor­ten han­delt es sich ein­ge­stan­de­ner­ma­ßen um einen gezielt bös­wil­li­gen, minus­be­seel­ten, sadis­ti­schen Akt von Van­da­lis­mus, wor­an ein Blick vom Schloß­berg hin­ab in die Alt­stadt nicht den gerings­ten Zwei­fel übrig läßt. Die­se hämi­sche opti­sche Beschmut­zung wur­de also, wie man in Öster­reich sagt, tat­säch­lich “z’Fleiß” gemacht.

Es ist auch kein Zufall, daß es eine Art “Ali­en” dar­stel­len soll. Es hat kei­ne Haf­tung auf und kei­nen Bezug zu dem Boden, auf den es gestellt wur­de; es ist aus dem Nichts des Ort- und Geschichts­lo­sen her­ab­ge­stürzt, um einen kon­kre­ten, geschicht­lich gewach­se­nen Ort zu zer­stö­ren, zu zer­set­zen, zu “dekon­stru­ie­ren”; es ist nicht gleich­gül­tig gegen­über den benach­bar­ten Gebäu­den, son­dern ver­hält sich ihnen gegen­über offen feindselig.

Innen wird natür­lich nur sub­ven­tio­nier­ter Dreck ausgestellt.

Als ich es 2013 zum ers­ten Mal mit eige­nen Augen sah, stie­gen mir Trä­nen in die Augen, wobei es mir schwer fiel, zu ent­schei­den, ob mich die Häß­lich­keit, die Dumm­heit oder die nack­te Bos­haf­tig­keit mehr erzürn­te. Das war aber letz­ten Endes egal, da die­se Din­ge flie­ßend inein­an­der über­ge­hen, und ger­ne ver­eint auf­tau­chen wie eine unhei­li­ge Dreifaltigkeit.

Der wie eine Flam­me jäh auf­glü­hen­de Haß auf das frag­li­che Objekt hat­te einen toni­schen, exal­tie­ren­den Effekt auf die Run­de. So man­ches Auge glänz­te feucht, so man­che Wan­ge röte­te sich heiß bei der freu­di­gen Vor­stel­lung, die­ses wider­wär­ti­ge Ding eines schö­nen Tages nach der meta­po­li­ti­schen Wen­de von Abriß­bir­nen, Bohr­ge­rä­ten, Spreng­stoff und Flam­men drang­sa­liert zu sehen wie den “Brain Bug” aus dem Film Star­ship Tro­o­pers, um die geschän­de­te Alt­stadt ange­mes­sen zu rächen.

Nun wärm­te uns in die­ser kal­ten Win­ter­nacht nicht nur das Feu­er im Kamin, son­dern die Glut in unse­ren Her­zen. Ja, es war genau dort, wo wir unse­ren Haß lodern fühl­ten, gera­de rich­tig und pas­send zum her­an­na­hen­den “Fest der Liebe”.

Was uns gleich zum nächs­ten Gedan­ken führ­te, dem alle ein­hel­lig zustimm­ten: Daß der Haß, mit­samt sei­nen nahen Ver­wand­ten Wut, Zorn und Ent­rüs­tung, eine völ­lig zu Unrecht ver­leum­de­te Emo­ti­on ist.

Besof­fen von unse­rem woh­lig lodern­den Haß und sei­ner mor­phi­um­ar­ti­gen Wir­kung, ver­spür­ten wir kei­ne Lust auf Nuan­cen. Als geis­tig rege und dif­fe­ren­zier­te Men­schen wären wir dazu wohl imstan­de gewesen.

Wir alle ken­nen die Bin­sen­weis­hei­ten, daß Haß “häß­lich macht”, daß Haß “blind macht” (das­sel­be sagt man von der Lie­be), daß es unge­sund ist, aus sei­nem Her­zen eine Mör­der­gru­be zu machen und daß es reich­lich nie­de­ren Haß aus nie­de­ren Moti­ven gibt. “Tief ist der Haß, der in den nie­de­ren Her­zen dem Schö­nen gegen­über brennt”, heißt es in Jün­gers Mar­mor­klip­pen, und die­se Art von Haß ist es wohl auch, der in etli­chen archi­tek­to­ni­schen Schand­ta­ten gewü­tet hat.

Der Haß, den wir nun fühl­ten, erleb­ten wir als vom Herr­gott gege­be­ne und gewoll­te, gesun­de, “thy­mo­ti­sche” Abwehr­re­ak­ti­on ange­sichts des Bösen, Nied­ri­gen und Gemeinen.

“Haß” gilt heu­te als Nied­rig­sta­tus­emo­ti­on. Sie ist das Kenn­zei­chen der Unge­wa­sche­nen, Unge­bil­de­ten und Unauf­ge­klär­ten, der “deplo­rables”, “Abge­häng­te”, “Wut­bür­ger”, Social-Media-Trol­le und Rechts­par­tei­en­wäh­ler, die alle­samt ein­fach so, ohne wirk­li­chen Grund, frei fluk­tu­ie­rend vor sich hin has­sen, weil sie nichts bes­se­res zu tun haben. Wer hin­ge­gen zur geho­be­ne­ren Klas­se der “Welt­of­fe­nen” gehö­ren und Anschluß an die “Eli­ten” haben will, muß so tun, als ob er kei­nen Haß ken­ne und vor dis­kri­mi­nie­rungs­frei­er Men­schen­lie­be aus allen Näh­ten platze.

2017 schrie­ben Licht­mesz & Som­mer­feld:

Alles, was über »Angst« und »Pho­bie« gesagt wur­de, gilt auch für den »Haß«. Auch hier­bei han­delt es sich um ein durch Ent­dif­fe­ren­zie­rung gewon­ne­nes Logo-Toxin, das zur poli­ti­schen Schäd­lings­be­kämp­fung ein­ge­setzt wird. »Haß« gehört in die­sem Zusam­men­hang vor allem in das Gen­re des poli­ti­schen Kitsches.(…)

Wer die Poli­tik der Lin­ken, Glo­ba­lis­ten und Mul­ti­kul­tu­ra­lis­ten kri­ti­siert, ist ein »Has­ser« und »Het­zer«, der sich in einem fins­te­ren natio­na­lis­ti­schen Kel­ler­as­sel­loch »abschot­ten« will. »Haß« ist sozu­sa­gen deren Meis­ter-Frame, mit dem sie jede Form der Abgren­zung, Unter­schei­dung und »Dis­kri­mi­nie­rung« brand­mar­ken.(…) »Haß« und »Het­ze« sind Wör­ter, die auch pho­ne­tisch schön zischen und fau­chen. Das Wort »Haß« selbst erweckt nega­ti­ve Emo­tio­nen. Wen man des »Has­ses« beschul­digt, den will man auch »häß­lich, so gräß­lich häß­lich« (frei nach dem alten Hit von DÖF) machen.

Wir leg­ten noch eins drauf, und for­mu­lier­ten eine Ehren­ret­tung des Hasses:

Sei­ne lau­fen­de Ver­leum­dung basiert nicht nur auf einer fal­schen Anthro­po­lo­gie, die ihre Ver­tre­ter zur Lüge und Heu­che­lei zwingt, sie ver­fälscht auch die Ethik und das Wesen der Lie­be. Faßt man mit dem Ver­hal­tens­for­scher Ire­nä­us Eibl-Eibes­feldt den Haß als eine Form des Aggres­si­ons­trie­bes auf, so hat er grund­sätz­lich eine posi­ti­ve, lebens­er­hal­ten­de, nütz­li­che Funktion.

Er hängt eng mit der Lie­be zusam­men. Wir alle sind berech­tigt, zu has­sen, was unser Leben, das unse­rer Fami­li­en und alle Din­ge und Men­schen, die wir lie­ben, schä­di­gen, ver­nich­ten und zer­stö­ren will. (…) Zwei­fel­los emp­fiehlt es sich, ihn im Zaum zu hal­ten, aber ihn pau­schal zu ver­dam­men, ist unsin­nig. Haß ist eine natür­li­che Reak­ti­on auf belas­ten­de, quä­len­de, bedroh­li­che Din­ge, und in den meis­ten Fäl­len ver­geht er rasch wie­der, wenn die Ursa­che besei­tigt ist.

Wir zitier­ten Tho­mas von Aquin:

»Wird also nur das Böse, das Übel, geh­aßt, so folgt, daß jeder Haß Lob ver­dient.« Haß sei »das Wider­stre­ben gegen das als ver­derb­lich und schädigend Auf­ge­faß­te.« (Sum­ma theo­lo­gi­ca, Quaes­tio 29, 1. Hälf­te des 2. Teils) 

Mein Rede­bei­trag zu die­sem The­ma war im Gro­ßen und Gan­zen eine Zusam­men­fas­sung die­ses Abschnitts aus unse­rem Best­sel­ler aus tur­bu­len­te­ren Zeiten. 

“Haß ist mit­hin nicht selbst ‘das Böse’, son­dern er rich­tet sich auf das Böse”, fuhr ich fort. “Er kann aber böse wer­den, wenn etwa dieses Böse kein Böses ist oder wenn er das richtige Maß ver­liert. Ich jeden­falls hal­te es grund­sätz­lich mit Boyd Rice, ‘My hate is like love to me.’ ”

“Es ist doch ganz ein­fach”, sag­te nun die sonst eher schweig­sa­me Speng­le­ria­ne­rin, die das Gra­zer “Fri­end­ly Ali­en”, das sie von innen wie von außen aus eige­ner Anschau­ung kann­te, mit beson­de­rer Ins­brunst haß­te. “Haß auf das Häß­li­che ist Lie­be zum Schönen.”

Sie hat­te voll­kom­men recht, wes­halb ich hof­fe, daß sie nur gescherzt hat, als sie über ihre Täto­wie­rungs­ab­sich­ten sprach.

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Frei­tag, 1. Dezem­ber 2024

Nach zwei Jah­ren ist Gil Ofa­rims Lügen­fas­sa­de end­lich zusam­men­ge­bro­chen. Er hat gestan­den, daß er die “anti­se­mi­ti­schen” Über­grif­fe des Per­so­nals des Grand-Westin-Hotels in Leip­zig frei erfun­den hat.

Ange­sichts sei­ner von Anfang gerin­gen Glaub­wür­dig­keit wun­dert es mich ein wenig, daß er über­haupt so lan­ge durch­ge­hal­ten hat. Oder daß er ernst­haft dach­te, daß er damit auf Dau­er durch­kom­men wird. Das hat wohl mit sei­ner offen­sicht­lich nar­ziß­ti­schen Cha­rak­ter­dis­po­si­ti­on zu tun, die in sei­ner Berufs­spar­te weit ver­brei­tet ist.

Ich selbst habe ihm das thea­tra­li­sche Geheu­le kei­ne Sekun­de abge­kauft. Es war mir von Anfang an klar, daß wir es hier mit einem “Fall” von Opfer­rol­len­spiel zu tun haben, das ich Ende Okto­ber 2021 in einem Arti­kel ana­ly­siert habe. Ofa­rims Ein­trag auf Insta­gram vom 5. Okto­ber (inzwi­schen gelöscht) war gro­ßes Melodrama:

… ANTISEMITISMUS in Deutsch­land 2021 !..
… ges­tern in Leipzig…
… war­um?.. haben wir denn nichts nichts aus der ver­gan­gen­heit gelernt?..bin sprach­los!.. es ist nicht das ers­te mal, aber irgend­wann reicht es …

Nicht nur das Hotel­per­so­nal saß auf der Ankla­ge­bank, son­dern GANZ DEUTSCHLAND, die “Mit­te der Gesellschaft”!

Man darf die­sen Vor­fall nicht iso­liert betrach­ten. Ofa­rim hat die Trumpf­kar­te der herr­schen­den Opfer­hier­ar­chien aus­ge­spielt, den “Anti­se­mi­tis­mus”. Die­ser ist so etwas wie die Ur-Blau­pau­se aller ande­ren gän­gi­gen ‑pho­bien und ‑ismen, inso­fern er auf einem ange­nom­me­nen abso­lu­ten Opfer­sta­tus per Zuge­hö­rig­keit zu einem Kol­lek­tiv beruht, der Unan­tast­bar­keit garan­tie­ren und Pri­vi­le­gi­en ermög­li­chen soll.

Mit dem “Antisemitismus”-Vorwurf kann man auch noch semi-gerot­pill­te “Kon­ser­va­ti­ve” täu­schen, die zwar durch­schaut haben, was für einen poli­ti­schen Zweck Schlag­wor­te wie “Ras­sis­mus, Homo­pho­bie, Sexis­mus” haben, sich jedoch ängst­lich vor der Erkennt­nis ver­schlie­ßen, daß “Anti­se­mi­tis­mus” in ein- und das­sel­be Gen­re gehört. Die­se Furcht ist vor allem bei der “Boomer”-Generation ein­ge­fleischt und hat wohl vor­ran­gig mit gewis­sen his­to­risch beding­ten Kon­di­tio­nie­run­gen zu tun.

Einer, der damals auf Ofa­rim rein­ge­fal­len ist, war Alex­an­der Wal­l­asch in einem Gast­bei­trag für Boris Reit­schus­ter. Er schrieb damals:

Der Musi­ker Gil Ofa­rim sagt, er sei in einem Hotel in Leip­zig ver­bal anti­se­mi­tisch ange­grif­fen wor­den. Und er sagt es offen und geht damit an die Medi­en – gut so! Wer Ofa­rim hier reflex­ar­tig Wer­bung in eige­ner Sache unter­stellt, des­sen Geschichts­be­wusst­sein ist eben­so nur rudi­men­tär, wie hier jed­we­de Empa­thie beer­digt wur­de: Ja, Jude sein in Deutsch­land ist für Nicht­ju­den schwer vor­stell­bar, aber es gibt genug Berich­te, die sehr anschau­lich machen, was das noch heu­te bedeu­ten kann.

Ich kom­men­tier­te dies so:

Na ja: Vor allem bedeu­tet es, daß man als eine Art höhe­res Lebe­we­sen wahr­ge­nom­men wird, des­sen Kla­gen, Mei­nun­gen und Wün­sche ganz beson­de­re Auf­merk­sam­keit und Hoch­ach­tung ver­dient haben. Da ist es dann auch schon völ­lig wurscht, ob Ofa­rim gelo­gen, Ein­zel­per­so­nen und ein gan­zes Land ver­leum­det oder ein Thea­ter in eige­ner Sache insze­niert hat – von wegen “Geschichts­be­wußt­sein”, “Empa­thie” usw. muß er mit ande­ren Maß­stä­ben gemes­sen wer­den als nor­mal­sterb­li­che Menschen.

Ofa­rims Pas­si­ons­ge­schich­te mach­te aus dem ein­zi­gen Grund Schlag­zei­len, weil er in Deutsch­land als Ange­hö­ri­ger der Alpha-Opfer­grup­pe sicher sein kann, maxi­ma­le Auf­merk­sam­keits­re­fle­xe zu trig­gern. Da er kein Polit-Akti­vist ist und berufs­mä­ßig im Ram­pen­licht steht, kann man hier getrost von eher bana­len Moti­ven ausgehen.

Ofa­rim muß nun 10,000 Euro Buß­geld zah­len – nicht an die Nicht­ju­den, die er vor­sätz­lich ver­leum­det hat, son­dern an die Israe­li­ti­sche Reli­gi­ons­ge­mein­de zu Leip­zig und den Trä­ger­ver­ein des Hau­ses der Wann­see­kon­fe­renz. Damit wur­de das Signal gesetzt, daß er mit sei­nen Lügen vor allem der Sache der Juden gescha­det hat und dafür bestraft wer­den muß.

In die­sem Sin­ne äußer­te sich auch der Zen­tral­rat der Juden:

Zwei Jah­re lang hat #GilO­fa­rim Mit­ar­bei­ter eines Leip­zi­ger Hotels des Anti­se­mi­tis­mus beschul­digt. Nun hat er gestan­den, dass er gelo­gen hat. Damit hat Gil Ofa­rim all denen, die tat­säch­lich von Anti­se­mi­tis­mus betrof­fen sind, gro­ßen Scha­den zuge­fügt. Neben der Öffent­lich­keit hat er auch die jüdi­sche Gemein­schaft belo­gen. Wir haben in unse­rer Gesell­schaft ein Anti­se­mi­tis­mus-Pro­blem, vie­le sind gera­de in der jet­zi­gen auf­ge­heiz­ten gesell­schaft­li­chen Situa­ti­on ver­un­si­chert und erle­ben Juden­hass und Ablehnung.

Auch hier: Kein Wort des Bedau­erns über den Scha­den, der den Nicht­ju­den, den Mit­ar­bei­tern des Hotels zuge­fügt wur­de. Auch dies eine Opfer­hier­ar­chie, auch dies eine Art von nar­ziß­ti­scher Selbstbezogenheit.

Ich bestrei­te natür­lich auch das Mär­chen, “wir” hät­ten “in unse­rer Gesell­schaft ein Anti­se­mi­tis­mus-Pro­blem”. Wenn über­haupt, dann hat “unse­re Gesell­schaft” ein Pro­blem mit dem “impor­tier­ten” Anti­se­mi­tis­mus nah­öst­li­cher Ein­wan­de­rer, der pri­mär von der Gewalt­po­li­tik Isra­els und der USA im Nahen Osten ver­ur­sacht wird (und nicht von Koran-Lek­tü­re, wie man­che “Islam­kri­ti­ker” behaup­ten). Die­sen Import zu för­dern und sei­ne Fol­gen (auch und vor allem für Nicht­ju­den) zu beschwich­ti­gen, hat der ZdJ kräf­tig bei­getra­gen. Er beschwert sich hier also über Pro­ble­me, die er sel­ber mit­ver­ant­wor­tet hat.

Nicht unpas­send zu den Nach­rich­ten über Ofa­rim hat mich Frau Ronai Cha­ker-Sichert, ihrer­seits eine recht unge­nier­te Spie­le­rin inter­sek­tio­na­ler Opfer­kar­ten, (mal wie­der) auf Twit­ter verleumdet:

Licht­mesz ist für mich im übri­gen ein lupen­rei­ner Anti­se­mit, denn er hat sich in einer Dis­kus­si­on mit mir, vor Jah­ren schon hin­ter die Hamas gestellt und deren Vor­ge­hen befürwortet.

Das ist natür­lich eine lupen­rei­ne Lüge ohne jeg­li­chen Beweis (Ofa­rim läßt grü­ßen). Viel­leicht auch eine, die sie sel­ber glaubt, denn in frü­he­ren Twit­ter-Inter­ak­tio­nen mit ihr habe ich die Erfah­rung gemacht, daß sie äußerst talen­tiert ist, ein Argu­ment bös­wil­lig miß­zu­ver­ste­hen oder zu ver­dre­hen. Außer­halb von Schwarz-Weiß-Kate­go­rien zu den­ken, scheint ihr nicht mög­lich zu sein.

Über “Schnell­ro­da” (oder bes­ser gesagt: was sie dafür hält und aus­gibt bzw. in eige­ner Sache aus­ge­ben muß), schrieb sie, eben­falls ver­leum­de­risch und kraß verzerrend:

Der Kon­flikt zwi­schen Schnell­ro­da herrscht schon lan­ge. Ihnen geht es um Bio­lo­gie, Haut­far­ben, eth­ni­sche Rein­heit, Kol­lek­ti­vis­mus, Aus­gren­zung und Ent­rech­tung von nicht Auto­chtho­nen. Was für mich zählt, ist: Die Frei­heit vor tota­li­tä­ren Ideologien!

Hier­zu ver­link­te sie einen Bei­trag, den sie im Juni 2019 auf fischundfleisch.com ver­öf­fent­licht hat, zum The­ma “Licht­mesz wie auch Kubit­schek”. Dar­in hat sie einen Text von mir aus dem Jahr 2010 (!) sinn­ent­stel­lend zitiert, wor­auf ich sie in den Kom­men­tar­spal­ten auf­merk­sam gemacht habe, natür­lich ohne irgend­ei­ne Wir­kung zu erzielen.

Die­ses “Sam­ple” soll­te aus­rei­chen, um zu demons­trie­ren, mit wel­chen Mit­tel Cha­ker vor­zu­ge­hen pflegt. Es ist cha­rak­te­ris­tisch, daß sie auf mei­nen letz­ten Tage­buch­ein­trag, in dem ich die Cho­se Utlu bespro­chen und ihr Ver­hal­ten inner­halb der AfD kri­ti­siert habe, erneut nur mit Lügen, Denun­zia­tio­nen und maxi­ma­len Anschwär­zun­gen reagie­ren kann. Und dies, obwohl ich und ande­re ver­sucht haben, ihr gegen­über gerecht zu blei­ben, dies, obwohl es von “Schnell­ro­da” aus Ange­bo­te zu klä­ren­den Gesprä­chen gab.

Es gibt Men­schen, denen Wahr­heit, Red­lich­keit und Fair Play völ­lig egal sind. Lei­der kom­men sie häu­fig damit durch, wäh­rend Bauch­lan­dun­gen à la Gil Ofa­rim eher die Aus­nah­me sind.

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Mon­tag, 27. Novem­ber 2023

Nun habe ich also auch eine Tage­buch-Kolum­ne. Der Titel ist einem Vers aus der Apos­tel­ge­schich­te ent­nom­men, der mir viel bedeu­tet. Ich habe ihn mei­nem Buch Kann nur ein Gott uns ret­ten? vorangestellt.

Ursprüng­lich auf ihn gesto­ßen bin ich nicht im Zuge einer Bibel­lek­tü­re, son­dern in einer Epi­so­de des acht­tei­li­gen Video-Essays Histoire(s) du ciné­ma von Jean-Luc Godard: “Ne te fais pas de mal, car nous som­mes tous enco­re ici.”

Die Ton­spur ver­bin­det den Vers mit der berühm­ten Pas­sa­ge von Mar­tin Heid­eg­ger über den “Fehl Got­tes” aus den Holz­we­gen, gele­sen in fran­zö­si­scher Über­set­zung von der Schau­spie­le­rin Maria Casarès.

Godard hat ihn frei­lich, eben­so wie ich, ein wenig aus dem Kon­text gerissen.

In der Apos­tel­ge­schich­te wer­den Pau­lus und sein Beglei­ter Silas in Phil­ip­pi gefan­gen­ge­nom­men, nach­dem bei­na­he ein wüten­der Mob über sie her­ge­fal­len wäre. Dann ereig­net sich fol­gen­de merk­wür­di­ge Geschichte:

Gegen Mit­ter­nacht bete­ten Pau­lus und Silas; sie prie­sen Gott mit Lob­lie­dern, und die Mit­ge­fan­ge­nen hör­ten ihnen zu. Plötz­lich beb­te die Erde so hef­tig, daß das Gebäu­de bis in sei­ne Grund­mau­ern erschüt­tert wur­de. Im sel­ben Augen­blick spran­gen sämt­li­che Türen auf, und die Ket­ten aller Gefan­ge­nen fie­len zu Boden. Der Auf­se­her fuhr aus dem Schlaf hoch, und als er die Türen des Gefäng­nis­ses offen ste­hen sah, zog er sein Schwert und woll­te sich töten, denn er dach­te, die Gefan­ge­nen sei­en geflo­hen. Doch Pau­lus rief, so laut er konn­te: »Tu dir nichts an! Wir sind alle noch hier!« 

Die meis­ten älte­ren Über­set­zun­gen las­sen das “noch” aus; ich den­ke, es drängt sich unwei­ger­lich auf und zwi­schen die Wor­te hinein.

Pau­lus ver­hin­dert hier einen Selbst­mord. Zwei Selbst­mör­der aus “spi­ri­tu­el­len Grün­den” spie­len in mei­nem Buch eine gro­ße Rol­le: Domi­ni­que Ven­ner und ein fik­ti­ver jun­ger Mann aus dem Film Le dia­ble pro­ba­blem­ent von Robert Bres­son. Ein drit­ter Prot­ago­nist mei­nes Buches, Leo Tol­stoi, war nahe dar­an, sich den Kopf mit einer Jagd­flin­te weg­zu­schie­ßen, ehe er sei­ne Ret­tung im Glau­ben fand.

Die­ses Zitat hat für mich also ein “mys­ti­sches” Echo. Es legt eine Spur zum Ret­ten­den, oder wenigs­tens zum bloß Tröst­li­chen, den Daseins­schmerz Mil­dern­den, erträg­lich Machen­den. Es kann auf jedes Ding und jedes Lebe­we­sen (ich den­ke auch an Tie­re, Pflan­zen, Bäu­me) auf der Welt ver­wei­sen, das “noch hier” ist und eine Bedeu­tung für uns hat, auch wenn wir wis­sen, daß es eines Tages nicht mehr “hier” sein wird (wie wir selbst auch).

Das gilt eben­so für Men­schen wie auch für Schöp­fun­gen, die die kurz bemes­se­ne mensch­li­che Lebens­zeit über­dau­ern und ihren Schöp­fern eine Art der Unsterb­lich­keit ver­lei­hen sol­len: Auch die Pyra­mi­den von Gizeh, die Kathe­dra­le von Char­tres, die Dich­tun­gen von Dan­te und Shake­speare, die Kom­po­si­tio­nen von Bach und Mozart wer­den eines Tages ver­schwun­den sein. Die Kunst ist sterb­lich und die Küns­te sind sterb­lich, befand Oswald Spengler.

Irgend­et­was, irgend­je­mand ver­schwin­det immer, aber es ist auch immer irgend­et­was, irgend­je­mand “noch” hier. Ich bin noch hier, du bist noch hier, und solan­ge wir hier sind, ist es gut.

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Jubel und Scha­den­freu­de herrscht in der AfD-feind­li­chen Pres­se. Hier ein paar aus dem Netz gefisch­te Schlagzeilen:

Ein Ali will in AfD ein­tre­ten – Rech­te ticken prompt aus: „Gehört abge­scho­ben“ (Der Wes­ten)… Ein Mann namens Ali tritt der AfD bei – Par­tei zer­fällt in zwei Lager (Focus)… Quee­rer Deutsch-Tür­ke will in die AfD (Stutt­gar­ter Nachrichten)…

Ein Autor der Welt zeigt sich ein biß­chen schlau­er und spricht gar von einer “all­mäh­li­chen Isla­mi­sie­rung der AfD”:

Tei­le der AfD haben Mus­li­me und Erdo­ga­nis­ten als Wäh­ler ent­deckt. Nun mutie­ren sie zu deutsch­na­tio­na­len „Islam­kusch­lern“, wie kri­ti­sche Par­tei­freun­de kla­gen – und haben Skru­pel, den Islam­kri­ti­ker Ali Utlu aufzunehmen.

Mehr als die­sen “Teaser” habe ich nicht gele­sen, da ich kei­ne Lust habe, die Bezahl­schran­ke zu über­que­ren. Eine auf­rich­ti­ge oder gar “kon­struk­ti­ve” Aus­ein­an­der­set­zung ist ohne­hin in Pos­ch­ardts Tor­wäch­ter-Blatt nicht zu erwarten.

Die Fra­ge, ob “Erdo­gan nicht unser Feind” ist (Maxi­mil­li­an Krah) oder ob das “Feind­bild Islam” eine “Sack­gas­se” ist (Fre­de­ric Höfer) las­se ich an die­ser Stel­le außen vor. Ich wer­de die­ses Faß dem­nächst auf­ma­chen, und einen kri­ti­schen Rück­blick auf die soge­nann­te “Islam­kri­tik” schrei­ben, der schon lan­ge in mir gärt.

Unsinn ist natür­lich, daß Rech­te jetzt “aus­flip­pen”, nur weil einer “Ali” heißt. Utlu ist bei­lei­be nicht der ers­te Mensch mit “Mihi­gru” und ver­gleichs­wei­se “exo­ti­schem” Namen, der in der AfD mit­mischt, und ganz gewiß nicht der ers­te Schwu­le. Es wird hier ein­fach ver­sucht, das Kli­schee­bild vom Rech­ten als xeno­pho­ben Hys­te­ri­ker im Umlauf zu bringen.

Die Pro­ble­me mit Utlu sind viel grund­sätz­li­che­rer Natur. Ich habe sein Trei­ben auf Twit­ter (den bescheu­er­ten Namens­wech­sel “X” igno­rie­re ich) frü­her ver­folgt, beson­ders in der Zeit von 2017–18, in der er mir inso­fern inter­es­sant erschien, als er eine von vie­len “Kipp­fi­gu­ren” war, die Indi­ka­to­ren für einen Wan­del des Zeit­geis­tes zu sein schienen.

Alle Welt ist in die­sen Jah­ren “nach rechts gerückt”, sogar etli­che “Que­e­re” und “Trans­se­xu­el­le”, die die Nase voll hat­ten von “Sprech­ver­bo­ten” und woker Inqui­si­ti­on. Das war natür­lich auch für unse­re Sache hilf­reich: Pro­ble­me, die lager­über­grei­fend kon­sta­tiert wer­den, bekom­men grö­ße­res objek­ti­ves Gewicht.

Utlu hat jedoch nie­mals irgend­et­was pro­du­ziert, was einen ana­ly­ti­schen Wert hat oder in irgend einer Wei­se dazu bei­tra­gen könn­te, posi­ti­ve Ver­än­de­run­gen anzu­stos­sen. Statt­des­sen hat er sich stän­dig von der AfD “distan­ziert”, das Stück vom “Mann in der libe­ra­len Mit­te”, den “Rech­te und Lin­ke glei­cher­ma­ßen has­sen” gespielt und dabei halb Twit­ter geblockt.

Man begreift rasch, daß man es mit einer ego­zen­tri­schen Per­son zu tun hat, die süch­tig nach Auf­merk­sam­keit, Pro­fi­lie­rung und Pro­vo­ka­ti­on ist, und irgend­wann gemerkt hat, daß es viel mehr Spaß macht, die (eige­ne) lin­ke als die rech­te Kli­en­tel zu ärgern. Sein The­ma war immer nur er selbst, als “Schwu­ler”, “Tür­ke”, “Ex-Mus­lim” und “Ich als schwu­ler Ex-Mus­lim”. Sei­ne Selbst­ge­fäl­lig­keit zeigt sich deut­lich in einem ange­hef­te­ten Tweet aus sei­ner Seite:

Wer hät­te jemals gedacht, dass aus­ge­rech­net ein schwu­ler Tür­ke der größ­te Alp­traum und das Hass­ob­jekt von anti­ras­sis­ti­schen und que­er­freund­li­chen Lin­ken sein würde. 

Hier bin ich.

Sei­ne Ankün­di­gung, der AfD bei­zu­tre­ten (das wäre nun sein fünf­ter oder sechs­ter Par­tei­wech­sel, wenn ich das recht ver­stan­den habe) ist nur ein wei­te­rer Stunt in der end­lo­sen Ali-Utli-Per­sön­lich­keits-Show. Bezeich­nend ist auch die­se Reak­ti­on auf eine nega­ti­ve Rückmeldung:

Und genau des­we­gen bin ich rich­tig in die­ser Par­tei. Um die­je­ni­gen zu trig­gern, die mit die­ser Ein­stel­lung dafür sor­gen, dass wei­te Tei­le der Bevöl­ke­rung die Par­tei für unwähl­bar hal­ten. Gewöh­ne dich dar­an, das A in AfD steht auch für Ali.

Was Bes­se­res als Gegen­wind von rechts konn­te ihm kaum pas­sie­ren, um sich nun wie­der selbst in den Mit­tel­punkt zu stel­len und zum The­ma zu machen. Als “Top 5 Grün­de, war­um man mich nicht der AfD haben will”, nann­te er:

1. Islam­kri­tik 2. Homo­se­xu­ell 3. Tür­ki­sches und nicht deut­sches Blut 4. Nicht rechts(extrem) genug 5. Ich existiere 

Quo vadis AfD?

Momen­tan sieht es danach aus, als ob er gleich die Pha­se der Par­tei­mit­glied­schaft über­sprin­gen und direkt zur Rol­le als “Aus­stei­ger” und Feind­zeu­ge über­ge­hen will:

Ja, ihr könnt nun wochen­lang über mich lachen, das inter­es­siert mich nicht, aber ihr soll­tet aner­ken­nen, dass ich mit mei­ner Akti­on gro­ße Tei­le demas­kiert habe. Das Man­tra, die AfD sei im gro­ßen & gan­zen freund­lich zu Migran­ten, ist nicht halt­bar. Das Glei­che gilt für mei­ne Homo­se­xua­li­tät, die immer wie­der The­ma ist. (…) Ich wer­de hun­der­te Screen­shots sam­meln und die­se auf einer Web­site ver­öf­fent­li­chen, damit sich kei­ner mehr her­aus­re­den kann. Was in 2 Wochen zusam­men­kam, glaubt sonst kei­ner, vor allem die von gro­ßen Accounts, bevor wie­der behaup­tet wird, es wären nur Trol­le, die der AfD scha­den wol­len. Ich weiß, dass es vie­le Mit­glie­der gibt, die weder homo­phob noch ras­sis­tisch sind. Wer­det laut, auf Par­tei­ta­gen und Par­tei­tref­fen, schreibt unter sol­che Kom­men­ta­re eure Mei­nung dazu. Über­lasst die­sen Men­schen nicht eure Par­tei. Und nein, ich spie­le hier kei­ne Opfer­rol­le, ich zei­ge nur den Hass auf. Es ist nichts, was ich nicht schon durch ande­re Grup­pen seit Jah­ren abbekomme.

Sekun­diert wur­de Utlu von der “Deutsch-Jesi­din” (oder nun “Ezi­din”) Ronai Cha­ker, die cha­rak­ter­lich ähn­lich gela­gert ist. Auch ihr Pro­gramm für die Öffent­lich­keit ist in ers­ter Linie sie selbst und ihre eth­ni­sche Iden­ti­tät. Ihre Lieb­lings­rol­le ist die der von gerech­tem Zorn erfüll­ten, uner­schro­cke­nen Kämp­fe­rin mit dem hei­ßen Her­zen, die von Isla­mis­ten und “Extre­mis­ten” geh­aßt wird und sich nie­mals unter­krie­gen läßt.

Trotz ihrer häu­fi­gen, eher tak­tisch anmu­ten­den Beteue­run­gen, daß sie eben­so “deutsch” sei wie alle ande­ren Hän­se und Gre­tels, schlägt ihr Herz offen­sicht­lich vor­ran­gig für ihren eige­nen Stamm, für den sie als eine Art Lob­by­is­tin tätig ist. Auch ihren Ehe­mann Mar­tin Sichert hat sie für die­se pri­mä­re Auf­ga­be mobi­li­siert, die er eben­so artig wie emsig erfüllt, wofür er dann auch von sei­ner Frau öffent­lich mit Herz­chen-Pos­tings belohnt wird (immer­hin hat sie mit einer wich­ti­gen Tra­di­ti­on ihres Vol­kes gebro­chen, dem Gebot der Endo­ga­mie).

Sie behaup­tet, ihr Enga­ge­ment für Ezi­den die­ne auch “deut­schen Inter­es­sen”, weil:

1. Sie sind wirk­lich ver­folgt! 2. Sie arbei­ten mehr­heit­lich und zah­len ihre Steu­ern. Selbst ihre Arbeit­ge­ber set­zen sich ein.

Das ist ziem­lich mager. Grund eins hat nichts mit “deut­schen Inter­es­sen” zu tun, und bei Grund zwei müß­te man bissl tie­fer boh­ren, ob migran­ti­sche Steu­er­zah­ler an und für sich schon “deut­schen Inter­es­sen” dienen.

Man kann ihr aus rech­ter Sicht schlecht vor­wer­fen, sich für die Inter­es­sen ihrer eige­nen Volks­grup­pe ein­zu­set­zen. Ich den­ke, daß dies auch im Rah­men der AfD prin­zi­pi­ell mög­lich und legi­tim wäre. Es wird kon­tra­pro­duk­tiv, wenn dar­über die Prio­ri­tä­ten die­ser Par­tei ver­ges­sen werden.

Und es wird destruk­tiv, wenn man wie Cha­ker unun­ter­bro­chen Leu­te im eige­nen Spek­trum als “völ­ki­sche Ras­sis­ten” beschimpft, wenn die­se sie dar­an erin­nern, daß die AfD vor­ran­gig dem deut­schen Volk die­nen sol­len (auf­ge­faßt als eth­no­kul­tu­rel­le Abstam­mungs­ge­mein­schaft, und kein Sam­mel­su­ri­um von Paßinhabern.)

Ich pflich­te Mar­vin Neu­mann bei:

Man kann und muss als deut­sche Rechts­par­tei in der Gegen­wart frei­lich die eth­no­par­ti­ku­la­ren Inter­es­sen ver­schie­de­ner Völ­ker berück­sich­ti­gen und kann sich (stra­te­gisch) auch in einem bestimm­ten Rah­men für die­se ein­set­zen. Nicht aber, wenn dies mit anti­deut­schen Nar­ra­ti­ven gerahmt wird, die eine gleich­wer­ti­ge Poli­tik im (eth­no­kul­tu­rel­len) Inter­es­se der Deut­schen delegitimiert. 

Frau Cha­kers Ein­satz für ihr Volk ist ehr­wür­dig. Dass sie dies aber aus­ge­rech­net in der letz­ten deut­schen Rechts­par­tei von Hoff­nung betrei­ben und den Deut­schen dabei mit den typi­schen Angrif­fen (Ras­sis­mus­keu­le, eth­nisch-deut­sche Inter­es­sen sei­en unmo­ra­lisch und aus­gren­zend etc.) das­sel­be ver­weh­ren möch­te, ist nicht akzep­ta­bel. Daher der Gegenwind.

Das ist eine fai­re Hal­tung, die die Bereit­schaft zeigt, auch den Inter­es­sen von Men­schen wie Cha­ker entgegenzukommen.

Cha­kers Pro­blem ist wie bei Utlu vor allem cha­rak­ter­li­cher Natur: Sie wirft stän­dig mit blind­wü­ti­gen Anfein­dun­gen um sich, ist nicht imstan­de, auch kon­struk­ti­ve Gesprächs­an­ge­bo­te anzu­neh­men, und “fischt” aktiv nach Wut­pos­tings, um sich anschlie­ßend als unschul­di­ges Opfer von Anfein­dun­gen zu prä­sen­tie­ren, denen sie dann “mutig” trotzt wie eine ori­en­ta­li­sche Jean­ne d’Arc. Sie kommt dabei nie aus dem pole­mi­schen Modus her­aus, der alle Din­ge schwarz-weiß malt (weiß sich selbst, schwarz die ande­ren), und ent­spre­chen­den Zorn zieht sie  auch auf sich (was wie­der­um ihre Müh­len wässert).

Gewiß ist hier auch eine tie­fe­re Pro­ble­ma­tik im Spiel, die über per­sön­li­che Cha­rak­ter­schwä­chen hinausgeht.

Cha­kers Ide­al ist ein Poli­ti­ker wie Geert Wilders:

Jüdi­sche Frau, Mut­ter aus Indo­ne­si­en, bes­te Freun­din Ex Mus­li­ma Ayan Hir­si, die Opfer von Zwangs­be­schnei­dung wur­de. Ein Mann der für Frei­heit, Wer­te, Kul­tur und gegen Faschis­mus steht. Davon kön­nen sich vie­le angeb­li­chen “Patrio­ten” in Deutsch­land eine Schei­be abschneiden.

Es ist eben so: Men­schen, die selbst eine hybri­de eth­no­kul­tu­rel­le Iden­ti­tät haben, füh­len sich in der Regel woh­ler in einer Gesell­schaft, die eben­falls eth­no­kul­tu­rell mög­lichst hybri­de ist. Das ist psy­cho­lo­gisch und mensch­lich nach­voll­zieh­bar, eben­so, daß sie sich auch Poli­ti­ker wün­schen, die die­ses Hybri­de (also sie selbst) reprä­sen­tie­ren. Aber was ist mit den Inter­es­sen jener, deren Iden­ti­tät weni­ger “divers” zusam­men­ge­setzt ist?

Ende 2020 habe ich mich mit die­ser Fra­ge in einem zwei­tei­li­gen Bei­trag aus­ein­an­der­ge­setzt: “Soll die AfD eine mul­ti­eth­ni­sche Par­tei wer­den?” (eins, zwei). Ich habe lei­der auch kei­ne ein­fa­che Ant­wort drauf.

Aber ich den­ke nicht, daß man sich an die­sen Punk­ten vor­bei­schum­meln kann, ohne Wesent­li­ches preiszugeben:

Es spricht nichts dage­gen, wenn die AfD unter bestimm­ten Migran­ten­grup­pen Ver­bün­de­te und Sym­pa­thi­san­ten sucht. Dabei soll­te es aber weder um die blo­ße “Optik” gehen, um Ras­sis­mus­vor­wür­fe abzu­schmet­tern, was erfah­rungs­ge­mäß ein aus­sichts­lo­ses Unter­fan­gen ist, noch soll­te ver­sucht wer­den, aus der AfD eine wei­te­re Mul­ti­kul­ti- oder Viel­völ­ker­par­tei zu machen, die den Bevöl­ke­rungs­aus­tausch als unver­meid­lich hin­nimmt und ihn ledig­lich ver­lang­sa­men und ein wenig erträg­li­cher regu­lie­ren will. Das lie­fe auf nichts ande­res hin­aus, als Yascha Mounk aktiv dabei zu unter­stüt­zen, daß sein berüch­tig­tes “Expe­ri­ment” doch noch funk­tio­nie­ren kann. (…)

… es soll­te klar blei­ben, daß die AfD vor­ran­gig dazu da ist, den Inter­es­sen einer bestimm­ten eth­ni­schen Grup­pe, näm­lich den Deut­schen eine Stim­me zu geben. (…) Und ich mei­ne hier natür­lich jene Deut­sche, die Deut­sche sein und blei­ben wol­len. Also jene, die sich nicht natio­nal­ma­so­chis­tisch-pseu­do­welt­bür­ger­lich auf­lö­sen, die noch Volk statt Bevöl­ke­rung sein wol­len, und die mutig genug sind, per­sön­lich dafür ein­zu­ste­hen oder die­se Hal­tung zumin­dest durch AfD-Wahl zu bekräftigen.

Wenn die AfD eine wirk­li­che Alter­na­ti­ve sein und ernst­haft das Natio­nal­staats­mo­dell ver­tei­di­gen will, dann muß sie hier ein­ha­ken und die Fra­ge nach dem Volk stel­len und den eth­ni­schen Volks­be­griff ver­tei­di­gen, der von der herr­schen­den poli­ti­schen Klas­se ver­femt wird, um das eth­nisch deut­sche Volk selbst abzuschaffen.

 

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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